Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamburg
Beschluss verkündet am 07.01.2003
Aktenzeichen: 3 Vollz (Ws) 123/03
Rechtsgebiete: StVollzG


Vorschriften:

StVollzG § 102
StVollzG § 104 Abs. 1
1. Disziplinarverfahren sind unter besonderer Beschleunigung durchzuführen.

2. Das Gebot beschleunigter Durchführung des Verfahrens gilt auch, wenn die sofortige Vollstreckung der Disziplinarmaßnahme ausgesetzt worden ist.

3. Besteht aus Gründen, die der Gefangene nicht zu vertreten hat, nicht mehr der erforderliche zeitliche Zusammenhang zwischen der Tat und ihrer Ahndung, muss die Disziplinaranordnung aufgehoben und das Disziplinarverfahren eingestellt werden.


HANSEATISCHES OBERLANDESGERICHT 3. Strafsenat Beschluss

3 Vollz (Ws) 123/03

In der Strafvollzugssache

hat der 3. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg am 9. Januar 2004 durch Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Rühle Richter am Oberlandesgericht Dr. Mohr Richter am Oberlandesgericht Sakuth

beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers werden der Beschluss des Landgerichts Hamburg - Große Strafkammer? - vom 06.10.03, die Disziplinaranordnung vom 15.05.02 und der Widerspruchsbescheid vom 02.09.02 aufgehoben. Das Disziplinarverfahren betreffend den Vorfall vom 10.05.2002 wird eingestellt.

Die Beschwerdegegnerin trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers.

Der Gegenstandswert wird auf 1.000 € festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Parteien streiten über die Rechtmäßigkeit der Anordnung einer Disziplinarmaßnahme.

Der Beschwerdeführer wurde am 10.05.2002 in den Haftraum einer anderen Station verlegt. Nachdem er die Aufforderung eines Strafvollzugsbediensteten, seinen bisherigen Haftraum selbst zu räumen, unter Hinweis auf seine schlechte gesundheitliche Verfassung und einen von ihm erlittenen Herzinfarkt abgelehnt hatte, forderte der Beamte den Beschwerdeführer auf, wenigstens zwei Aluminiumkisten, die sich bereits im neuen Haftraum befanden, leerzuräumen, damit sie zum Transport der Habe des Beschwerdeführers verwendet werden können. Der Beschwerdeführer kam dieser Aufforderung ohne weitere Begründung nicht nach.

Wegen der Weigerung, die Aluminiumkisten auszuräumen, wurde gegen den Beschwerdeführer am 15.05.2002 als Disziplinarmaßnahme gemäß § 103 Abs. 1 Nr. 5 StVollzG ein Wochenendverschluss angeordnet, der ab 17.05.2002 vollstreckt werden sollte.

Noch am selben Tag beantragte der Beschwerdeführer im Wege der einstweiligen Anordnung die Aussetzung der Vollziehung der Disziplinarmaßnahme. Da die Beschwerdegegnerin innerhalb der ihr gesetzten Frist hierzu keine Stellung nahm, setzte das Landgericht mit Beschluss vom 17.05.2002 die Vollstreckung der Disziplinarmaßnahme bis zur Bestandskraft der Anordnung aus.

Den unverzüglich eingelegten Widerspruch gegen die Disziplinaranordnung lehnte die Beschwerdegegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 02.09.2002 ab. Der Beschwerdeführer stellte daraufhin am 17.09.2002 einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Er hat vorgetragen, er habe den Anweisungen wegen seiner Herzbeschwerden nicht Folge leisten können. Seiner wiederholten Bitte, einem Arzt vorgestellt zu werden, sei man erst am 23.08.2002 nachgekommen. Die Anordnung der Disziplinarmaßnahme sei rechtswidrig, weil sie ohne vorherige ärztliche Konsultation erfolgt sei.

Nachdem die Beschwerdegegnerin hierzu am 12.11.2002 Stellung genommen hatte, erging unter dem 17.04.2003 eine verfahrensleitende Anordnung an die Beschwerdegegnerin - Aufforderung, binnen drei Wochen schriftliche Nachweise über Vorstellungen des Beschwerdeführers beim Anstaltsarzt vorzulegen -, zu der diese erst nach mehrfacher Mahnung am 30.08.2003 Stellung nahm.

Mit Beschluss vom 06.10.2003 wies das Landgericht den Antrag auf Aufhebung der Disziplinaranordnung zurück und führte dazu aus, die Anordnung sei rechtmäßig, weil kein Zweifel daran bestehe, dass der Beschwerdeführer in der Lage gewesen sei, der Anweisung Folge zu leisten. Er sei nämlich ab Februar 2002 nicht mehr zu ärztlichen Konsultationen erschienen.

Der Beschwerdeführer hat gegen den ihm am 20.10.2003 zugestellten Beschluss am 20.11.2003 formgerecht Rechtsbeschwerde eingelegt und beantragt,

den angefochtenen Beschluss aufzuheben und zur Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.

Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts und trägt unter anderem vor, er sei wegen heftiger Herzbeschwerden daran gehindert gewesen, der Anweisung des Beamten zur Ausräumung der Aluminiumkisten Folge zu leisten.

