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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 13.09.2006
Aktenzeichen: (2) 4 Ausl. A 19/06 (235/06)
Rechtsgebiete: IRG


Vorschriften:

IRG § 33
Wird nach einer negativen Bewilligungsentscheidung die Auslieferung des Verfolgten vom ersuchenden Staat weiter betrieben, ist ein erneutes förmliches, den Anforderungen des IRG entsprechendes Ersuchen des ersuchenden Staates erforderlich ist, das auf neuen Tatsachen beruht.
(2) 4 Ausl. A 19/06 (235/06) OLG Hamm (2) 4 Ausl. A 19/06 (236/06) OLG Hamm

Beschluss Auslieferungssache

betreffend den russischen Staatsangehörigen X.X.

wegen Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland in die Russische Föderation zum Zweck der Strafverfolgung wegen Steuerhinterziehung, Bestechung u.a. (hier: Zulässigkeit der Auslieferung u.a.).

Auf die Anträge der Generalstaatsanwaltschaft in Hamm vom 07. September 2006 in Verbindung mit der Antragsschrift vom 24. September 2004 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 13. 09. 2006 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht beschlossen:

Tenor:

Die Anträge der Generalstaatsanwaltschaft werden auf Kosten der Landeskasse, die auch die notwendigen Auslagen des Verfolgten zu tragen hat, zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Beim Senat war seit 2004 das Auslieferungsverfahren 4 Ausl 23/04 anhängig, in dem die russischen Behörden die Auslieferung des Verfolgten nach Russland betrieben haben. Das Verfahren basierte auf einem in Russland seit Anfang 2003 gegen den Verfolgte abhängigen Strafverfahren, in denen den Beschuldigten Vergehen in Zusammenhang mit der Anmeldung und Zulassung von Pkws zur Last gelegt wird. Die Beschuldigten, unter ihnen auch der Verfolgte, sollen seit Ende 1999 serienmäßig die illegale Anmeldung von illegal erworbenen ausländischen Fahrzeugen organisiert haben. Dieses Strafverfahren wurde von den russischen Behörden am 22. Januar 2004 durch eine Verfügung des Oberuntersuchungsführers der Staatsanwaltschaft Moskau eingeleitet. Im Rahmen dieses Ermittlungsverfahrens erließ das Gericht Zamoskvoretsky/Moskau am 22. Januar 2004 eine Verfügung zur Inhaftnahme des Verfolgten, die auf den vorgenannten Vorwurf gestützt war und in der im Einzelnen 17 Pkws aufgeführt sind, die Gegenstand illegaler Geschäfte gewesen sein sollen.

Seit März 2004 haben die russischen Behörden gegen den Verfolgten das Auslieferungsverfahren 4 Ausl 23/04 in der Bundesrepublik betrieben. Dieses hat im Wesentlichen folgenden Verfahrensgang:

Das Auslieferungsersuchen, mit dem die Auslieferungsunterlagen bereits überreicht worden sind, datierte vom 30. März 2004. Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat am 20. Juli 2004 den Erlass eines Auslieferungshaftbefehls gegen den Verfolgten beantragt. Entsprechend diesem Antrag hat der Senat mit Beschluss vom 26. Juli 2004 gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft angeordnet. In der Folgezeit hat der Verfolgte wiederholt Einwendungen gegen seine Auslieferung erhoben. Er hat einerseits geltend gemacht, dass das Verfahren nur aus politischen und religiösen Gründen - der Verfolgte ist Jude - gegen ihn betrieben werde. Zudem sei er so schwer erkrankt, dass er auch deshalb nicht nach Russland ausgeliefert werden dürfe. Es bestehe für den Fall der Auslieferung Suizidgefahr. Auch habe er in Russland Rechtsmittel gegen den Beschluss vom 22. Januar 2004 eingelegt. Diese Einwendungen hat der Senat, u.a mit Beschluss vom 13. September 2004, zurückgewiesen.

