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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamburg
Beschluss verkündet am 16.02.2004
Aktenzeichen: 3 Vollz (Ws) 133/03
Rechtsgebiete: StVollzG


Vorschriften:

StVollzG § 106 Abs. 2 Satz 2
1. Bei Strafgefangenen, die sich in ärztlicher Behandlung befinden, ist gemäß § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG der Anstaltsarzt vor jeder Anordnung einer Disziplinarmaßnahme zu hören.

2. § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG ist keine bloße Ordnungsvorschrift, sondern dient dem Schutz der Gesundheit des Strafgefangenen. Die ohne Anhörung des Anstaltsarztes angeordnete Disziplinarmaßnahme ist rechtswidrig.


HANSEATISCHES OBERLANDESGERICHT 3. Strafsenat Beschluss

3 Vollz (Ws) 133/03

In der Strafvollzugssache des

hat der 3. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg am 16.02.2004 durch

Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Rühle Richter am Oberlandesgericht Dr. Mohr Richter am Oberlandesgericht Sakuth

beschlossen:

Tenor:

Die Rechtsbeschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Landgerichts Hamburg - Große Strafkammer 9 - vom 18.11.2003 wird als unbegründet verworfen.

Die Beschwerdeführerin trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdegegners.

Der Gegenstandswert wird auf 500 € festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Parteien streiten über die Rechtmäßigkeit der Anordnung einer - inzwischen vollzogener - Disziplinarmaßnahme.

Der Beschwerdegegner verbüßt eine mehrjährige Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt (JVA) der Beschwerdeführerin.

Am 08.01.03 verhängte die JVA gegen den Beschwerdegegner als Disziplinarmaßnahme einen zweitägigen Freizeitarrest mit Fernsehverbot, weil in seinem Haftraum ein zum Drogenkonsum geeignetes Rauchgerät gefunden worden war. Obwohl der Beschwerdegegner sich zu dieser Zeit wegen einer Herzerkrankung in ärztlicher Behandlung befand und außerdem am 03.01.03 wegen einer schmerzhaften Zahnwurzelentzündung zum Arzt angemeldet hatte, ordnete die JVA die Disziplinarmaßnahme an, ohne zuvor den Arzt anzuhören. Die Maßnahme wurde am 11. und 12.01.03 vollstreckt.

Das Landgericht hat auf Antrag des Beschwerdegegners mit Beschluss vom 18.11.03 festgestellt, dass die Disziplinaranordnung vom 08.01.03, rechtswidrig ist, weil die nach § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG gebotene Anhörung des Anstaltsarztes vor Erlass der Disziplinarmaßnahmen unterblieben war. Nach Auffassung des Landgerichts handelt es sich dabei nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift ohne Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung. Aus dem Gedanken des § 46 VwVfG, der auch auf das Strafvollzugsgesetz Anwendung finde, ergebe sich, dass grundsätzlich auch bei Verletzung von Verfahrensvorschriften die Aufhebung der Entscheidung beansprucht werden könne; lediglich wenn es sich um eine gebundene Entscheidung handele oder das Ermessen der Behörde ausnahmsweise auf Null reduziert sei, gelte etwas anderes. Beides sei im vorliegenden Fall aber nicht gegeben.

Die Beschwerdeführerin hat mit fristgerecht eingelegter Rechtsbeschwerde diese Entscheidunge angegriffen und beantragt,

den Beschluss des Landgerichts aufzuheben.

Sie ist der Auffassung, die Disziplinarentscheidung sei rechtmäßig gewesen. Aus der systematischen Stellung des § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG ergebe sich, dass die Anhörung des Arztes nur in den in § 106 Abs. 2 Satz 1 StVollzG genannten Fällen schwerer Disziplinarverstöße vorgeschrieben sei, der hier nicht gegeben war. Im übrigen diene § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG nur dem Zweck, den Kenntnisstand des Anstaltsleiters über den Gesundheitszustand des Gefangenen zu erweitern. Im vorliegenden Fall habe es dessen nicht bedurft, weil der Anstaltsleiter über den Gesundheitszustand des Gefangenen bereits umfassend informiert gewesen sei. Schließlich habe es sich bei der verhängten Disziplinarmaßnahme um eine besonders milde gehandelt, die auf die persönliche Situation des Gefangenen abgestimmt und - auch aus medizinischer Sicht - offensichtlich zumutbar und verhältnismäßig gewesen sei. Auch aus dem Rechtsgedanken des § 46 VwVfG ergebe sich die Rechtmäßigkeit der Disziplinarentscheidung. Denn die vorherige Anhörung des Arztes hätte die Entscheidung des Anstaltsleiters offensichtlich nicht beeinflusst.

Der Beschwerdegegner beantragt,

die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.

Der ohne ärztliche Anhörung angeordnete Wochenendverschluss und das Fernsehverbot seien empfindliche Diziplinarmaßnahmen, die die Gesundheit des Beschwerdegegners massiv gefährdet hätten.

II.

