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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Urteil verkündet am 06.09.2005
Aktenzeichen: 8 U 79/04
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823
BGB § 847
Diagnose und Befunderhebungsfehler haben die rechtzeitige Therapie einer sog. Neuro-Lues verhindert; Beweislastumkehr für die Kausalität; 60.000 € Schmerzensgeld für 42 Jahre alten Mann, der zu Beginn der Behandlung an einer leichten Demenz litt, mittlerweile aber nur noch mit erheblicher Fremdhilfe in der Lage ist, den alltäglichen Anforderungen gerecht zu werden; er lebt von EU-Rente; der Kläger leidet vermehrt an epileptischen Anfällen.
Gründe:

I.

Der damals 42 Jahre alte Kläger befand sich vom April bis zum September 1999 bei der Beklagten in psychiatrisch-neurologischer Behandlung. Er wirft der Beklagten vor, seine Beschwerden nur unzureichend differenzial-diagnostisch abgeklärt und durch eine unterbliebene Blutuntersuchung seine Lues-Infektion III. Grades (Syphilis) übersehen zu haben. Statt dessen habe sie ihn ohne ausreichende Anhaltspunkte mit Antidepressiva behandelt. Wegen der Versäumnisse der Beklagten sei es im September 1999 zu einer schwerwiegenden Verschlechterung seines Krankheitsbildes gekommen, so dass der Kläger nun an einer nicht wiederherstellbaren demenziellen Erkrankung mit Persönlichkeitsveränderung leide.

Bei dem Kläger hat sich mittlerweile ein ausgeprägtes hirnorganisches Psychosyndrom mit deutlicher Auffassungs- und Konzentrationsschwäche sowie behindertem Sprechantrieb entwickelt. Er ist zu 60 % schwerbehindert. Seit dem Jahr 2002 leidet der Kläger mit zunehmender Frequenz und Intensität an epileptischen Anfällen. Der Kläger, der damals verheiratet war und eine sechsjährige Tochter hat, lebt nun allein und ist nicht mehr in der Lage, einer geregelten Berufstätigkeit sowie einem eigenständigen geordneten Leben nachzugehen. Er steht unter Betreuung. Wegen der weiteren Einzelheiten seines Gesundheitszustandes und seiner Lebensumstände wird auf die Arztbriefe des Klinikums der ... Universität vom 15. 3. 2001 und vom 23. 8. 2004 (Blatt 272 f. und 527 f. d. A. und auf den Bericht seines Betreuers Blatt 572 - 575 d. A.) verwiesen.

Nachdem bereits vorgerichtlich zwei Privatgutachten der Parteien zu der Frage eingeholt worden waren, ob der Beklagten ein Behandlungsfehler zur Last zu legen ist, hat das Landgericht ein weiteres gerichtliches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. SV1 von der Neurologischen Klinik in O1 eingeholt (Blatt 305/311 d. A.).

Durch das angefochtene Urteil, auf das gem. § 540 Abs. 1 ZPO zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes verwiesen wird, hat das Landgericht die Beklagte zu einem Schmerzensgeld in Höhe von 150.000,00 € verurteilt sowie festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen Schäden zu ersetzen, die ihm infolge der fehlerhaften Behandlung ab dem 16.4.1999 entstanden sind, soweit sie nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, der Beklagten falle ein grober Behandlungsfehler zur Last, weil sie trotz hinreichender Anhaltspunkte für eine demenzielle Erkrankung bei ansonsten unklarem Befundbild keine - hier dringend gebotene - weitere differenzial-diagnostische Abklärung des Krankheitsbildes vorgenommen habe. Sie habe sich vorschnell zu einer Behandlung mit Anti - Depressiva entschlossen und die erforderliche Lues-Serologie unterlassen. Unabhängig von der durch den groben Behandlungsfehler veränderten Beweislastverteilung müsse die Beklagte für die eingetretenen Schäden einstehen, weil eine frühere Befunderhebung mit großer Wahrscheinlichkeit die Lues-Erkrankung aufgefunden und zu einer antibiotischen Therapie geführt hätte. Hierdurch währen die schwerwiegenden hirnorganischen Beeinträchtigungen des Klägers vermieden worden.

