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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 21.12.2006
Aktenzeichen: (2) 4 Ausl. A 25/06 (313/06)
Rechtsgebiete: GG, IRG


Vorschriften:

GG Art. 1
GG Art. 2
GG Art. 6
GG Art. 19
IRG § 73
Im Hinblick auf § 19 StGB und mit Rücksicht auf das Schuldprinzip nach Art. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 und 2 GG findet eine Auslieferung nicht statt, wenn eine heute erwachsene Person im ersuchenden Staat für eine im Kindesalter begangene Tat bestraft werden soll.

Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK steht einer Auslieferung grundsätzlich nicht. Im Einzelfall kann jedoch die erforderliche Versorgung von Kleinkindern eine Auslieferung unzulässig machen.


Beschluss

Auslieferungssache

betreffend die türkische Staatsangehörige Y.Z.

wegen Auslieferung der Verfolgten aus Deutschland in die Türkei zur Strafverfolgung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, (hier: Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung).

Auf den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft in Hamm vom 06. November 2006 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 21. 12. 2006 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht beschlossen:

Tenor:

Die Auslieferung der Verfolgten in die Türkei wird für unzulässig erklärt.

Gründe:

I.

Die Botschaft der Republik Türkei hat durch Verbalnote vom 23. März 2006 (2006/Berlin BE/7799) um Auslieferung der Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ersucht und die Auslieferungsunterlagen übermittelt.

Gegen die Verfolgte wird vor der 7. Kammer des Schwurgerichts Adana unter der Nr. 2004/36 ein Strafverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung geführt, in dem ein Versäumnishaftbefehl der 2. Kammer des Staatssicherheitsgerichts Adana vom 5. Februar 2002 (Nr.: 2002/23 Dls) erlassen worden ist. Unter dem 08. Februar 2002 hat die Oberstaatsanwaltschaft Anklage gegen die Verfolgte erhoben (Grundnr.: 2002/28; Anklageschriftnr. 2002/28). Die darin erhobenen Vorwürfe beziehen sich auf Handlungen, die die Verfolgte im Alter von 12 bzw. 13 und 16 Jahren begangen haben soll. Im Einzelnen wird ihr Folgendes zur Last gelegt:

Die Verfolgte soll sich im Jahre 1991 - sie war damals 13 Jahre alt - einer in einem ländlichen Bereich tätigen Gruppe der illegalen terroristischen Vereinigung PKK angeschlossen haben. Deren Ziel soll darauf gerichtet gewesen sein, mittels in Ost- und Südanatolien durchgeführten bewaffneten Taten auf dem Gebiet der Türkei einen kurdischen Staat zu gründen. Im Anschluss daran soll die Verfolgte nach Deutschland geschickt worden sein, um sich im Namen der PKK zu betätigen. Insbesondere soll sie dort in dem Verein "deutsch-türkische Freundschaft", der durch die PKK geleitet wurde, Propaganda betrieben haben. Im Jahre 1994 soll sie Personen mit dem Codenamen "A." und einem F.A. (Codename: B.) sowie eine weitere unbekannt gebliebene Person zu einem Ausbildungslager in der Nähe von Köln gebracht haben, damit diese dort ausgebildet werden. Im Jahre 1995 (vermutlich am 3. Juni 1995) soll sie ihren Bruder C.K., der sich in Mardin/Türkei aufgehalten habe, angerufen und ihn gebeten haben, den F.A. zum Zwecke der Durchführung von Aktionen aus Deutschland zu unterstützen, woraufhin C.K. Kontakt mit F.A. aufgenommen und veranlasst haben soll, dass dieser sich mit anderen Angehörigen der PKK treffen konnte.

