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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Urteil verkündet am 04.11.2008
Aktenzeichen: 8 U 158/08
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 280
BGB § 278
BGB § 281
BGB § 831
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I.

Die Klägerin ist die Krankenversicherung des am 17. 1. 2000 geborenen Kindes ...

Sie macht übergegangene Schadensersatzansprüche wegen vermeintlicher geburtshilflicher Fehler geltend. Die am Berufungsverfahren nicht mehr beteiligten Beklagten zu 1.) und 2.) sind der Träger der Geburtsklinik bzw. die dort beschäftigte Hebamme. Der Beklagte zu 3.) war gynäkologischer Belegarzt in der Geburtsklinik.

Die Mutter des Versicherten war von dem Beklagten zu 3.) gynäkologisch betreut worden. Es bestand die Gefahr einer Frühgeburt, weswegen sie bereits am 8. 12. 1999 in der Klinik der Beklagten zu 1.) stationär aufgenommen und bis zum 16. 1. 2000 tokolytisch behandelt worden war. Am Tag der Geburt brachte man die Mutter des Versicherten nach einem Wehensturm um 16.00 Uhr in den Kreissaal. Der Beklagte zu 3.) untersuchte sie dort gegen 17.30 Uhr. Es ist streitig, ob zu diesem Zeitpunkt Anzeichen einer beginnenden Geburt vorlagen. Außerdem ist streitig, ob der Beklagte zu 3.) im Kreissaal verblieb oder ob er sich entfernte und in seine Praxis begab.

Das Partogramm (Anlage K 4 - Bl. 46 d. A.) enthält u. a. folgende Eintragungen:

"..16.45 Uhr: Patientin übergibt sich unter Partusisten, Wehen regelm, Pat. hat Pausen. SP BS (Anm.: Spontaner Blasensprung), FW (Anm.:Fruchtwasser) klar, (17.30 Uhr)

17.40 Uhr: Patientin hat leichten Pressdrang, Partusistendr. ab

18.30 Uhr: Heb. Empfehlung --- VE (Anm.: Vakuumextraktion) (mehrmalig) auch vorbereitet

Pat. Unkooperativ. Bradykardie in der AP (Anm.: Austreibungsperiode)

Pat. Presst spontan. Hilfe nach Kristeller !

18.53 Uhr: Zeichen: männl. Kristellern. Mangelnde Kooperation (Anm.:stammt vom Beklagten zu 3.)

Spontanpartus aus erster Hinterhauptslage, Kind gestresst, Rehamaßnahme:

Anästhesie, Kinderarzt, s. Bericht (Anm.: stammt von der Beklagten zu 2.)..."

Der dann hinzu gerufene Kinderarzt traf nach ca. 12 Minuten ein und veranlasste die Verlegung des zyanotischen und schlaffen Kindes in die Intensivstation der Kinderklinik der Universität X, wohin es mit dem Notarztwagen verbracht wurde. Dort verblieb es bis zum 27. 1. 2000. Die Symptome besserten sich. Bis Februar 2004 verblieb eine sog. "Erb`sche Lähmung" rechts, das Kind konnte den rechten Arm nicht über die Horizontale hinaus heben. Dauerhaft ist eine leichte Armbehinderung bestehen geblieben.

Die Klägerin hat den Beklagten vorgeworfen, die Geburt pflichtwidrig verzögert zu haben. Sie hat sich auf einen ausführlichen Bericht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen vom 30. 5. 2005 gestützt, in dem die Krankenunterlagen ausgewertet worden sind (Anlage K 5 - Bl. 51 ff. d. A.). Die im Geburtsbericht und in den CTG`s dokumentierten Auffälligkeiten hätten spätestens ab 18.10 Uhr eine operative Entbindung erforderlich gemacht. Dies sei unterblieben, weswegen es zu einer fetalen Asphyxie gekommen sei. Trotz der vom Beklagten zu 3.) selbst eingeräumten fetalen Bradykardie und einer vermutlich eingetretenen Schulterdystokie habe er das Kind durch sog. "Kristellern" entwickelt. Das sei eine kontraindizierte Behandlung gewesen. Die Beklagten hätten es auch zu verantworten, dass das Kind erst verspätet mit einem Notarztwagen in die Kinderklinik nach X habe verbracht werden können. Der Klägerin seien aufgrund der Fehlbehandlung der Beklagten die im Schreiben vom 2. 5. 2007 aufgeführten Nachbehandlungskosten für die stationären Aufenthalte in der Kinderklinik der Universität ... und in anderen Krankenhäusern, für den Notarztwagen sowie für krankengymnastische Behandlungen in Höhe von insgesamt 48.048,70 ? entstanden (Bl. 233 f. d. A.).