Die Beklagte hat gegen das Urteil form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Sie verfolgt ihr erstinstanzliches Ziel der Klageabweisung weiter und rügt in erster Linie eine unzureichende Tatsachenfeststellung des Landgerichts und dessen Beweiswürdigung. Das Landgericht habe dem Gutachten des Sachverständigen Prof. SV2 nicht folgen dürfen, weil dessen Feststellungen unvollständig und widersprüchlich seien. So habe sich der gerichtliche Gutachter nur unzureichend mit dem Privatgutachten von Prof. Dr. SV3 von der Neurologischen Klinik O2 auseinandergesetzt (Bl. 206/215 d.A.). Dort wird der Beklagten bescheinigt, dass sie den Kläger umfassend psychopathologisch, klinisch-neurologisch, testpsychologisch und apparativ untersucht habe und keinen Anlass für eine Blutuntersuchung habe sehen müssen.

Die Lues-Erkrankung sei heutzutage ein äußerst seltenes Krankheitsbild, weswegen die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie eine Lues-Serologie zur differenzialdiagnostischen Behandlung der Demenz nur als fakultative Zusatzuntersuchung vorsähen. Unter diesen Umständen habe der Gutachter nicht zu einem Behandlungsfehler und schon gar nicht zu einem groben Behandlungsfehler kommen dürfen. Es sei im übrigen auch nicht geklärt, ob eine frühere Behandlung des Klägers seine Arbeitsfähigkeit erhalten hätte. Das ausgeurteilte Schmerzensgeld sei überhöht, weil die Beklagte für die Grunderkrankung des Klägers nicht verantwortlich sei.

Die Beklagte beantragt,

die Klage unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Klage zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil und beruft sich insbesondere darauf, dass neben dem gerichtlichen Gutachter Prof. Dr. SV2 auch die bereits von ihm beauftragte Gutachterin, Frau Prof. Dr. SV4 von der Neurologischen Klinik der Universität O3 einen schwerwiegenden Behandlungsfehler der Beklagten angenommen hat (Bl. 34/77 d.A.). Der Beklagten sei vorzuwerfen, dass sie ohne hinreichende Anhaltspunkte für eine depressive Erkrankung diesen Weg voreilig beschritten habe, bevor organische und damit medikamentös zu behandelnde organische Ursachen der demenziellen Ausfälle des Klägers ausgeschlossen worden seien.

II.

Die Berufung hat nur insoweit Erfolg, als das Schmerzensgeld auf hier angemessene 60.000,-- € herabzusetzen war. Ansonsten ist das Rechtsmittel unbegründet, weil auch der Senat zu der Überzeugung gelangt ist, dass die Beklagte dem Kläger für ihren Behandlungsfehler einstehen muss. Anspruchsgrundlagen des Klägers sind für das Schmerzensgeld §§ 823 Abs. 1, 847 BGB und für die materiellen Schäden eine positive Vertragsverletzung des Behandlungsvertrages. Dazu im einzelnen:

1. Der Beklagten ist mit Recht ein Behandlungsfehler in Form eines Diagnoseirrtums zur Last gelegt worden. Ein ärztliches Fehlverhalten kann nämlich auch dann vorliegen, wenn der behandelnde Arzt ohne vorwerfbare Fehlinterpretation der Befunde eine objektiv unrichtige Diagnose stellt, die darauf beruht, dass er eine notwendige Befunderhebung entweder vor der Diagnosestellung oder zur erforderlichen Überprüfung der Diagnose unterlassen hat (vgl. BGH NJW 2003, 2827, 2828). In einem solchen Fall muss der behandelnde Arzt für die daraus folgende objektive falsche Diagnose und für die der Krankheit nicht gerecht werdende Behandlung und deren Folgen einstehen (BGH NJW 1998, 1718; NJW 1999, 862 = VersR 1999, 231, 232).

