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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamburg
Beschluss verkündet am 02.05.2005
Aktenzeichen: 1 Ws 59/06
Rechtsgebiete: GG, StPO


Vorschriften:

GG Art. 1
StPO § 455 Abs. 4
Bei einem todkranken Strafgefangenen, von dem eine nur noch sehr eingeschränkte Gefahr erneuter Straftaten ausgeht, kann die Achtung der Menschenwürde eine Unterbrechung der Strafvollstreckung auch dann gebieten, wenn wegen der Krankheit von der Vollstreckung selbst eine nahe Lebensgefahr nicht zu besorgen ist und die Krankheit in einem Anstaltskrankenhaus behandelt werden kann.
Hanseatisches Oberlandesgericht 1. Strafsenat Beschluß

Geschäftszeichen: 1 Ws 59/06 613 StVK 319/06 6 OBL 13/06 4150 Js 242/99 (7204)

In der Strafvollstreckungssache

hier betreffend: Vollstreckungsunterbrechung

hat der 1. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg am 2. Mai 2006 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Schudt den Richter am Oberlandesgericht Stephani die Richterin am Oberlandesgericht Rolf-Schoderer

beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten K vom 12. April 2006 werden der Bescheid der Staatsanwaltschaft Hamburg vom 27. März 2006 und der Beschluß des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 13 als Strafvollstreckungskammer, vom 4. April 2006 aufgehoben.

Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 8. Februar 2000 (612 KLs 27/99) wird unterbrochen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dem Beschwerdeführer insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe:

Die gemäß §§ 311 Abs. 2, 462 Abs. 3 S. 1, 458 Abs. 2, 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO zulässige - insbesondere form- und fristgerecht eingelegte - sofortige Beschwerde des Verurteilten ist begründet.

Zu Unrecht haben die Staatsanwaltschaft und die Strafvollstreckungskammer in den angefochtenen Entscheidungen den Antrag des Verurteilten auf Unterbrechung der Vollstreckung der durch Urteil des Landgerichts Hamburg vom 8. Februar 2000 wegen Vergewaltigung erkannten Freiheitsstrafe von neun Jahren abgelehnt. Aufgrund der weit fortgeschrittenen, nicht mehr heilbaren Hodgkin-Krankheit des Verurteilten, die nach der Einschätzung der ihn behandelnden Fachärzte und des Direktors des Instituts für Gerichtsmedizin am Universitätsklinikum Eppendorf, Prof. Dr. med. P, der ihn während des Beschwerdeverfahrens am 28. April 2006 noch einmal eingehend untersucht hat, voraussichtlich in maximal wenigen Monaten zum Tode führen wird, ist jede andere Entscheidung als die Strafunterbrechung auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit wegen Verstoßes gegen das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs.1 GG), zu der auch ein Sterben in Würde gehört, ermessensfehlerhaft, so daß der Senat ausnahmsweise in diesem Einzelfall die Vollstreckungsunterbrechung selbst anordnet, obwohl diese Entscheidung grundsätzlich im Ermessen der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde liegt und von den Gerichten nur darauf überprüft werden darf, ob von dem eingeräumten Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht worden ist (KG in NStZ 1994, 255, 256; Thür. OLG Jena in StV 2004, 84; KK-Fischer, 5. Aufl., § 455 Rn. 17; KMR-Paulus, § 455 Rn. 27). Die an sich sonst gebotene Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung zwecks neuer (fehlerfreier) Ermessensentscheidung kommt hier angesichts der nur noch sehr begrenzten Lebenserwartung des Beschwerdeführers nicht mehr in Betracht.

Allerdings haben die Staatsanwaltschaft und die Strafvollstreckungskammer zu Recht ausgeführt, daß die lebensbedrohliche Erkrankung, die zweifelsfrei als Morbus Hodkin - auch Lymphogranulomatose genannt - diagnostiziert und von Fachärzten der Abteilung für Hämatologie und internistische Onkologie der externen ASKLE-PIOS Klinik Altona behandelt worden ist, nicht von der Strafvollstreckung hervorgerufen worden ist oder negativ beeinflußt wird. Nach der ärztlichen Stellungnahme des Leiters des Zentralkrankenhauses Hamburg, Dr. P, vom 4. April 2006 bedroht ein Aufenthalt des Verurteilten im Zentralkrankenhaus dessen Leben nicht stärker als in jeder anderen Umgebung. Weder ist die wegen der Krankheit bestehende nahe Lebensgefahr "von der Vollstreckung" zu besorgen (§ 455 Abs. 4 Nr. 2 StPO) noch kann die Krankheit außerhalb des Anstaltskrankenhauses bzw. der A Klinik A wirkungsvoller bekämpft werden, so daß auch die Voraussetzungen des § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO nach dem Wortlaut dieser Vorschrift nicht erfüllt sind. Gleichwohl kann der Verurteilte entgegen der Auffassung der Vollstrekkungsbehörde und des Landgerichts nicht auf den Gnadenweg verwiesen werden. Denn er hat einen Rechtsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung seiner unantastbaren Menschenwürde, die zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Dies hätte bei der Ermessensentscheidung, ob die Strafvollstreckung zu unterbrechen ist, mit berücksichtigt werden müssen.