Mit Beschluss vom 7. Oktober 2004 hat der Senat dann die Auslieferung für zulässig erklärt. Dagegen sind erneut Einwendungen des Verfolgten geltend gemacht worden. Der Verfolgte hat neben seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen insbesondere darauf hingewiesen, dass er Rechtsmittel gegen die nach seiner Auffassung unzulässige Haftentscheidung vom 22. Januar 2004 eingelegt habe, über die noch nicht entschieden sei. Der Senat hat dann mit Beschluss vom 8. November 2004 den gegen den Verfolgten, der sich aufgrund des russischen Festnahmeersuchens seit dem 5. Juli 2004 in Auslieferungshaft befunden hat, erlassenen Auslieferungshaftbefehl unter Auflagen außer Vollzug gesetzt. Nach Erfüllung der Auflagen ist der Verfolgte entlassen worden.

Die Rechtsmittel des Verfolgten führten am 27. Januar 2005 in Russland zum Erfolg. Der Beschluss vom 22. Januar 2004 wurde vom russischen Beschwerde-/Berufungsgericht aufgehoben. Am 25. Februar 2005 wurde vom Bezirksgericht Zamoskvoretsky/Moskau allerdings erneut eine Inhaftnahme des Verfolgten beschlossen (A-18/3-2005), die auf dieselben Vorwürfe wie die Verfügung vom 22. Januar 2004 gestützt war. Auch gegen diese Haftentscheidung hat der Verfolgte durch seine russischen Bevollmächtigten Rechtsmittel eingelegt. Mit Beschluss vom 7. April 2005 ist die Anordnung vom Berufungsgericht aufgehoben worden. Die Aufhebung hat der Verfolgte dem Senat mitgeteilt. Der Senat hat daraufhin mit Beschluss vom 12. Mai 2005 den Auslieferungshaftbefehl vom 26. Juli 2004 aufgehoben, da der weitere Bestand des Auslieferungshaftbefehl auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Auslieferungshaftbefehl außer Vollzug gesetzt war, als nicht mehr verhältnismäßig angesehen werden könne. Der Senat hat zudem den russischen Behörden angesichts des bis dahin festzustellenden Verlaufs des Auslieferungsverfahrens eine Frist bis zum 30. Juni 2005 für die Vorlage von Unterlagen gesetzt, aus denen sich ergeben sollte, dass gegen den Verfolgten in Russland noch eine Haftanordnung Bestand hat. Die russischen Behörden haben dann erst Anfang Juli 2005 mitgeteilt, dass am 7. Juli 2005 erneut vor dem Bezirksgericht Zamoskvoretsky/Moskau gegen den Verfolgte verhandelt werde. Die russischen Behörden haben dann eine Entscheidung des Bezirksgerichts Zamoskvoretsky/Moskau vom 13. Juli 2005 (A-10/07-2005) vorgelegt. Danach war erneut die Inhaftnahme des Verfolgten angeordnet worden. Die Vorlage dieser Unterlagen hat der Senat am 22. August 2005 zum Anlass genommen, telefonisch sowohl dem Verfolgten als auch - durch Vermittlung der Generalstaatsanwaltschaft - den russischen Behörden eine letzte auf den 2. September 2005 bestimmte Frist zu setzen, innerhalb derer abschließend zur Sache Stellung genommen werden konnte und innerhalb derer die russischen Behörden erklären sollten, ob die Entscheidung vom 13. Juli 2005 inzwischen bestandskräftig ist oder nicht. Der Verfolgte hat darauf mitgeteilt, dass gegen diese (Haft)Entscheidung erneut Rechtsmittel eingelegt worden ist. Die russischen Behörden haben eine Erklärung des stellvertretenden Staatsanwalts der Stadt Moskau vorgelegt, aus der sich ergab, dass eine "Anordnung des Stadtgerichts Moskau v. 08.08.2005 existiert, in der "keine Änderungen vorgenommen worden sind" und die Anordnung über die Inhaftnahme nebst Anlagen am 25. August 2005 "auf dem Geschäftsweg an den Obersten Gerichtshof der Russischen Föderation weitergegeben worden ist".