So liegt der Fall hier. Der Kläger war von seinem Hausarzt zu der Beklagten überwiesen worden, um fachärztlich abzuklären, worauf seine Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie sein erheblicher intellektueller Abfall beruhte. Aus den Schilderungen der damaligen Ehefrau des Klägers wusste die Beklagte, dass ihr Patient, der nach Abitur und Jurastudium mehrere Jahre erfolgreich als Sprachlehrer gearbeitet hatte, nun erhebliche intellektuelle Einschränkungen aufwies, weil er sowohl in seiner unterqualifizierten Arbeitsstelle als Kommissionär (Lagerarbeiter) als auch im Privatleben in verschiedenen Aufgaben intellektuell überfordert war. Die Beklagte hat deshalb schon bei ihrem Erstbesuch - mit Recht - den Verdacht auf ein hirnorganisches Psychosyndrom geäußert, ein EEG und eine MRT-Untersuchung sowie einen SKT-Kurztest zur Prüfung des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit veranlasst. Letzteres hat ein schlechtes Ergebnis gebracht. Auch eine Hirn-SPECT-Untersuchung hat diese deutlich ausgeprägten kognitiven Störungen nicht erklären können.

Die Beklagte hätte sich spätestens anlässlich des vorläufig letzten Arztbesuchs des Klägers vom 8. Juni 1999 nicht mit der Diagnose einer Depression begnügen dürfen, weil insoweit keine ausreichende Symptomatik vorlag. Sie wäre vielmehr verpflichtet gewesen, zur differenzialdiagnostischen Abklärung der demenziellen Ausfälle auch eine serologische Untersuchung auf Lues und andere organische Krankheiten (HIV, Borelliose etc.) durchzuführen.

Der Senat folgt den entsprechenden Ausführungen von Prof. Dr. SV2 und der Privatgutachterin Prof. SV4. Sie sind nachvollziehbar und überzeugend. Wenn bei einem jüngeren Patienten, wie dem Kläger, augenfällige und zunehmende intellektuelle Defizite auftreten, die ihre Ursache in einer medikamentös behandelbaren organischen Erkrankung haben können, dann gebietet es die ärztliche Sorgfalt, zunächst diesen organischen Ursachen nachzugehen. Erst wenn organische Ursachen der Leistungsdefizite ausgeschlossen werden oder aber wenn zweifelsfreie Symptome für eine depressive Erkrankung vorliegen, kann sich der Neurologe mit dieser Diagnose begnügen. Der Senat verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils, der er folgt.

Die Äußerungen des Privatgutachters Prof. Dr. SV3 stehen dem nicht entgegen. Prof. SV3 hat sein Gutachten darauf ausgerichtet, dass der Beklagten stichhaltige Symptome für eine Lues-Erkrankung gefehlt hätten. Es habe hier eine völlig unspezifische Symptomatik vorgelegen, die durch Verordnung eines Antidepressivums syndromorientiert behandelt worden sei.

Der Privatgutachter hat sich aber letztendlich zu der hier entscheidenden Frage nicht geäußert. Entscheidend ist, dass die fortwährenden und sich steigernden Leistungsdefizite des Klägers, die letztendlich im Juni 1999 zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses geführt haben, auf ein hirnorganisches Psychosyndrom hindeuteten. Der Leistungsabfall war mit dem bisherigen Lebenslauf des Klägers und mit seinen früheren intellektuellen Fähigkeiten überhaupt nicht in Einklang zu bringen. Wegen des noch jugendlichen Alters des Klägers musste er unbedingt differential - diagnostisch abgeklärt werden, während die Leistungsdefizite mit der von der Beklagten gestellten Verdachtsdiagnose "Depression" nicht hinreichend erklärt und auch nicht in Übereinstimmung zu bringen sind:

In der Anamnese hat die Beklagte keine akuten oder chronischen seelischen Belastungen des Klägers festgehalten. Auch eine Verdachtsdiagnose auf eine endogene Depression wäre wegen des unklaren Befundbildes nicht gesichert gewesen. Weil die Beklagte die fortschreitenden Leistungsdefizite des Klägers nicht erklären konnte, hätte sie deshalb, den überzeugenden Feststellungen von Frau Prof. SV4 und des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. SV2 zufolge, eine infektiöse Erkrankung in Betracht ziehen müssen.