In Telefongesprächen, welche die Verfolgte im Jahre 1995 mit ihrem Vater und ihrem Bruder geführt haben soll, soll sie erklärt haben, dass sie in Deutschland im Namen der PKK unter dem Codenamen "H." tätig sei. F.A. ist wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung durch Urteil des staatlichen Sicherheitsgerichtes zu Konya vom 23. Juni 1996, rechtskräftig seit dem 19. November 1997, zu einer Zuchthausstrafe in Höhe von acht Jahren und vier Monaten verurteilt worden. C.K. ist wegen bewusster Unterstützung und Unterschlupfleistung der illegalen Terrorvereinigung PKK - rechtskräftig - durch Urteil des staatlichen Sicherheitsgerichtes zu Konya zu Zuchthaus in Höhe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt worden. Bei seiner polizeilichen Vernehmung hatte er angegeben, er habe auf Grund des Anrufes der Verfolgten veranlasst, dass F.A. sich in seiner Wohnung mit anderen Angehörigen der PKK treffe.

Das gegen die Verfolgte im Jahr 1995/1996 eingeleitete Verfahren wurde seitens der türkischen Behörden zunächst nicht weiter betrieben. Erst nachdem die Verfolgte - offenbar 2001/2002 - einen Antrag auf Ausstellung eines Passes gestellt hatte, wurden der Haftbefehl und die Anklage erlassen, die sich auf Beweismittel stützen, die sämtlich bereits 1995/1996 vorhanden waren. Es vergingen weitere vier Jahre, bis ein Gesuch um Auslieferung an Deutschland gestellt wurde.

Die Verfolgte, die sich seit 1993 in Deutschland aufhält und seit 1997 mit einem deutschen Staatsbürger verheiratet ist, wurde auf Grund des Ersuchens der türkischen Behörden am 30. Mai 2006 festgenommen. Aus der Ehe sind sechs Kinder hervorgegangen, wobei das jüngste dieser Kinder im Juni 2006 drei Monate, das älteste 10 Jahre alt war. Die drei jüngsten Kinder besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Familie wohnt gemeinsam unter der im Rubrum genannten Anschrift, dem festen Wohnsitz der Verfolgten. Die Verfolgte hat am 30. Mai 2006 anlässlich der gegen sie an diesem Tag durch das Amtsgericht Bielefeld erlassenen Festhalteanordnung während ihrer Vernehmung nach § 28 IRG Einwendungen gegen ihre Auslieferung an die Republik Türkei erhoben und erklärt, sie wolle unter allen Umständen in Deutschland bleiben .

Die Generalstaatsanwaltschaft hatte unter dem 02. Juni 2006 beantragt, gegen die Verfolgte die förmliche Auslieferungshaft anzuordnen, den Auslieferungshaftbefehl jedoch unter Auflagen außer Vollzug zu setzen, da der Fluchtgefahr durch entsprechende Auflagen begegnet werden könne.

Der Senat hat mit Beschluss vom 06. Juni 2006 den Erlass eines Auslieferungshaftbefehls abgelehnt. Er hat zum einen den Haftgrund der Fluchtgefahr nicht als gegeben angesehen, zum anderen konnte aufgrund der seitens der türkischen Behörden übersandten Unterlagen die Frage einer möglichen Verfolgungsverjährung nicht eindeutig beantwortet werden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschluss des Senats Bezug genommen. Die Verfolgte ist seitdem auf freiem Fuß.

Nachdem die türkischen Behörden zu der Frage der Strafverfolgungsverjährung ergänzend und erläuternd Stellung genommen haben, wonach die Verjährungsfrist erst am 03. Juni 2010 abläuft, hat die Generalstaatsanwaltschaft nunmehr beantragt, die Auslieferung der Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig zu erklären. Zur Begründung wird ausgeführt, dass zum einen eine Strafverfolgungsverjährung nach den neuerlichen Darlegungen der türkischen Behörden nicht eingetreten sei. Zum anderen könne zwar aus Art. 6 GG respektive Art. 8 EMRK ein Auslieferungshindernis folgen. Davon sei aber nach einer - von der Generalstaatsanwaltschaft nicht näher erläuterten - Abwägung im konkreten Fall nicht auszugehen.

II.

Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft konnte nicht entsprochen werden.