Die Beklagten zu 1.) und 2.) einerseits und der Beklagte zu 3.) andererseits haben sich gegenseitig für die Komplikationen der Geburt verantwortlich gemacht. Die Beklagten zu 1.) und 2.) haben vorgetragen, der Beklagte zu 3.) habe ab 17.30 Uhr die Geburtsleitung im Kreissaal übernommen und mehrere dokumentierte Anregungen der Beklagten zu 2.) missachtet, das Kind bereits nach 18.10 Uhr durch Vakuumextraktion zu entbinden. Der Beklagte zu 3.) hat behauptet, er habe die Mutter um 17.30 Uhr untersucht, wobei sich keine Auffälligkeiten oder ein unmittelbar bevorstehender Beginn der Geburt gezeigt hätten. Deshalb habe er sich wieder aus dem Kreissaal entfernt und sei erst um 18.45 Uhr hinzugerufen worden, nachdem Komplikationen aufgetreten seien. Er habe dann fachgerecht gehandelt, indem er die der Geburt unzuträgliche Schonhaltung der Mutter beendet und das Kind durch Kristellern entwickelt habe. Von einer Schulterdystokie sei ihm nichts aufgefallen oder bekannt geworden.

Das Landgericht hat den Beklagten zu 3.) verurteilt, der Klägerin die im Schreiben vom 2. 5. 2007 aufgeführten Kosten zu ersetzen. Es hat ferner festgestellt, dass er der Klägerin auch alle weiteren Aufwendungen zu erstatten hat, die aus Anlass der fehlerhaften Behandlung des Kindes bei der Geburt noch entstehen werden. Der Beklagte zu 3.) sei dem substantiierten Sachvortrag der Klägerin zum Geburtsverlauf und den dort eingetretenen Fehlern nicht konkret entgegengetreten. Obwohl schon ab 18.10 Uhr Anzeichen vorgelegen hätten, die eine zügige Geburt erforderlich gemacht hätten, habe man noch ca. eine halbe Stunde "zugewartet", worin der Behandlungsfehler liege. Es könne offen bleiben, ob diese Fehlleistung auf eigenem oder auf einem Fremdverschulden der Beklagten zu 2.) beruhte, denn der Beklagte zu 3.) habe ab 17.30 Uhr die Geburtsleitung übernommen und müsse daher auch für Pflichtverletzungen der Hebamme einstehen (§ 278 BGB). Die Aufwendungen der Klägerin seien durch ihre Aufstellung bewiesen (§§ 415, 417, 418 ZPO).

Die Klage gegen die Beklagten zu 1.) und 2.) ist rechtskräftig abgewiesen worden.

Der Beklagte zu 3.) hat form- und fristgerecht Berufung eingelegt, mit der er sein Ziel der Klageabweisung weiterverfolgt. Er wirft dem Landgericht vor, den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt zu haben. Das Landgericht habe zwar den auch von ihm vorgetragenen äußeren Rahmen des Geschehensablaufs unterstellt. Er - der Beklagte zu 3.) - habe aber hinreichend bestritten, dass es zu Auffälligkeiten im Geburtsverlauf gekommen sei, dass Behandlungsfehler vorgekommen seien und dass diese für den Gesundheitszustand des Kindes ursächlich geworden seien. Ohne medizinisches Sachverständigengutachten könnten zu seinen Lasten keine entsprechenden Feststellungen getroffen werden. Die Höhe des Schadens sei nicht nachgewiesen, denn das Schreiben der Klägerin könne nicht belegen, dass die dort aufgeführten Kosten auf einen Behandlungsfehler zurückgingen.

Der Beklagte zu 3.) beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen,

hilfsweise, den Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Landgericht zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung des Beklagten zu 3.) zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und vertritt die Auffassung, dass dem Landgericht keine Fehler bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind. Es komme nicht darauf an, ob der Beklagte zu 3.) nach 17.30 Uhr im Kreissaal verblieben oder ob er sich pflichtwidrig entfernt habe. In jedem Fall hafte er für die Verzögerung der Geburt, die sich aus dem dokumentierten Gesundheitszustand des Kindes nach 17.30 Uhr ergebe. Der Beklagte zu 3.) habe die Auffälligkeiten im Geburtsverlauf nur pauschal und damit in unbeachtlicher Weise abgestritten. Ein medizinisches Sachverständigengutachten sei nicht erforderlich gewesen, werde aber vorsorglich erneut angeboten.