2. Fraglich ist lediglich, ob der Beklagten ein fundamentaler Diagnosefehler im Sinne eines groben Behandlungsfehlers unterlaufen ist. Dies ist deshalb problematisch, weil die Erkrankung mit Syphilis in den letzten 10 Jahren drastisch zurückgegangen ist, so dass entsprechende differenzialdiagnostische Untersuchungen auch bei Kliniken der Vollversorgung, wie dem Universitätsklinikum O4, nicht mehr selbstverständlich sind. Die von der Beklagten vorgelegten Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde zur differenzialdiagnostischen Behandlung der Demenz sehen dementsprechend die Lues-Serologie nur als fakultative Zusatzuntersuchung vor (Blatt 349 ff. d. A.). Auch in der von der Beklagten vorgelegten Publikation im Deutschen Ärzteblatt vom 18. Juli 2005 wird - trotz zunehmender Verbreitung der Lues - Erkrankungen davon nicht abgewichen (Blatt 623 ff. d.A.).

Der Senat hat sich letztendlich nicht davon überzeugen können, dass die Beklagte einen groben Behandlungsfehler begangen hat.

Ein fundamentaler Diagnoseirrtum im Sinne eines groben Behandlungsfehlers wird nur dann bejaht, wenn eindeutig gebotene Befunde nicht erhoben werden bzw. wenn objektiv gebotene, sich aufdrängende weitergehende differenzialdiagnostische Maßnahmen unterlassen werden (vgl. Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht Aktuell S. 302/303; Geis/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl., Kapitel B Rdn. 265, jeweils m.w.N. aus der Rechtsprechung sowie OLG Köln VersR 1994, 1238, 1239 zur Neuro-Lues). Es muss sich um einen Irrtum handeln, der in Anbetracht der Eindeutigkeit der Befunde unter keinen denkbaren Gesichtspunkten entschuldbar erscheint (OLG Bamberg VersR 1992, 831). Dazu müssen die gesamten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden:

Der Sachverständige Prof. SV2 ist zwar der Auffassung, dass der Beklagten ein schwerwiegendes Versäumnis anzulasten ist, weil bei dem hier vorliegenden unklaren Krankheitsbild und im Hinblick auf das Alter des Klägers eine Lues-Serologie obligatorisch gewesen sei. Ihm ist zuzugeben, dass schon zu Beginn der Behandlung erhebliche intellektuelle Ausfallerscheinungen vorlagen, die die Beklagte dazu veranlasst haben, ein hirnorganisches Psychosyndrom bzw. eine Demenz zu diagnostizieren. Der SKT - Test vom 10. 5. 1999 bestätigte diesen Verdacht einer hirnorganischen Veränderung (Blatt 369 d. A.). Die bildgebenden Verfahren und das EEG haben lediglich einen raumfordernden interkranialen Prozess ausschließen, ansonsten aber keine Klarheit erbringen können (Blatt 63 d. A.).

Dies rechtfertigt zwar sicher den Vorwurf der Sachverständigen Prof. SV2 und Prof. SV4, dass die Beklagte dem hirnorganischen Leistungssyndrom nicht sachgerecht differential - diagnostisch nachgegangen ist (Blatt 547 d. A.).

Andererseits muss der Beklagten zugute gehalten werden, dass es keine typischen Symptome für eine Lues - Erkrankung gibt, so dass es nach der damals ca. 6 Wochen andauernden Behandlung für sie schwierig war, eine verbindliche Diagnose zu stellen und die richtigen Weichen für die künftige Therapie zu setzen.

Die Beklagte hat offenbar angenommen, dass sie die schwerwiegende cerebrale Symptomatik durch die bildgebenden Verfahren ausgeschlossen hatte (Blatt 140 d. A.). Dies war ein Diagnoseirrtum, aber nicht zwingend ein solcher, der einem Neurologen in der Situation der Beklagten schlechterdings nicht unterlaufen darf. Immerhin haben weder ihr Vertreter Dr. A (Blatt 181 d. A.) noch der Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, Dr. B (Blatt 203 - 205 d. A.), noch der Psychologe C (Blatt 181/182 d. A.) Anhaltspunkte für eine organische Erkrankung gefunden. Außerdem hat auch die Universitäts - Klinik O4 dafür einige Zeit gebraucht, obwohl dazwischen eine drastische Verschlechterung eingetreten war.