Der Auslieferung steht ein Auslieferungshindernis entgegen, § 73 Satz 1 IRG. Die Auslieferung der Verfolgten verstößt gegen die Menschenrechtskonvention.

1.

Zwar sind die formalen Erfordernisse des Art. 12 Abs. 1 EuAlÜkk eingehalten.

Auch liegen die materiellen Voraussetzungen vor, insbesondere sind die dem Auslieferungsersuchen zu Grunde liegenden Straftaten nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland als strafbar anzusehen (Art. 2 Abs. 1 EuAlÜbk, § 3 IRG). Dafür genügt es, wenn die Tat bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts den Anforderungen des Rechts des ersuchten Staates entspricht. Dies ist vorliegend der Fall, da die Mitgliedschaft in der PKK auch in Deutschland strafbar ist (vgl. § 129a II 2. Alt StGB).

Die Strafandrohung nach türkischem Recht übersteigt im Höchstmaß die Mindeststrafe gemäß Art. 2 I EuAlÜbk bzw. § 3 II IRG, so dass die Auslieferungsfähigkeit besteht.

Soweit der Verfolgten Taten vorgeworfen werden, die sie im noch nicht strafmündigen Alter begangen haben soll, können diese Taten aber nicht Gegenstand des Auslieferungsersuchens sein. Es herrscht insoweit Einigkeit, dass Deutschland strafunmündige Kinder nach deutschem Recht nicht ausliefert (vgl. Lagodny, in: Schomburg/Lagodny Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Auflage, 2006, § 3 IRG Rn. 15 und § 73 Rn. 61 f.). Im Hinblick auf § 19 StGB und mit Rücksicht auf das Schuldprinzip nach Art. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 und 2 GG muss dies auch dann gelten, wenn - wie hier - eine heute erwachsene Person für eine im Kindesalter begangene Tat bestraft werden soll. Die Tatbegehung als Kind nach deutschem Recht schließt nicht nur die Schuld aus, sie bedeutet auch ein Verfahrenshindernis und damit ein absolutes Verfolgungshindernis (vgl. auch m.w.N. Tröndle/Fischer, StGB, 54. Aufl., § 19 Rn. 2 m. w. Nachw.).

Die vor dem 14. Lebensjahr der Verfolgten liegende Tat kann demzufolge nicht Gegenstand des Auslieferungsersuchens sein.

Dies gilt dagegen nicht für die Taten, die die Verfolgte als Jugendliche begangen haben soll. Es kommt insoweit nämlich nicht darauf an, ob in Deutschland das Jugendstrafrecht nach § 3 JGG und insbesondere die Jugendstrafe nach § 17 Abs. 2 JGG hätte Anwendung finden können (vgl. OLG Hamm, Beschl. 4 Ausl. 29/80 vom 6.9.1980 = E/L U 34, S. 157; vgl. bestätigend OLG Hamm NStZ-RR 2001, 315: wonach die gerichtliche Prüfung des Auslieferungsbegehrens nicht dem Zweck dient, im internationalen Rechtsverkehr den inländischen Strafrechtsnormen Geltung zu verschaffen). Dass im Ausland eine Tataburteilung nach anderen Maßstäben als nach dem deutschen Jugendstrafrecht erfolgt, hindert die Auslieferung nicht. Nur wenn das deutsche Recht also kategorisch die Verfolgbarkeit verneint, wird ein Auslieferungshindernis bejaht.

Eine Verfolgungsverjährung, die der Auslieferung entgegenstehen könnte, ist weder nach deutschem noch nach türkischem Recht eingetreten (Art. 10 EuALÜbk).