Der Konflikt zwischen der Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger u.a. durch die Vollstreckung rechtskräftig erkannter Freiheitsstrafen zu schützen, und dem Inter-esse des Verurteilten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte, namentlich auf Leben und körperliche Unversehrtheit, ist durch Abwägung der einander widerstreitenden Interessen zu lösen, wobei keiner dieser Belange schlechthin den Vorrang vor dem anderen genießt (BVerfG in NStZ-RR 2003, 345). Dabei ist zu beachten, daß sich bei einem Strafgefangenen mit einer nur noch sehr begrenzten Lebenserwartung der Strafzweck der Resozialisierung ohnehin nicht mehr verwirklichen läßt. Je kürzer die voraussichtliche Lebenserwartung ist, desto stärker fällt das Interesse des Strafgefangenen, im Kreise seiner engsten Angehörigen in Freiheit zu sterben, ins Gewicht. Aufgrund der beschränkten Besuchszeiten im Zentralkrankenhaus der Untersuchungshaftanstalt Hamburg ist nicht gewährleistet, daß der Beschwerdeführer in der finalen Phase seines Lebens von seiner Ehefrau oder einer sonstigen ihm besonders nahe stehenden Person umgeben ist, die ihn beim Sterben begleitet.

Je länger die Strafe bereits vollstreckt wird, desto eher kann schon unter dem Gesichtspunkt des Schuldausgleichs, aber auch im Hinblick auf die Rückfallgefahr wegen der vom Strafvollzug jedenfalls bei Erstverbüßern in der Regel ausgehenden abschreckenden und bessernden Wirkung eine Unterbrechung der Vollstreckung verantwortet werden.

Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer, der sich erstmals im Strafvollzug befindet, bereits über 6 3/4 Jahre - und damit deutlich mehr als zwei Drittel der Freiheitsstrafe - verbüßt. Während der langen Haftzeit ist er nach den Berichten der Ju-stizvollzugsanstalt und laut Gutachten des Psychiaters L nicht durch aggressive Impulse aufgefallen.

Allerdings ist es wegen der jedenfalls noch bis vor kurzer Zeit fehlenden Therapiebereitschaft des Verurteilten nicht zu einer Aufarbeitung der Ursachen für die besonders schwerwiegende Vergewaltigung gekommen, die durch beträchtliche Brutalität und Gewaltanwendung des Beschwerdeführers gekennzeicht war und durch die das Opfer so schwer verletzt wurde, daß es mit einem künstlichen Darmausgang leben muß. Der Facharzt für Psychiatrie L hatte deshalb als Sachverständiger in einem früheren psychiatrischen und sexualwissenschaftlichen Prognosegutachten vom 2. November 2004 insbesondere wegen der unzureichenden Tatbearbeitung und einer antisozialen Persönlichkeitsstörung ein mittelgradiges Rückfallrisiko angenommen.

In einem späteren Gutachten vom 26. Oktober 2005 hat derselbe Sachverständige nach erneuter Exploration des Verurteilten jedoch eine etwas günstigere Einschätzung der Rückfallgefahr gegeben. Er hat zwar darauf hingewiesen, daß die in seinem Vorgutachten aufgezeigte Gefährlichkeit des inzwischen erheblich durch starke Gewichtsabnahme und fahle Hautfarbe von seiner Erkrankung gezeichneten Strafgefangenen keineswegs weggefallen sei, da eine wirksame Therapie der zugrundeliegenden Störungen und eine Tataufarbeitung wegen des Rezidivs der Krebserkrankung nicht habe stattfinden können. Er hat aber weiter ausgeführt, daß sich tendenzielle Verbesserungen ergeben hätten. Wegen seiner eigenen Ängste und Schmerzen aufgrund der Krebserkrankung könne er sich nunmehr etwas besser in die Situation des Tatopfers versetzen. Hinzu komme, daß das Wiederholungsrisiko dadurch gemindert sei, daß für die Begehung der zugrundeliegenden Tat eine längere Vorlaufzeit mit Abgleiten in ein Alkoholikermilieu, Verwahrlosung und fehlender Perspektive notwendig gewesen sei. Dieses Risiko erscheint dem Senat durch die zwischenzeitliche Heirat und die nach der Haftentlassung erfolgende Betreuung deutlich herabgesetzt. Daß der Verurteilte die Unterbrechung der Strafvollstreckung nutzen könnte, um in Anbetracht seines hoffnungslosen Zustands ohne Hemmungen Straftaten zu begehen, hat der forensisch erfahrene Psychiater als eine nur theoretische Möglichkeit bezeichnet, für die es keine tatsächlichen aktuellen Anknüpfungspunkte gebe. Der Sachverständige hat abschließend in seinem letzten Prognosegutachten geäußert, im speziellen Fall müsse trotz aller kritischen Anmerkungen aus dem Vorgutachten darauf hingewiesen werden, daß die gesundheitliche Situation von Herrn K inzwischen eine andere sei und die Verweigerung einer externen Rehabilitationsmaßnahme - um die es zum damaligen Zeitpunkt noch ging - geradezu unmenschlich erscheine.

