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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 22.08.2000
Aktenzeichen: (2) 4 Ausl. 119/00 (76/00)
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art 25
Leitsatz: Zur Frage der Einhaltung des verfassungsrechtlichen Mindeststandards bei einem in Italien gegen den Verfolgten ergangenen Abwesenheitsurteil, wenn der Verfolgte vor seinem Untertauchen noch einen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung beauftragt hat
Beschluss Auslieferungssache betreffend den italienischen Staatsangehörigen S.L.,

wegen Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland nach Italien zum Zwecke der Strafvollstreckung,

(hier: Entscheidung über Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Auslieferung u.a.).

Auf den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft in Hamm vom 14. August 2000 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 22.08.2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht beschlossen:

Tenor:

1. Die Einwendungen des Verfolgten gegen die Zulässigkeit der Auslieferung werden zurückgewiesen.

2. Der Antrag des Verfolgten auf Aufhebung des Auslieferungshaftbefehls bzw. der hilfsweise gestellte Antrag auf Außervollzugsetzung des Haftbefehls werden zurückgewiesen.

3. Der "äußerst hilfsweise" gestellte Antrag des Verfolgten, der ersuchenden Vertragspartei (hier: Italien) aufzuerlegen, eine verbindliche Zusicherung abzugeben, wonach dem Verfolgten das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren eingeräumt wird, in dem die Mindestrechte des Verfolgten gewahrt werden, wird zurückgewiesen.

Gründe:

Der Senat hat mit Beschluss vom 2. Juni 2000 die Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland nach Italien für zulässig erklärt und sich, unter Bezugnahme auf die Ausführungen in den Senatsbeschlüssen vom 30. März und 28. April 2000, im Einklang mit seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung, eingehend mit dem Umstand, dass das zur Vollstreckung anstehende und dem Auslieferungsbegehren zugrunde liegende Urteil in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist, befasst. Die dortigen Erwägungen gelten, nach erneuter Prüfung, unverändert fort.

Danach hat der Senat grundsätzlich im Rahmen der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens des dem Auslieferungsbegehren zugrunde liegenden ausländischen Strafurteils nicht zu überprüfen (vgl. BVerfG NJW 1983, 1726; OLG Hamm, StV 1997, 364 u. 365; OLG Nürnberg, StV 1997, 648; OLG Karlsruhe, NStZ 1983, 225). Im Falle eines Abwesenheitsverfahrens besteht jedoch in aller Regel Anlass zu der Prüfung, ob die begehrte Auslieferung mit dem völkerrechtlich verbindlichen, nach Art. 25 GG zu beachtenden Mindeststandard elementarer Verfahrensgerechtigkeit und den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland vereinbar ist (BVerfG und obergerichtliche Rechtsprechung wie vor).

Zu diesem verfassungsrechtlichen Mindeststandard gehört, dass dem Verfolgten in dem seiner Verurteilung zugrunde liegenden Abwesenheitsverfahren die Möglichkeit, sich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich zu verteidigen, tatsächlich wirksam eingeräumt war (Rechtsprechung wie vor). Das setzt voraus, dass der Verfolgte nachweislich von den gegen ihn erhobenen Tatvorwürfen und dem deswegen gegen ihn anhängigen Ermittlungs- bzw. Strafverfahren Kenntnis und die Möglichkeit hatte, sich persönlich zu den Tatvorwürfen zu äußern, sowie, auf welchem Weg auch immer, von den zu erwartenden Hauptverhandlungsterminen Kenntnis zu verschaffen (vgl. OLG Hamm, StV 1997, 365, 366; OLG Karlsruhe, a.a.O.).

Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall, anders als in der von dem Rechtsbeistand im Schriftsatz vom 7. August 2000 zitierten Senatsentscheidung in StV 1997, 364, erfüllt.

Der Verfolgte hat nach eigenen Angaben laut Schreiben vom 20. April 2000 von der in seiner Wohnung durchgeführten polizeilichen Durchsuchung, die zur Auffindung von Betäubungsmitteln und letztlich zu seiner Verurteilung geführt hat, unmittelbar danach erfahren. Aus Angst, seiner Einlassung, er habe mit dem Rauschgiftfund nichts zu tun, werde nicht geglaubt, hielt er sich zunächst für drei Monate bei Verwandten versteckt, nachdem er zuvor bereits einen Anwalt hinzugezogen hatte. Als er aus finanziellen Gründen nicht länger versteckt bleiben konnte, unterrichtete er seinen Anwalt bei gleichzeitiger Zahlung eines Honorars von 5.000,- DM zur weiteren Wahrnehmung seiner Interessen von seiner Absicht, mit seiner Familie nach Deutschland fliehen zu wollen, was er anschließend in die Tat umsetzte. Erst fünf Jahre später habe er von seiner Verurteilung in Abwesenheit erfahren.

In Anbetracht dieser von dem Verfolgten selbst geschilderten Umstände ist davon auszugehen, dass der Verfolgte in konkreter Kenntnis der gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe und des gegen ihn anhängigen Verfahrens die Möglichkeit gehabt hat, sich persönlich, ggf. schriftlich oder über den von ihm beauftragten Verteidiger, zu den Vorwürfen einzulassen und sich zu verteidigen und sich von den zu erwartenden Hauptverhandlungsterminen, in denen er im Übrigen dem italienischen Recht entsprechend anwaltlich vertreten war, Kenntnis zu verschaffen. Damit ist der völker- und verfassungsrechtlich unabdingbaren Möglichkeit rechtlichen Gehörs, dessen sich der Verfolgte durch sein anfängliches Untertauchen, seine anschließende Flucht nach Deutschland und seinen mutmaßlichen Verzicht, mit seinem von ihm beauftragten und bezahlten Verteidiger Kontakt zu halten, indes selbst freiwillig begeben hat, Genüge getan.

Die Auslieferung des Verfolgten ist bzw. bleibt mithin zulässig.

Der Schriftsatz des Rechtsbeistands des Verfolgten vom 7. August 2000, mit dem (erneut) beantragt wird, die Auslieferung für unzulässig zu erklären, enthält keine neuen Gesichtspunkte, die zu einer anderen, für den Verfolgten positiven Entscheidung führen könnten.

Die damit erhobenen Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Auslieferung waren daher, entsprechend dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, zurückzuweisen.

Die Anträge des Verfolgten, den Auslieferungshaftbefehl aufzuheben bzw. außer Vollzug zu setzen, waren ebenfalls zurückzuweisen.

Es besteht, wie zuletzt im Senatsbeschluss vom 27. Juni 2000 ausgeführt, nach wie vor Fluchtgefahr, zumal der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen mit Datum vom 18. Juli 2000 die Auslieferung des Verfolgten unter Einhaltung des Grundsatzes der Spezialität bewilligt hat und der Verfolgte voraussichtlich am 23. August 2000 den italienischen Behörden übergeben werden wird.

Für die vom Rechtsbeistand des Verfolgten mit vorgenanntem Schriftsatz beantragte Zusicherung der italienischen Behörden, dem Verfolgten das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren einzuräumen, in dem die Mindestrechte des Verfolgten gewahrt werden, ist unter den gegebenen Umständen auf der Grundlage des italienischen Prozessrechts kein Raum.



Ende der Entscheidung

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