Das türkische Recht unterscheidet, ob die Tat nach neuem oder altem türkischem Recht abgeurteilt wird: Wie Art. 9 Abs. 3 des Gesetzes zur Durchführung des türkischen Strafgesetzbuches bestimmt, ist die Anwendung der neuen Vorschriften auf einen Gesamtvergleich der geänderten Rechtsgrundlagen zu stützen; es gilt - so auch die Ergänzung des türkischen Gesuchs - im türkischen Recht insoweit der Grundsatz strikter Alternativität. Anzuwenden ist sodann die jeweils insgesamt für den Beschuldigten günstigere Rechtslage. Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass nicht die frühere kürzere Verjährungsdauer von 10 Jahren mit der später abgesenkten Verjährungsfrist für Minderjährige (Jugendliche) kombiniert werden darf. Insoweit hält der Senat an seiner Berechnung in seinem Beschluss vom 06. Juni 2006 nicht weiter fest. Auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 765 ergibt sich bei einer Tatbeendigung zum 03. Juni 1995 ein Fristablauf zum 03. Juni 2005, der nicht durch eine altersbedingte Herabsenkung vorzuverlegen ist. Durch die Unterbrechung infolge der Anklageerhebung verschiebt sich dieser auf den 03. Juni 2010. Auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 5237 ergibt sich zunächst eine Verjährungsfrist von 15 Jahren, die sich zwar altersbedingt um 2/3 auf 10 Jahre verkürzt, sich aber unterbrechungsbedingt wiederum auf 15 Jahre erhöht, so dass mit dem 03. Juni 2010 Verjährung eintritt.

2.

Es besteht jedoch ein Auslieferungshindernis (§ 73 Satz 1 IRG).

Der Auslieferung steht im vorliegenden Fall der "ordre public Vorbehalt" des § 73 Satz 1 IRG infolge Art. 6 I GG entgegen, weil die Auslieferung der Verfolgten einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in das grundrechtlich geschützte Familienleben darstellen würde (vgl. Art. 8 Abs. 1 EMRK). § 73 Satz 1 IRG dient nämlich der Beachtung der für Deutschland völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechte (vgl. Vogel, in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl., § 73 IRG Rn. 4 m.w.N.). Ehe und Familie stehen nach Art. 6 Abs. 1 GG unter dem besonderen Schutz des deutschen Grundgesetzes, wobei in Art. 8 Abs. 1 EMRK eine komplementäre Rechtsgrundlage für diesen Schutz aufzufinden ist, die sowohl in Deutschland als auch in der Türkei als regionales Vertragsvölkerrecht zur Anwendung kommt (vgl. zur grundsätzlichen Entsprechung von Art. 6 I GG und Art. 8 EMRK beim Schutz der Familie Marauhn/Meljnik, in: Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar EMRK/GG, 2006, Kap. 16 Rn. 15 ff. m. w. Nachw.).

Zwar ist mit der herrschenden Meinung grundsätzlich davon auszugehen, dass familiäre Belange, wie die Ehe einer Ausländerin mit einem deutschen Staatsangehörigen und im Inland zu versorgende Kinder einer Auslieferung auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 6 GG nicht entgegen stehen (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2000, 158 m.w.N.; OLG Köln, Beschluss des 2. Strafsenats in Ausl 10/05 - 8/05 vom 15. Februar 2005; OLG München, Beschluss in OLG Ausl. 25/85 vom 18. März 1985, in E/L U 106, S. 357 f.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30. Juli 1979 in 2 AK 8/79, in E/L - U 24, S. 134 f.; OLG Karlsruhe GA 1987, 30; OLG Schomburg NStZ 1999, 359 f.; Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O., § 73 Rn. 105; siehe auch OLG Hamburg, Beschluss vom 31. Mai 1979 in Ausl. 5/79, in E/L U 21, S. 128). Diese Auffassung wurde auch durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt (vgl. m.w.N. BVerfGK 2, 165, 171 - Beschl. 2 BVR 879/03, 01. Dezember 2003). Ihr liegt die Überlegung zugrunde, dass auch die nach nationalem Recht zulässige Durchführung eines Strafverfahrens und die in ihm ausgesprochene Sanktion zwingend das Familienleben auch bei zu versorgenden (Klein-) Kindern beeinträchtigen. Sodann kann aber - zumal ein Nachzug der Familie nicht ohne weiteres ausgeschlossen ist - für die Abwägung bei der Auslieferung prinzipiell nichts anderes gelten: Wenn und soweit die familiären Belange des Verfolgten auch nach deutschem Recht die Strafverfolgung und die Strafvollstreckung nicht hindern, die regelmäßig zu vielgestaltigen Beeinträchtigungen des Familienlebens führen, ist auch die auslieferungsrechtliche Abwägung zu Art. 6 Abs. 1 GG nicht gegenteilig vorzunehmen, sofern die eintretenden Beeinträchtigungen - was regelmäßig der Fall ist - im Wesentlichen denen vergleichbar sind, die bei einer Aburteilung in Deutschland entstehen könnten. Somit ist auch gewährleistet, dass auch die Gründung einer Familie im Ergebnis nicht vor einer Bestrafung wegen Taten schützt, die im Ausland begangen worden sind.