Nach diesem vor einem halben Jahr erstatteten Gutachten aus dem Oktober 2005 hat sich der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers jedoch weiter drastisch ver-schlechtert, so daß sich die von ihm ausgehende Gefahr infolge seiner sehr geschwächten Konstitution entsprechend verringert hat. Gleichwohl verkennt der Senat nicht, daß das im Falle des Rückfalls bedrohte Rechtsgut einen hohen Rang einnimmt. Der Beschwerdeführer ist jedoch nicht einschlägig vorbestraft und die Tat liegt schon viele Jahre zurück. Bei der Gesamtabwägung kommt der ohnehin nur noch ziemlich geringen Gefahr für die Sicherheit der Allgemeinheit gegenüber dem Anspruch des Verurteilten auf Achtung seiner Menschenwürde angesichts der nur noch äußerst kurzen Lebenserwartung des Beschwerdeführers lediglich ein stark reduziertes Gewicht zu.

Der Senat ist der Auffassung, daß es mit dem Gebot der Achtung der Würde des Menschen unvereinbar ist, einen Menschen, der von schwerer und unheilbarer Krankheit und von Todesnähe gekennzeichnet ist, weiter in Haft zu halten, wenn von ihm nur noch eine sehr beschränkte Gefahr für die Sicherheit der Allgemeinheit ausgeht (vgl. auch BerlVerfGH in NJW 1993, 515, 517). Der Gesichtspunkt, daß die Menschenwürde dann nicht verletzt wird, wenn der Vollzug der Strafe wegen fortbestehender Gefährlichkeit des Strafgefangenen unbedingt notwendig ist (vgl. BVerfGE 45, 187, 242), steht hier einer Unterbrechung der Strafvollstreckung nicht entgegen; denn eine derartige Gefährlichkeit geht von dem Beschwerdeführer nicht mehr aus.

Die Einschätzung der höchstwahrscheinlich verbleibenden Lebensdauer und des körperlichen Zustands des Verurteilten ist durch eine während des Beschwerdeverfahrens eingeholte weitere ärztliche Beurteilung abgesichert worden.

Nach der aktuellen gutachterlichen Stellungnahme des Prof. Dr. med. P, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, der den Verurteilten am 28. April 2006 untersucht hat, hat der abgemagerte und wenig belastbare Beschwerdeführer nur noch sehr kurze Zeit zu leben. Aufgrund seines ganz erheblich geschwächten körperlichen Zustands geht von ihm kaum noch eine Gefahr für andere Menschen aus. Er ist nicht mehr in der Lage, eine Frau, die über ein normales Maß an Kraft verfügt, zu überwältigen und sexuell zu nötigen. Als der Beschwerdeführer während der Untersuchung seinen Rollstuhl verließ, erlitt er nach fünf Schritten einen Hustenanfall und konnte nicht mehr weitergehen. Zuvor soll er schon zweimal auf dem Wege zur Toilette kollabiert sein.

Bei dieser Sachlage kommt im hier vorliegenden Einzelfall ausnahmsweise eine Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen und die Zurückverweisung der Sache zur erneuten Bescheidung an die Staatsanwaltschaft unter Beachtung des Gebots der Achtung der Menschenwürde nicht mehr in Betracht; denn es bestünde eine erhöhte Gefahr, daß diese zu spät käme, zumal auch gegen diese neue Entscheidung noch Rechtsbehelfe eingelegt werden könnten, so daß sich der Abschluß des Verfahrens weiter verzögern würde.

Die Kostenentscheidung beruht auf dem sich aus den §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 3 StPO ergebenden Rechtsgedanken.

Ende der Entscheidung

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