Die Beschwerdegegnerin beantragt,

die Rechtsbeschwerde als unzulässig,

hilfweise als unbegründet zurückzuweisen.

Sie trägt vor, die lange Verfahrensdauer sei zwar bedauerlich, dem Beschwerdeführer sei dadurch aber kein Nachteil entstanden.

II.

1. Die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde ist zulässig. Die Nachprüfung der Entscheidung des Landgericht ist zur Fortbildung des Rechts geboten, § 116 Abs. 1 StVollzG. Denn der vorliegende Fall gibt Anlass, zum Beschleunigungsgebot in Disziplinarverfahren und zu den Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen dieses Gebot Ausführungen zu machen.

2. Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Es kann dahinstehen, ob die Disziplinaranordnung vom 15.05.2002 bei ihrem Erlass rechtmäßig gewesen ist. Der Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 06.10.2003 musste aufgehoben werden, weil die - noch nicht vollstreckte - Disziplinaranordnung wegen des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot in Disziplinarverfahren keinen Bestand haben konnte.

a) Disziplinarverfahren sind unter besonderer Beschleunigung durchzuführen. Dies ergibt sich zum einen aus § 104 Abs. 1 StVollzG, wonach Disziplinarmaßnahmen in der Regel sofort vollstreckt werden, zum anderen aus Sinn und Zweck der Disziplinaranordnung. Aufgabe der Disziplinarmaßnahmen ist es, durch die alsbaldige Ahndung eines Pflichtenverstoßes auf den Gefangenen einzuwirken, weil sonst der beabsichtigte Lernerfolg nicht mehr erzielt werden kann (vgl. Calliess/Müller-Dietz, 9. Aufl., 2002, Rdz. 1 zu § 104 StVollzG; Schwind/Böhm, 3. Aufl., 1999, Rdz. 2 zu § 104 StVollzG; Feest/Böhm, AK StVollg, 4. Aufl., 2000, Rdz. 1 zu § 104 StVollzG). Ihre Aufgabe, die Sicherheit und Ordnung in der in der Vollzugsanstalt zu gewährleisten, kann sie nur erfüllen, wenn sie ohne größere zeitliche Verzögerung nach dem Disziplinarverstoß verhängt und vollstreckt wird (OLG Düsseldorf, StrV 1990, 503, OLG Nürnberg, NStZ 1989, 246, beide zu Disziplinaranordnungen nach § 119 Abs. 3 StPO). Nach Auffassung von Böhm (a.a.O.) ist die Vollstreckung einer Disziplinarmaßnahme, vor allem, wenn ihr nicht sehr schwere Ordnungsverstöße zugrunde liegen, für den Täter und alle Beteiligten schon wenige Wochen nach ihrer Verhängung nicht mehr einsehbar.

b) Das Gebot beschleunigter Durchführung des Verfahrens gilt aus den vorstehend genannten Gründen auch, wenn - wie im vorliegenden Verfahren - die sofortige Vollstreckung der Maßnahme ausgesetzt worden ist. Allerdings verlängert sich die Dauer des Verfahrens zwangsläufig um die Zeit, die erforderlich ist, um die Rechtmäßigkeit der Anordnung im Widerspruchsverfahren und im gerichtlichen Verfahren zu überprüfen, ohne dass deswegen die Rechtmäßigkeit der Disziplinaranordnung entfällt. Welcher Zeitraum hierfür anzusetzen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Für die Anordnung von Disziplinarmaßnahmen gegen Untersuchungsgefangene wird die Grenze, bis zu der noch ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Tat und Ahndung besteht, bei drei Monaten angesetzt, sofern der Gefangene die eingetretene Verzögerung nicht verursacht hat (OLG Stuttgart, NStZ-RR 2001, 221, 222; OLG Nürnberg, NStZ 1989, 246; Boujong in: KK zur StPO, 5. Aufl., 2003, Rdz. 89 zu § 119 StPO), das OLG Düsseldorf (StrV 1990, 503) hat eine Disziplinarmaßnahme aufgehoben, weil seit ihrer Verhängung sechs Monate vergangen waren.

c) Im vorliegenden Fall handelte es sich um einen einfach gelagerten Sachverhalt, dessen Aufklärung keinen besonderen zeitlichen Aufwand erforderte. Der Widerspruchsbescheid ist erst knapp vier Monate, der Beschluss des Landgerichts erst knapp 17 Monate nach dem Disziplinarverstoß ergangen. Der Beschwerdeführer hat diese Verzögerung nicht verursacht, sie hat ihre Ursache vielmehr in der Überlastung der Vollstreckungsbehörde und des Gerichts, die dem Beschwerdeführer nicht zuzurechnen sind. Unter Berücksichtigung des relativ geringen Gewichts des dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Pflichtenverstoßes ist bei dieser Sachlage der erforderliche zeitliche Zusammenhang zwischen der Tat und ihrer Ahndung nicht mehr gegeben. Die Disziplinaranordnung und die sie bestätigenden Entscheidungen der Beschwerdegegnerin und des Landgerichts mussten daher aufgehoben und das Disziplinarverfahren eingestellt werden.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 121 StVollzG. Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf den §§ 13 und 48a GKG.

Ende der Entscheidung

Zurück