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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 07.05.2009
Aktenzeichen: (2) 4 Ausl. A 12/07 (127/09)
Rechtsgebiete: IRG


Vorschriften:

IRG § 15 Abs. 2
IRG § 79
IRG § 80 Abs. 1 Nr. 2
IRG § 83a
IRG § 83b Abs. 1b
Für die Beurteilung, ob bei den einem Verfolgten vorgeworfenen Straftaten ein maßgeblicher Auslandsbezug vorliegt, kommt es nicht allein auf den Ort an, an welchem der Verfolgte seinen Tatbeitrag geleistet hat. Vielmehr muss er sich auch das Handeln seines Mittäters im Ausland zurechnen lassen. Ist der Verfolgte zudem noch täglich selbst ins Ausland gefahren, um zumindest auch dort und von dort aus zu agieren, geht es insoweit jedenfalls um Taten mit maßgeblichem Auslandsbezug.
Beschluss

Auslieferungssache

betreffend den türkischen Staatsangehörigen wegen Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland in die Niederlande zur Strafverfolgung wegen der Beteiligung an einer Organisation, die das Verüben von Straftaten zum Gegenstand hat, u.a. - Artikel 140 des niederländischen Strafgesetzbuches,

(hier: Anordnung der förmlichen Auslieferungshaft).

Auf den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft in Hamm vom 29. April 2009 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 07. Mai 2009 durch

beschlossen:

Tenor:

Gegen den Verfolgten wird die förmliche Auslieferungshaft angeordnet.

Gründe:

Die Generalstaatsanwaltschaft hat ihren Antrag auf Anordnung der förmlichen Auslieferungshaft vom 29. April 2009 wie folgt begründet:

"Sirene Niederlande, eine im Sinne des § 16 Abs. 1 Nr. 1 IRG zuständige Behörde, hat durch Ausschreibung im Schengener Informationssystem um die Festnahme des Verfolgten zum Zwecke der Auslieferung in die Niederlande zur Strafverfolgung wegen Betruges u.a. ersucht (Bl. 8 f.d.A.).

Das Ersuchen, das gem. § 83a Abs. 2 IRG als Europäischer Haftbefehl anzusehen ist, ist gestützt auf den Haftbefehl der Staatsanwaltschaft in Zwolle vom 31.01.2007 (Aktenzeichen: 37235). Darin wird dem Verfolgten zur Last gelegt, in der Zeit vom 01.01.2003 bis zum 15.01.2007 in Nijmegen und anderen Orten an einer kriminellen Vereinigung beteiligt gewesen zu sein, die beabsichtigt hatte, Steuer- und Sozialversicherungsbetrug in Deutschland zu begehen, wobei sie Tarnfirmen wie z.B. ... mbH in Berlin und Dresden, ... GmbH in Dresden, ... Bau GmbH in Stralsund, ... GmbH in Potsdam, ...GmbH in Potsdam und ... Bau-Projektmanagement & Dienstleistungsgesellschaft mbH mit unbekanntem Geschäftssitz benutzte. Der Verfolgte soll als Kontaktperson für die Kunden der Organisation tätig gewesen sein und ... polnische Mitarbeiter rekrutiert haben; ferner soll er die Baraufträge für die Organisation angenommen und rekrutierte Mitarbeiter auf die Baustellen verteilt haben sowie Rechnungen für die Tarnfirmen erstellt und kriminelle Vereinigungen angewiesen haben, das Geld bei den Kunden einzutreiben.

Aufgrund einer Bitte um ergänzende Informationen zum Sachverhalt hat die Staatsanwaltschaft in Zwolle konkretisierend mitgeteilt, es handele sich bei dem Verfolgten um ein führendes Mitglied einer in Deutschland agierenden illegalen Arbeitsvermittlerorganisation, die von Nijmegen in den Niederlanden aus gesteuert worden sei. Über in Deutschland gegründete juristische Personen mit "Katzenfängern" als Geschäftsführern aber auch unter dem Namen nicht existierender Unternehmen seien polnische Arbeitskräfte an deutsche Auftraggeber ausgeliehen und bar bezahlt worden. Den polnischen Arbeitskräften sei mitgeteilt worden, dass sie selbstständig und somit nicht im Lohndienst beschäftigt seien. Gegenüber den Auftraggebern sei es so dargestellt worden, als seien die polnischen Arbeitskräfte Arbeitnehmer der juristischen Person oder des nicht existierenden Unternehmens. Die für das zur Verfügung stellen von Arbeitskräften erforderlichen Papiere seien in den entsprechenden Fällen gefälscht worden und in Deutschland auf diese Weise Arbeitnehmerprämien, Mehrwertsteuer und Lohnsteuer hinterzogen worden. Die Organisation werde von den Niederlanden aus von drei Personen geleitet und zwar dem Verfolgten A.B.C. Diese Personen hätten die Gesellschaften verwaltet, die polnischen Arbeitskräfte angeworben, Vereinbarungen mit den Auftraggebern getroffen und auch die Rechnungslegung übernommen. Insgesamt soll den deutschen Behörden ein strafrechtlicher Schaden in Höhe von 1,754 Millionen und den niederländischen Behörden ein Schaden von insgesamt 1 316 747 Millionen Euro entstanden sein.