Der Senat hat daraufhin mit Beschluss vom 5. September 2005 die Auslieferung des Verfolgten für unzulässig erklärt. Das hat er u.a. damit begründet, dass der Stand des in Russland gegen den Verfolgten betriebenen Verfahrens völlig ungeklärt sei, vor allem sein nicht klar, ob und wenn ja, welche Haftentscheidung gegen den Verfolgten noch Bestand habe. Diese Unsicherheiten über den Bestand einer gegen den Verfolgten in Russland erlassenen Haftanordnung führten zur Unzulässigkeit der Auslieferung im Sinne der §§ 12 ff., 73 IRG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 GG. Der Verfahrensstand sei so unübersichtlich, dass dies der Zulässigkeit der Auslieferung entgegenstehe.

Die Bundesregierung hat daraufhin die Bewilligung der Auslieferung verweigert und dies den russischen Behörden mitgeteilt. Diese haben mit Schreiben vom 11. April 2006 nochmals auf den Beschluss vom 8. August 2005 hingewiesen, wonach der Beschluss über die Inhaftnahme des Verfolgten vom 13. Juli 2005 in Kraft getreten sei. Nach Auffassung des Bundesministeriums der Justiz ist in diesem Schreiben, das als "Beschwerde" angesehen wird, "im Ergebnis das neue Ersuchen zu sehen, weshalb es eines gesonderten neuen Ersuchens nicht bedarf". Es hat deshalb mit Schreiben vom 28. Juni 2006 das Justizministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen um eine Prüfung der Angelegenheit gebeten. Bei diesem sind die Akten am 3. Juli 2006 eingegangen. Mit Schreiben vom gleichen Tag hat das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen den Vorgang der Generalstaatsanwaltschaft "zur weiteren Veranlassung im Sinne des Schreibens des Bundesministeriums der Justiz vom 28..06.2006 übersandt. Diese hat die Akten erneut dem Senat vorgelegt und unter Bezugnahme auf den Erlass des Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen vom 3. Juli 2006 die Entscheidung über die Anordnung der Auslieferungshaft und die Zulässigkeit der Auslieferung beantragt. Zur Begründung wird lediglich darauf verwiesen, dass "die russische Haftanordnung nunmehr unanfechtbar sein dürfte".

II.

Die Anträge waren abzulehnen.

Nach Auffassung des Senats liegen derzeit die Voraussetzungen für die von der Generalstaatsanwaltschaft beantragten Maßnahmen: Erklärung der Zulässigkeit der Auslieferung und Anordnung der Auslieferungshaft, nicht vor. Diese scheitern schon daran, dass ein förmliches Auslieferungsersuchen, das den Anforderungen des IRG entspricht, nicht vorliegt. Sowohl das Bundesministerium der Justiz als auch das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen als auch die Generalstaatsanwaltschaft übersehen nach Auffassung des Senats die rechtlichen Wirkungen der Entscheidung des Senats vom 5. September 2005, in der die Auslieferung des Verfolgten für unzulässig erklärt worden ist, und der darauf beruhenden negativen Bewilligungsentscheidung der Bundesregierung.

Die vorgenannten Entscheidungen haben das Auslieferungsverfahren 4 Ausl 23/04 beendet. Das BVerfG hat schon in seiner Entscheidung vom 14. Februar 1979 (1 BvR 924/78, BVerfGE 50, 244 = NJW 1979, 1285) ausgeführt (vgl. BVerfGE 50, 244, 250):

"Jedenfalls ist die Ablehnung der Auslieferung dem Betroffenen gegenüber nicht ohne rechtliche Wirkung. Denn dem verfolgten Ausländer wird durch die Ablehnungsentscheidung der Bundesregierung deutlich gemacht, dass das gegen ihn durchgeführte Auslieferungsverfahren in einer für ihn günstigen Weise sein Ende gefunden hat. Der Ausländer kann von nun an davon ausgehen, dass er aufgrund dieses Verfahrens nicht mehr mit der Auslieferung rechnen muss. Die Beendigung des Auslieferungsverfahrens durch die ablehnende Entscheidung der Bundesregierung schafft für den betroffenen Ausländer einen verfassungsrechtlich geschützten Vertrauenstatbestand. Das Gebot des Vertrauensschutzes ist im Rechtsstaatsprinzip verankert (BVerfGE 30, 392 (403)). Der Bürger soll die ihm gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe voraussehen und sich dementsprechend einrichten können (vgl BVerfGE 13, 261 (271)). Daher schützt die Verfassung grundsätzlich das Vertrauen darauf, dass die mit abgeschlossenen Tatbeständen verknüpften gesetzlichen Rechtsfolgen anerkannt bleiben (BVerfGE 30, 367 (386); 49, 168 185 ).".