Die herrschende Meinung lässt indes auch Ausnahmen zu, indem sie im Einzelfall eine Abwägung zwischen dem Anspruch auf Ehe- und Familienleben und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse des ersuchenden Staates vornimmt (vgl. Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O., § 73 Rn. 105; OLG Karlsruhe NStZ 2005, 351 f.; siehe auch BVerfGK 2, 165, 171, das von einer nötigen Abwägung spricht). So hat das OLG Stuttgart entschieden, dass bei Jugendlichen die Abwägung besonders vorsichtig zu erfolgen habe, wenn diese von ihrer Familie getrennt würden: "Bei Jugendlichen und Heranwachsenden steht Art. 8 MRK einer Auslieferung entgegen, wenn diese eine, gemessen an der Schwere der ihr zugrunde liegenden Tat, schlechthin unverhältnismäßige Zerstörung der Familienbeziehungen des Betroffenen zur Folge hätte" (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 15.April 2004, NStZ-RR 2004, 345).

Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass eine Auslieferung wegen Verstoßes gegen das sich aus Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04. November 1950 i.d.F. vom 17.Mai 2002 (MRK) ergebende Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens dann unzulässig ist, wenn die Auslieferung einer Mutter zu einem erneuten Ausbruch einer lebensbedrohlichen Erkrankung ihres Kindes führen könnte (NStZ 2005, 351 f.). Das OLG Karlsruhe pflichtet in seiner Entscheidung der bisher undurchbrochenen herrschenden Auffassung bei, nach der Art. 8 EMRK auch bei vorhandenen Kindern die Auslieferung nicht stets hindert. Es eröffnet hingegen eine Ausnahmefallgruppe, die es bei der geschilderten Gefährdungslage für das Kind gemäß Art. 8 EMRK im konkreten Fall bejaht. In diesem Beschluss wird ferner ausgeführt, dass schon die Trennung der Mutter von einem Säugling nach der Rechtsprechung des OLG Karlsruhe stets die Auslieferung infolge Art. 8 EMRK hindert.

Auch der vorliegend vom Senat zu beurteilende Sachverhalt rechtfertigt die Annahme eines Ausnahmefalles mit der Folge, dass ein Auslieferungshindernis anzunehmen ist.

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet, dass das Strafverfolgungs- und Ahndungsinteresse des ersuchenden Staates nicht absolut ohne jede Rücksicht auf die Schwere des betroffenen Delikts angesetzt werden kann. Dieser erfordert, dass der erfolgte Eingriff zu dem konkret verfolgten Eingriffsziel nicht außer Verhältnis steht. In diesem Sinne wird die heute herrschende Auffassung auch bereits öfter dahingehend formuliert, dass Art. 6 Abs. 1 GG (bzw. Art. 8 EMRK) "regelmäßig" der Auslieferung nicht entgegen stehe, jedoch im Einzelfall etwa bei zu versorgenden Kleinkindern entgegen stehen könne (vgl. vgl. auch BVerfGK 2, 165, 171: "regelmäßig"). Auch die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat in ihrer Antragsschrift vom 06. November 2006 nicht grundsätzlich in Abrede gestellt, dass sich im Einzelfall aus Art. 6 Abs. 1 GG ein Auslieferungshindernis ergeben könne.