Der Verfolgte, der in Essen über einen festen Wohnsitz verfügt, ist bislang nicht festgenommen worden.

Im Hinblick auf die Bestimmungen des § 80 IRG sind die Vorgänge zunächst der für den Wohnort des Verfolgten zuständigen ... Staatsanwaltschaft Essen vorgelegt worden; diese hat nach Prüfung des Sachverhaltes ein innerdeutsches Ermittlungsverfahren gegen den Verfolgten eingeleitet, dieses jedoch im Hinblick auf das bereits bei der Staatsanwaltschaft Berlin wegen desselben Sachverhaltes anhängige Ermittlungsverfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Die Staatsanwaltschaft Berlin hat das dort geführte Ermittlungsverfahren (3 StJs 71/04) mit Verfügung vom 18.12.2006 gem. § 154 StPO (vorläufig) im Hinblick auf die in den Niederlanden geführten Ermittlungen eingestellt (Bl. 63 f.d.A.).

Die Staatsanwaltschaft in Zwolle hat mit Schreiben vom 24.04.2009 (Bl. 83 d.A.) mitgeteilt, dass das in den Niederlanden gegen den Verfolgten geführte Verfahren am 04.06.2009 im Gerichtshof Arnhem zur Verhandlung ansteht und nunmehr beschleunigt um eine Entscheidung über die Auslieferung des Verfolgten gebeten.

Die Voraussetzungen für die Anordnung der Auslieferungshaft liegen nach diesseitigem Dafürhalten vor.

Die SIS-Ausschreibung der niederländischen Behörden in Verbindung mit der ergänzenden Sachverhaltsdarstellung genügt nach diesseitigem Dafürhalten den Anforderungen des § 83a Abs. 1 IRG und ist mithin als Europäischer Haftbefehl im Sinne des § 83 IRG und als zulässige Grundlage für das Auslieferungsverfahren anzusehen.

Die dem Verfolgten zur Last gelegten Straftaten sind sowohl nach deutschem als auch nach niederländischem Recht als Betrug, Urkundenfälschung, Steuerhinterziehung ... strafbar (Anmerkung des Senats: Als Beteiligung an einer Organisation, die das Verüben von Straftaten zum Gegenstand hat, als Fälschung und als Geldwäsche gemäß den Artikeln 140, 125 - 1 und 420 des niederländischen Strafgesetzbuches) und mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens einem Jahr bedroht.

Die Auslieferung des Verfolgten erscheint auch nicht von vornherein unzulässig.

Die niederländischen Behörden haben ... gem. § 80 Abs. 1 Nr. 1 zugesichert, dass der Verfolgte im Falle seiner Verurteilung zur Verbüßung einer etwaigen Freiheitsstrafe in die Bundesrepublik Deutschland zurücküberstellt werden wird (Bl. 22 d.A.).

Auch die Voraussetzung des § 80 Abs. 1 Nr. 2 dürfte vorliegen, da die Tat zumindest auch einen maßgeblichen Bezug zum ersuchenden Mitgliedsstaat aufweist.

Zwar ist wegen derselben Tat gegen den Verfolgten ein innerdeutsches Ermittlungsverfahren geführt worden, dies ist jedoch (bisher) nicht zum rechtskräftigen Abschluss gelangt; vielmehr hat die Staatsanwaltschaft Berlin entschieden, das Verfahren gem. § 154 StPO im Hinblick auf die in den Niederlanden geführten Ermittlungen vorläufig einzustellen. Die Generalstaatsanwaltschaft beabsichtigt daher nicht, Bewilligungshindernisse gem. § 83b IRG geltend zu machen, obwohl die Verfahrensweise der Staatsanwaltschaft Berlin bedenklich erscheint.

Die Anordnung der Auslieferungshaft ist nach diesseitigem Dafürhalten geboten, weil nicht davon auszugehen ist, dass sich der Verfolgte dem Auslieferungsverfahren freiwillig stellen wird. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr, da der Verfolgte in den Niederlanden mit einer nicht unerheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen hat und dies einen erheblichen Fluchtanreiz darstellt. Mildere Maßnahmen sind nach diesseitigem Dafürhalten nicht geeignet, die bestehende Fluchtgefahr auszuräumen und die Durchführung des Auslieferungsverfahrens sicherzustellen."

Diesen zutreffenden Erwägungen schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an und macht sie zum Gegenstand seiner Entscheidung.

Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin:

Die Auslieferung erscheint nicht im Sinne des § 15 Abs. 2 IRG von vorneherein unzulässig.