II.

Die Berufung des Beklagten zu 3.) hat vorerst Erfolg, weil das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden muss. Das Urteil beruht auf einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil das Landgericht den Vortrag des Beklagten zu 3.) zum Behandlungsfehler und zu dessen Kausalität für den reklamierten Schaden übergangen und deshalb eine umfangreiche Beweisaufnahme versäumt hat, die nun nachgeholt werden muss (§ 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Dazu im Einzelnen:

1. Ersatzansprüche der Klägerin aus §§ 280, 281, 278 bzw. §§ 831 BGB in Verbindung mit § 116 SGB X können nur dann bestehen, wenn dem Beklagten zu 3.) eigene oder ihm zurechenbare Behandlungsfehler der Beklagten zu 2.) im Rahmen der Geburt des versicherten Kindes ... nachgewiesen werden können. Der Senat teilt die rechtliche Einschätzung des Landgerichts, wonach der Beklagte zu 3.) durch seine eigene Untersuchung der Mutter um 17.30 Uhr die ärztliche Leitung der Geburt übernommen hat und ab diesem Zeitpunkt auch für etwaige Pflichtverletzungen der Hebamme einstehen muss. Es spielt keine Rolle, ob sich bei dieser Eingangsuntersuchung im Kreissaal schon ein pathologischer Befund bzw. ob sich Hinweise auf den unmittelbar bevorstehenden Geburtseintritt ergeben haben (vgl. dazu BGH NJW 1995, 1611, 1612).

a) Im Vordergrund steht der Vorwurf der Klägerin, die Beklagten zu 2.) bzw. 3.) hätten nach 18.10 Uhr noch weiter "zugewartet", obwohl spätestens zu diesem Zeitpunkt ein sog. "protrahierter Befund" vorgelegen habe, der eine sofortige vaginal operative Entbindung sowie die Hinzuziehung eines Anästhesisten und Pädiaters erforderlich gemacht hätte. Dieser Vorwurf hätte durch ein gynäkologisches Sachverständigengutachten aufgeklärt werden müssen, die Vorgehensweise des Landgerichts war dagegen verfahrensfehlerhaft und hat die Parteirechte des Beklagten zu 3.) unzulässig eingeschränkt.

Das Landgericht durfte sich nicht allein auf den durch das Parteigutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen unterlegten Sachvortrag der Klägerin stützen und das Vorbringen des Beklagten zu 3.) als unsubstantiiert zurückweisen. Bereits in der Klageerwiderung hat der Beklagte zu 3.) dargelegt, er sei erst gegen 18.45 Uhr von der Beklagten zu 2.) benachrichtigt worden, dass die Geburt eingetreten und dass Komplikationen aufgetreten seien (Bl. 100, 101 d. A.). Er hat zulässigerweise mit Nichtwissen bestritten, dass die von ihm vorgefundenen Komplikationen schon vorher absehbar waren bzw. dass anderweitiger Handlungsbedarf bestanden hätte. Der Beklagte zu 3.) hat ferner im Schriftsatz vom 5. April 2007 unter Hinweis auf die Eintragungen im Partogramm ausdrücklich abgestritten, dass gegen 18.00 Uhr ein protrahierter Zustand vorlag und dass eine Vakuumextraktion indiziert war (Bl. 160 d. A.).

Das durfte das Landgericht nicht einfach übergehen, weil unter den oben dargelegten Umständen von dem Beklagten zu 3.) keine weitere Vertiefung seines Sachvortrags verlangt werden konnte. Auch dem Beschluss vom 4. 7. 2008, mit dem der Tatbestandsberichtigungsantrag des Beklagten zu 3.) zurückgewiesen worden ist, lässt sich nicht entnehmen, dass sich das Landgericht mit dem zuvor zitierten Vorbringen des Beklagten zu 3.) auseinandergesetzt hätte (Bl. 411 - 413 d. A.). Es war demzufolge ein wesentlicher Verfahrensfehler des Landgerichts, ohne medizinisches Sachverständigengutachten festzustellen, dass bereits ab 18.10 Uhr eine zügige Geburtsbeendigung durch Vakuumextraktion oder Zange indiziert war. Ohne medizinisches Fachwissen kann man allein aus der Dokumentation diesen Schluss nicht ziehen. Das Landgericht hat sich mit Hilfe des medizinischen Wörterbuchs "Pschyrembel" und durch Bezugnahme auf den Parteivortrag der Klägerin Fachwissen angemaßt, das ihm nicht zusteht.