Ein solcher außergewöhnlicher Sachverhalt ist vorliegend gegeben und zwar aufgrund folgender Erwägungen:

Zum einen sind die konkret durch das Strafverfahren im Ausland drohenden Beeinträchtigungen der Familie im Ergebnis nicht mehr denjenigen eines national geführten Verfahrens vergleichbar, sondern gesteigert. Sie liegen in einer besonders tiefgreifenden Form vor, denn in der Familie ist aktuell ein Säugling zu versorgen und der Familie gehören fünf weitere Kinder im Alter von maximal 10 Jahren an. Insoweit ist auch die - vom BVerfG jüngst verfassungsrechtlich hervorgehobene - Gefahr einer Entfremdung und des "Fremdelns" bei Kleinkindern durch die Versagung von Besuchen in der Untersuchungshaft zu berücksichtigen (vgl. BVerfG HRRS 2006 NR. 810 = BVerfG, 2 BvR 1797/06 vom 23.10.2006, Absatz-Nr. 20 ff. = www.bundesverfassungsericht.de), die hier in besonderem Maße droht, da ein kurzfristiger Nachzug einer siebenköpfigen Familie weder möglich noch zumutbar erscheint. Die Verbringung in das Ausland erschwert die Besuche von insgesamt sieben Personen angesichts der Distanz zwischen Deutschland und der Türkei in erheblichem Maße, sind diese doch mit erheblichen Kosten und mit bedeutsamen organisatorischen Schwierigkeiten verbunden, die bei einem Verfahren in Deutschland in dieser Form nicht eintreten würden.

Zum anderen besteht hier die weitere Besonderheit, dass die vorgeworfene Straftat über ein Jahrzehnt zurückliegt und eine frühere Aburteilung der Tat durch ein Versehen der Republik Türkei und durch eine vergleichsweise späte Stellung des Auslieferungsgesuchs verhindert worden ist. Die Anklage gegen die Verfolgte wurde für rund sechs Jahre "vergessen" (vgl. Bl. 153 d.A.). Zwischen dem "Wiederbekanntwerden" der Verfolgten und dem Ersuchen vergingen rund vier weitere Jahre (vgl. Bl. 140 und 153 ff. d.A.). Die heute zu beurteilende Situation, in der sechs (Klein-)Kinder den regelmäßigen Kontakt zu ihrer Mutter verlieren sollen, ist mithin auch durch die Strafverfolgungspraxis der Republik Türkei hervorgerufen worden. Die Republik Türkei war ausweislich ihrer Auslieferungsunterlagen bereits zeitig darüber informiert, dass die Verfolgte nach Deutschland geschickt worden ist. Irgendwelche Verschleierungsmaßnahmen hinsichtlich ihrer Identität in Deutschland hat die Verfolgte - soweit ersichtlich - nicht vorgenommen. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK bezweckt den Schutz eines Angeklagten vor unangemessenen Verfahrensverzögerungen, was hier durch die späte Fortsetzung des bereits eingeleiteten Strafverfahrens durch die türkischen Behörden vereitelt worden ist. Zudem ist in der Rechtsprechung des EGMR anerkannt, dass Art. 6 EMRK im Wege einer übergreifenden Betrachtung die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu anderen Konventionsmenschenrechten zugunsten des Beschwerdeführers beeinflussen kann (vgl. etwa EGMR, Nikula v. Finnland, Rep. 2002-II, § 49; Steur v. Niederlande, § 37, JR 2004, 339 ff.; zur Bedeutung des Art. 6 I 1 EMRK im Rahmen der Rechtshilfe siehe auch bereits OLG Hamm NStZ-RR 1998, 351, 352).