3. Das Landgericht hat den Irrtum der Beklagten als schweren Diagnosefehler bewertet, die hieraus folgende Beweislastumkehr jedoch dahinstehen lassen, weil es dem Kläger ohnehin die vom Bundesgerichtshof entwickelten Beweiserleichterungen wegen der Verletzung von Befunderhebungspflichten zugute gehalten hat. Letzteres nimmt auch der Senat an. Der Verstoß eines Arztes gegen die Pflicht zur Erhebung eines medizinisch zweifelsfrei gebotenen Befundes erleichtert die Beweisführung des Patienten, wenn die gebotene Untersuchung einen so deutlichen und gravierenden Befund ergeben hätte, dass dessen Verkennung einen groben Behandlungsfehler darstellen würde (BGH MedR 2004, 559; BGH VersR 1999, 60, 61; BGH VersR 1996, 633).

So liegt der Fall hier. Dass die Lues-Erkrankung bei serologischer Untersuchung im Mai/Juni 1999 eindeutig erkannt worden wäre, wird nicht ernsthaft bestritten. Erforderlich, aber auch ausreichend ist hierfür eine über 50 % liegende Wahrscheinlichkeit (OLG Köln VersR 2004, 247). Dies lässt sich hier mit dem Sachverständigen SV2 ohne weiteres bejahen. Der Gutachter hat im einzelnen die Vorgehensweise geschildert und ausgeführt, dass die Erkrankung schon im zweiten Stadium (hier lag das dritte Stadium vor) hätte aufgedeckt werden können (Blatt 371; 548 d. A.).

Dass hierauf zwingend sofort mit einer Antibiotikabehandlung hätte reagiert werden müssen, ist ebenfalls nicht umstritten. Selbst der Gutachter der Beklagten, Prof. SV5, hat eingeräumt, dass eine frühere antibiotische Behandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit den Krankheitsverlauf günstig beeinflusst hätte (Blatt 213 d. A.). Auch der gerichtliche Gutachter Prof. SV2 hat dies bestätigt (Blatt 547 d. A.). Auf die Frage, ob, und wenn ja in welchem Umfang sich die gesundheitliche Situation des Klägers durch eine frühere Penicilintherapie gebessert hätte, kommt es an dieser Stelle nicht an. Hierauf wird bei der Bemessung des Schmerzensgeldes noch im einzelnen eingegangen.

4. Ein Schmerzensgeld ist nur in Höhe von 60.000,-- € gerechtfertigt.

Die Beklagte ist für die Grunderkrankung des Klägers nicht verantwortlich. Der Sachverständige Prof. SV2 hat festgestellt, dass bereits ab Beginn der Behandlung das Bild einer leichten Demenz vorlag, die auch bei sofortiger Behandlung nicht mehr hätte rückgängig gemacht werden können. Die Beklagte muss deshalb nur dafür einzustehen, dass sich die demenzielle Erkrankung des Klägers erheblich verschlechtert hat, so dass er nun "in seiner eigenen Welt lebt", sein soziales Umfeld weitgehend verändern musste und zunehmend unter sich verstärkenden epileptischen Anfällen leidet.

Der Betreuer des Klägers, Herr Rechtsanwalt D hat mitgeteilt, dass der Kläger nur mit erheblicher Fremdhilfe in der Lage ist, den alltäglichen Anforderungen gerecht zu werden. Er lebt von einer Erwerbsunfähigkeitsrente. Die Ehe des Klägers ist zwischenzeitlich geschieden worden. Er lebt in einer eigenen Wohnung und wird von seiner früheren Ehefrau noch weitgehend unterstützt. Der Kläger hält sich wochentags in einer tagesklinischen Einrichtung auf, die ihm Anleitung zur Bewältigung alltäglicher Aufgaben im Haushalt (Küchenarbeiten, Kleidung, Hygiene) vermittelt. Seit November 2004 haben sich die schon vorher aufgetretenen epileptischen Anfälle in der Anzahl und Intensität erheblich gesteigert. Der Kläger ist in seinem Sprechantrieb gemindert, gedanklich verlangsamt, er leidet an Wortfindungsstörungen und eine Beeinträchtigung seines Kurz- und Langzeitgedächtnisses.