Dem schließt sich der Senat an (so auch Lagodny in Schomburg/Lagodny, IRG, 4. Aufl., 2005, § 33 IRG Rn. 8). Das hat zur Folge, dass nach einer negativen Bewilligungsentscheidung, wenn die Auslieferung des Verfolgten vom ersuchenden Staat weiter betrieben wird, ein erneutes förmliches, den Anforderungen des IRG entsprechendes, Ersuchen des ersuchenden Staates erforderlich ist, das auf neuen Tatsachen beruht (so auch Lagodny, a.a.O.). Das gebietet nicht nur das vom BVerfG betonte "Gebot des Vertrauensschutzes", auf Grund dessen der Verfolgte davon ausgehen kann, dass "verbrauchte" Tatsachen und Unterlagen nicht erneut zur Grundlage eines gegen ihn gerichteten Auslieferungsverfahrens machen, sondern auch das Gebot der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Es ist zudem nicht Aufgabe des mit der Sache (erneut) befassten Oberlandesgerichts, das über die Einschränkung der persönlichen Freiheit des Verfolgten, die dem Schutz des Art 2. Abs. 2 GG untersteht, entscheiden soll, sich aus den vorliegenden Akten die ggf. eine Haftentscheidung stützenden Unterlagen zusammenzusuchen. Das gilt vor allem dann, wenn das abgeschlossene Auslieferungsverfahren - wie vorliegend - vom Oberlandesgericht beanstandet und der Stand des Verfahrens im ersuchenden Staat als "völlig ungeklärt" angesehen worden ist. Dem Senat ist im Hinblick auf Art. 2 GG unverständlich, dass bei einer solchen Sachlage allein auf Grund eines formlosen Schreibens der russischen Behörden das Bundesministerium der Justiz das Auslieferungsverfahren gegen den Verfolgten erneut einleitet, die Akten an das Landesjustizministerium weiterleitet und dieses den Vorgang an die Generalstaatsanwaltschaft nach einer noch nicht einmal einen Tag dauernden "Prüfung" - Eingang der Akten dort am 3. Juli 2006 - weiterleitet. Dabei darf auch nicht übersehen, dass die vom Senat gegen den Bestand der russischen Haftanordnung vom 13. Juli 2005 erhobenen Bedenken in keiner Weise behoben sind. Bisher liegt insoweit nicht mehr vor, als die Behauptung im Schreiben vom 13. April 2006, dass dieser Beschluss "am 08.08.2005 in Kraft getreten" sei. Das hat dem Senat aber schon in seinem Beschluss vom 5. September 2005 nicht ausgereicht. Bei dem bisherigen Verfahrengang und dem Verhalten der russischen Behörden, das der Senat schon im Beschluss vom 5. September 2005 beanstandet hat, ist es nach Ansicht des Senats entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft in ihrem Antrag vom 7. September 2006 nicht ausreichend, dass "die russische Haftanordnung nunmehr unanfechtbar sein dürfte".

Da die Anträge schon aus diesem Grund abzulehnen waren, konnte es dahinstehen, ob der beantrage Erlass eines (neuen) Auslieferungshaftbefehls auch deshalb abzulehnen war, weil die Voraussetzungen der §§ 15, 16 IRG nicht vorliegen. Falls das Auslieferungsverfahren weiter betrieben werden sollte, wird eingehend darzulegen sein, warum Fluchtgefahr besteht und warum der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der (erneuten) Anordnung der Auslieferungshaft nicht entgegensteht.

III.

Da der Senat die Zulässigkeit der Auslieferung verneint hat, war über die dem Verfolgten entstandenen Auslagen zu entscheiden (vgl. Beschluss des Senats vom 05. September 2006 in (2) 4 Ausl. A 34/05 (220/06) mit weiteren Nachweisen). Diese waren der Landeskasse aufzuerlegen (vgl. Beschluss vom 5. September 2006, a.a.O.).

Ende der Entscheidung

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