Zum einen weisen die dem Verfolgten vorgeworfenen Taten einen maßgeblichen Bezug zu dem ersuchenden Staat auf (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 IRG). Für die Beurteilung, ob ein maßgeblicher Auslandsbezug, ein maßgeblicher Inlandsbezug oder ein sogenannter Mischfall vorliegt, kommt es nicht allein auf den Ort an, an welchem der Verfolgte seinen Tatbeitrag geleistet hat. Vielmehr ist nach dem Regelungsgehalt des § 9 Abs. 2 StGB auch der Ort zu berücksichtigen, an dem die Teilnehmer gehandelt haben. Bei Mittätern ist jedem das Handeln des anderen nach § 25 Abs. 2 StGB zuzurechnen ( OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Mai 2007 - 1 AK 3/07 -, zitiert nach juris Rn. 13). Der Verfolgte muss sich daher das Handeln der weiteren Beteiligten in den Niederlanden, insbesondere das des A., mit denen er die illegale Arbeitsvermittlerorganisation führte, zurechnen lassen. Immerhin wurden nach der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Zwolle vom 02. April 2007 die verfolgten Aktivitäten überwiegend aus in den Niederlanden unterhaltenen Geschäftsräumen betrieben und geleitet und der Verfolgte fuhr sogar täglich in die Niederlande, um - zumindest auch - dort und von dort aus zu agieren. Damit geht es nach der Auffassung des Senats um Taten mit maßgeblichem Auslandsbezug im Sinne des § 80 Abs. 1 Nr. 2 IRG.

Zum anderen steht auch § 83b Abs. 1 lit. b) IRG der Anordnung der Auslieferungshaft nicht im Sinne des § 15 Abs. 2 IRG entgegen.

Nach § 83b Abs. 1 lit. b) IRG kann die Auslieferung abgelehnt werden, wenn ein bereits eingeleitetes Verfahren wegen der selben Tat, die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegt, im Inland eingestellt worden ist. Gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1 IRG entscheidet die Generalstaatsanwaltschaft in Hamm als Bewilligungsbehörde vorab darüber, ob sie beabsichtigt, Bewilligungshindernisse im Sinne des § 83b IRG geltend zu machen. Dabei handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, die gemäß § 79 Abs. 2 Satz 2 IRG der Überprüfung durch den Senat lediglich in eingeschränktem Umfang unterliegt. Allerdings muss die gemäß § 79 Abs. 2 Satz 2 IRG zu begründende Vorabentscheidung dem Oberlandesgericht im Rahmen der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nach § 29 IRG die Prüfung ermöglichen, ob die Generalstaatsanwaltschaft als Bewilligungsbehörde die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 83b IRG zutreffend beurteilt hat und sich bei Vorliegen von Bewilligungshindernissen des ihr eingeräumten Ermessens unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalls bewusst war ( OLG Dresden, Beschluss vom 20. Juni 2008 - OLG Ausl 51/08 -, zitiert nach juris Rn. 10; OLG Karlsruhe, NJW 2007, 2567). Unzulässig - auch im Hinblick auf § 15 Abs. 2 IRG - ist die Auslieferung unter Berücksichtigung dieser Vorgaben nur dann, wenn eine ermessensfehlerfreie Bewilligung nach den Umständen schlechterdings ausgeschlossen ist ( OLG Stuttgart, Beschluss vom 06. März 2007 - 3 Ausl 52/06 -, zitiert nach juris rn. 19). Dies ist nach Auffassung des Senats indes nicht der Fall.

Vorliegend ist die Generalstaatsanwaltschaft in Hamm von der Einstellung des inländischen Verfahrens zu dem Aktenzeichen 3 St 74/04 der Staatsanwaltschaft Berlin gemäß § 154 Abs. 1 StPO durch Verfügung vom 18. Dezember 2006 ausgegangen, wobei der Stellungnahme vom 29. April 2009 im Gesamtzusammenhang noch zu entnehmen ist, dass die Generalstaatsanwaltschaft das Bewilligungshindernis nach § 83b Abs. 1 lit. b) IRG in ihre Überlegungen einbezogen hat. Dabei hat die Generalstaatsanwaltschaft das Vorgehen der Staatsanwaltschaft Berlin nach § 154 Abs. 1 StPO für bedenklich gehalten.

Allerdings ist der Stellungnahme nicht zu entnehmen, dass die Generalstaatsanwaltschaft die erforderliche umfassende Abwägung der Vor- und Nachteile einer möglichen Strafverfolgung im Inland vorgenommen hat, insbesondere im Hinblick auf die "Auslieferungsfreiheit" des deutschen Verfolgten aus Art. 16 Abs. 2 GG und im Hinblick auf seine ehelichen und familiären Belange im ... Hinblick auf Art. 6 GG, wie es erforderlich ist (vergleiche hierzu ausführlich: BVerfGE 113, 273, 309 ). Insoweit geht der Senat aber davon aus, dass sich die Generalstaatsanwaltschaft hierzu noch bei der nächsten Antragstellung umfassend äußern wird.

Ende der Entscheidung

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