Ob der Kläger im Frühjahr 1999 noch soweit behandelbar war, dass er dem Arbeitsleben standgehalten und ein geordnetes Familienleben hätte aufrechterhalten können, ist sehr fraglich, letztendlich aber nicht geklärt. Prof. SV2 hat dazu keine eindeutige Äußerung mehr abgeben können und darauf verwiesen, dass auch in der medizinischen Literatur umstritten ist, ob eine Therapieverzögerung die Schädigung vertieft (Übersicht Blatt 549 d.A.). Dies wirkt sich grundsätzlich zu Lasten der Beklagten aus. Sie hat durch ihre unzureichende Befunderhebung sichere Feststellungen unmöglich gemacht und muss nun die hieraus entstandenen Nachteile tragen (vgl. OLG Köln - OLG-Report 2003, 334, 336).

Dies gilt für die Arbeitsfähigkeit des Klägers. Ihm wurde zwar schon Anfang Juni 1999 gekündigt, was es schwierig machen wird, den Verdienstausfall aufgrund des zuletzt erzielten Einkommens zu schätzen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. SV2 dürfte es sich andererseits auch nicht ausschließen lassen, dass der Kläger bei rechtzeitiger Diagnostik und Therapie einen anderen, geringer qualifizierten und bezahlten Arbeitsplatz gefunden hätte.

Wenn man all diese Gesichtspunkte gegeneinander abwägt, dann kann das Schmerzensgeld nicht über 60.000,-- € liegen. Bei annähernd vergleichbaren Hirnschädigungen mit Persönlichkeitsveränderungen sind Beträge zwischen 70.000,00 und 130.000,00 € ausgeurteilt worden (vgl. OLG Karlsruhe VersR 98, 1265 = 76.693,78 € für Gehirnschädigung mit nahezu völligem Verlust der personalen Qualität für die Restlebenszeit; LG Dortmund ZfS 1999, 467: 115.040,67 € bei Gehirnschädigung mit Wesensveränderungen, Affektstörungen und Sprachstörungen sowie OLG Düsseldorf VersR 2003, 1407 = 70.000,00 € + 200,00 € Monatsrente bei schwerwiegender Hirnverletzung infolge Geburtsfehler, die zu lebenslanger andauernder Behinderung eines Kindes geführt hat).

Diese Fälle sind aber mit dem hier zu entscheidenden Sachverhalt nur eingeschränkt vergleichbar, weil dort keine Vorschädigung gegeben war. Auch die vom Kläger zitierte Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln vom 21. 3. 1994 (VersR 1994, 1239) ist nur bedingt mit dem hiesigen Fall vergleichbar. Dort wurde für einen groben Diagnosefehler, durch den über einen Zeitraum von 2 1/2 Jahren eine Neurolues - Erkrankung übersehen worden ist, ein Schmerzensgeld von ca. 75.000,-- € als angemessen betrachtet. Hier liegt - wie schon dargestellt - kein so schwerwiegender Pflichtverstoß vor, auch die körperlichen Ausfälle sind längst nicht vergleichbar. Zu den langfristigen Folgen des Behandlungsfehlers im Fall des OLG Köln ist nichts veröffentlicht.

Die Zinsforderung des Klägers ist vom Landgericht mit Recht aus den §§ 284 Abs. 2, 288 BGB a. F. hergeleitet worden.

5. Der Feststellungsantrag ist ebenfalls aus den oben genannten Gründen berechtigt. Der Kläger ist nicht verpflichtet, schon jetzt seine materiellen Schäden zu beziffern und im Rahmen einer Leistungsklage geltend zu machen (BGH VersR 1991,788).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Sie musste den unterschiedlichen Streitwerten der Instanzen Rechnung tragen. Die weiteren Nebenentscheidungen gründen sich auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Entscheidung basiert auf einer einzelfallbezogenen Abwägung der Beweise und hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die Revision konnte nicht zugelassen werden.

Ende der Entscheidung

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