1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Die Überprüfung der Entscheidung des Landgerichts ist zur Fortbildung des Rechts - Auslegung des § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG geboten, § 116 Abs. 1 StVollzG.

2. Die Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Im Ergebnis zu Recht hat das Landgericht dem Feststellungsantrag stattgegeben, weil die beanstandete Disziplinarmaßnahme rechtswidrig war. Die JVA hat die Maßnahme unter Verletzung von § 106 Abs. 2 StVollzG angeordnet und vollstreckt.

a) Der Feststellungsantrag ist nach § 115 Abs. 3 StVollzG zulässig, weil sich die Disziplinarmaßnahme am 12.01.03 durch Vollstreckung erledigt hat und Wiederholungsgefahr besteht. Es ist zu befürchten, dass ohne gerichtliche Feststellung die Beschwerdeführerin weiterhin gegen den Beschwerdegegner, wenn er sich in ärztlicher Behandlung befindet, Disziplinarmaßnahmen ohne vorherige Anhörung des Anstaltsarztes erlässt. b) Der Feststellungsantrag ist auch begründet. Nach § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG ist vor der Anordnung einer Disziplinarmaßnahme gegen einen Gefangenen, der sich in ärztlicher Behandlung befindet, der Anstaltsarzt zu hören. Die Pflicht zur Anhörung des Arztes besteht entgegen der vom OLG Frankfurt (Beschluss vom 11.10.1982, zitiert bei Franke NStZ 1983, 304, 307) vertretenen Ansicht nicht nur bei schweren, sondern bei allen Verstößen, die mit Disziplinarmaßnahmen geahndet werden sollen (ebenso Callies/Müller-Dietz, StVollzG 9. Aufl., 2002, Rdz. 5 zu § 106). Dies ergibt sich zum einen aus dem Wortlaut der Norm, zum anderen aber aus ihrem Zweck. Mit der Anordnung einer Disziplinarmaßnahme wird, um auf den Gefangenen erzieherisch einzuwirken, dessen Lebensqualität auf Zeit verschlechtert. Die Reduzierung der Lebensqualität kann Gefangene, die sich in ärztlicher Behandlung befinden, wegen ihrer Erkrankung ungleich schwerer treffen als andere, den Heilungserfolg beeinträchtigen oder gar zu Gesundheitsrisiken führen. Diese Gefahren bestehen unabhängig davon, ob es sich um einen schweren oder leichten Ordnungsverstoß handelt. Um diese Risiken einzuschränken, schreibt das Gesetz die Anhörung des Anstaltsarztes vor.

Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist die Anhörung des Anstaltsarztes nicht deshalb entbehrlich, weil der Anstaltsleiter meint, die gesundheitlichen Folgen einer Disziplinarmaßnahme selbst abschätzen zu können. § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG gibt dem Anstaltleiter keinen Ermessenspielraum, sondern schreibt die Anhörung des Anstaltsarztes zwingend vor. Es liegt auf der Hand, dass der behandelnde Arzt, was die Beurteilung der Auswirkungen einer Disziplinarstrafe auf einen kranken Gefangenen angeht, über fundierteres Wissen verfügt als der Anstaltsleiter.

Der Beschwerdegegner war zum Zeitpunkt der Disziplinaranordnung wegen einer Herzerkrankung in ärztlicher Behandlung. Die Disziplinaranordnung ist, da sie ohne vorherige Anordnung des Anstaltsarztes getroffen worden ist, wegen Verstoßes gegen § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG rechtswidrig gewesen.

Allerdings wird in Rechtsprechung und Literatur - ohne weitere Begründung - die Auffassung vertreten, bei dieser Norm handele es sich um eine Ordnungsvorschrift, deren Verletzung nicht zur Rechtswidrigkeit der angeordneten Maßnahme führt (LG Hamburg, Beschl. v. 25.01.1978, zitiert bei Franke, ZfStrVo 1978, 187, 194; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 25.09.2001, NStZ-RR 2002,29, 30; Schwind/Böhm, StVollzG, 3. Aufl. Rdz. 6 zu § 106). Der Senat teilt diese Auffassung nicht. § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG dient dem Schutz der Gesundheit des kranken Gefangenen und damit dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Recht auf körperliche Unversehrtheit. Mit der Bedeutung dieses Rechtsguts wäre es unvereinbar, die zu seinem Schutz angeordnete Pflicht zur Anhörung des Arztes als eine die Rechtmäßigkeit der Anordnung nicht tangierende reine Ordnungsvorschrift einzustufen. Eines Rückgriffs auf § 46 VwVfG bedarf es hierzu nicht.

3. Einer Vorlage der Sache zum BGH gemäß § 121 Abs. 2 GVG bedarf es nicht, weil die Rechtsauffassungen des OLG Frankfurt und des OLG Karlsruhe, von denen abgewichen wird, in jenen Verfahren nicht entscheidungserheblich waren.

4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 121 StVollzG. Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf den §§ 13 und 48 a GKG.

Ende der Entscheidung

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