b) Ein weiterer Behandlungsfehler könnte darin liegen, dass der Beklagte zu 3.) trotz Schulterdystokie und trotz fetaler Bradykardie den Jungen durch sog. "Kristellern" entwickelt hat. Das Landgericht ist in den Entscheidungsgründen darauf nicht mehr eingegangen, hat aber im Tatbestand Feststellungen zum Gesundheitszustand des Kindes unter und nach dessen Geburt getroffen, die allein auf dem - bestrittenen - Vortrag der Klägerin beruhen und in einem Punkt zu Lasten des Beklagten zu 3.) sogar noch darüber hinaus gehen. Im dem Parteigutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen wird anhand der Krankenunterlagen der Verdacht geäußert, dass "aller Wahrscheinlichkeit nach" eine Schulterdystokie eingetreten ist (Bl. 55 d. A.). Das Landgericht hat letzteres ohne entsprechende sachverständige Grundlage schlicht im Tatbestand festgestellt und gefolgert, dass die "Erb`sche Lähmung" hierauf zurückgeführt werden könne.

Auch dies war unzulässig. Der Beklagte zu 3.) hat zwar eingeräumt, dass der Junge bei seinem Eintreffen bereits zyanotisch war und dass sich im CTG sog. Bradykardien (= Verlangsamung der Herztöne) zeigten (Bl. 101, 139 d. A.). Er hat aber eine Schulterdystokie in Abrede gestellt und den verlangsamten Geburtsverlauf darauf zurückgeführt, dass die Mutter eine schmerzbedingte Schonhaltung eingenommen hatte. Seine Vorgehensweise sei fachgerecht gewesen (Bl. 102, 103 d. A.). Das Landgericht hätte diesen Einwand nicht einfach übergehen dürfen. Es wird klären müssen, ob dem Beklagten zu 3.) ein eigener Behandlungsfehler unterlaufen ist, der zu der sog. "Erb`schen Lähmung" und den sich daraus ergebenden Folgeschäden geführt hat.

2. In vergleichbarer Weise sind dem Landgericht Verfahrensfehler bei der Feststellung des Ursachenzusammenhangs zwischen dem o. g. Behandlungsfehler und dem geltend gemachten Schaden unterlaufen. Ob die - vermeintlich - pflichtwidrige Verzögerung der Entbindung bzw. ob die dem Beklagten zu 3.) persönlich zur Last gelegten Behandlungsfehler bei der manuellen Entwicklung des Kindes dessen fetale Asphyxie bzw. die Erb'sche Lähmung rechts ausgelöst haben, kann nur ein medizinischer Gutachter klären. Nur er ist außerdem befähigt, festzustellen, ob die vorgebrachten Behandlungskosten in Zusammenhang mit diesen Erkrankungen stehen, was der Beklagte zu 3.) ausdrücklich bestritten hat (Schriftsatz vom 5. Juni 2007 - Bl. 201 d. A.). Das Schreiben der Klägerin vom 2. 5. 2007 ist kein taugliches Beweismittel für den Ursachenzusammenhang zwischen Behandlungsfehler und den Sekundärschäden. Es kann nur belegen, dass der Klägerin Aufwendungen für die spätere stationäre bzw. ambulante Behandlung des versicherten Kindes entstanden sind, nicht aber, dass ein geburtshilfliches Fehlverhalten zu einer derartigen Erkrankung des Kindes geführt hat, dass diese Behandlungen notwendig geworden sind.

3. Wegen des erstinstanzlichen Verfahrensmangels muss nun ein umfangreiches gynäkologisches Sachverständigengutachten zu den oben angesprochenen Fragen eingeholt werden. Gegebenenfalls müssen zum Verlauf der Geburt und zum Zustand des Kindes während des eigentlichen Geburtsvorgangs Zeugen vernommen werden. Das rechtfertigt es, den Rechtsstreit an das Landgericht zurückzuverweisen, denn den Parteien soll keine Tatsacheninstanz genommen werden.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Landgericht vorbehalten. Eine Niederschlagung der Gerichtskosten kommt nicht in Betracht.

Es sind keine Gründe ersichtlich, die für eine Zulassung der Revision sprechen könnten.

Ende der Entscheidung

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