Schließlich kann auch der Zeitablauf von mehr als 11 Jahren seit Beendigung der Tat nicht unberücksichtigt bleiben mit der Folge, dass das Ahndungsinteresse des ersuchenden Staates eher im unteren Bereich der auslieferungsfähigen Straftaten anzusetzen ist. Zwar ist nicht zu verkennen, dass es auf der Grundlage des EuAlÜbk nicht die originäre Aufgabe des ersuchten Staates ist, das konkrete Ahndungsinteresse für den ersuchenden Staat zu bestimmen, das dieser vielmehr selbständig beurteilt. Indes ist völkerrechtlich in der für beide beteiligten Staaten maßgeblichen Rechtsprechung des EGMR nach Art. 8 Abs. 2 EMRK eine einzelfallbezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen (vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, 2. Aufl. 2006 , Art. 8 Rn. 42 ff. mit Nachweisen auch zum im Einzelfall gefordertem "dringenden sozialen Bedürfnis" für die Einschränkung), bei der auch auf den konkreten Straftatvorwurf abzustellen ist.

Zwar ist mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung der ernste Vorwurf terroristischer Aktivitäten erhoben worden. Gleichwohl ist aber zu konstatieren, dass der Verfolgten keine näheren Bezüge zu konkreten Gewalttaten vorgeworfen werden. Zudem können die für das Jahr 1991 vorgeworfenen Handlungen hier nicht belastend in die Abwägung eingestellt werden, da insoweit bereits keine Verfolgbarkeit nach deutschem Recht gegeben ist. Mehr noch soll die Verfolgte die noch auslieferungsfähigen Tathandlungen als Jugendliche begangen haben. Die türkische Anklage selbst betont diesbezüglich, dass die in der Pubertät befindliche Verfolgte von der PKK nach Deutschland "geschickt worden" sei und dass sie regelmäßig zusammen mit und damit unter dem Einfluss ihrer (älteren) Verwandten handelte. Sie vermittelt damit selbst den nach den vorliegenden Entscheidungsgrundlagen nicht auszuräumenden Eindruck, dass die Verfolgte damals als Jugendliche eher durch die PKK und ihre Familie beherrscht worden ist, als dass sie selbst unter reifer Abwägung die vorgeworfenen Unterstützungshandlungen getätigt hätte. Nimmt man hinzu, dass weitere Taten mit dem Austritt aus dem Jugendalter und nunmehr über mehr als zehn Jahre hinweg ausgeblieben sind, vielmehr schon mit der Vollendung des 17. Lebensjahr kein weiterer Tatvorwurf erhoben worden ist, spricht dies schon nach der Anklage maßgeblich dafür, die Tat wesentlich als episodenhafte Erscheinung zu werten, die weitgehend dem jungen Alter der Verfolgten zuzuschreiben ist. Mit ihrer späteren Integration gerade auch in den familiären Zusammenhang ist die behauptete frühere Bereitschaft zur Begehung der angeklagten Straftat jedenfalls beständig zum Erliegen gekommen. Dies wird bestätigt durch den Bundeszentralregisterauszug vom 11. Dezember 2006, der keinerlei Eintragungen der Verfolgten aufweist.

Da die Auslieferungsfähigkeit ohnehin erst bei einer Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe gemäß Art. 2 I EuAlÜbk beginnt, ist nach alledem davon auszugehen, dass ein eher am unteren Bereich der auslieferungsfähigen Taten liegendes Verfolgungs- bzw. Auslieferungsinteresse vorliegt. Dies gilt auch deshalb, da auch das moderne türkische Strafrecht die - wie etwa Art. 66 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 5237 (Türkisches Strafgesetzbuch) zeigt - besondere Rücksichtnahme auf das Alter zur Tatzeit reflektiert.

Nimmt man diese konkreten Umstände des Falles in ihrer Gesamtheit in den Blick, muss die gebotene Abwägung den Ausschlag für die Annahme eines auf Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK i.V.m. § 73 Satz 1 IRG gestützten Auslieferungshindernisses geben. Dabei ist eine Minderung der generalpräventiven Wirkung des deutschen wie auch derjenigen ausländischer Strafrechte im Rahmen der Internationalen Rechtshilfe nicht zu befürchten: Die besonderen Umstände des Einzelfalles, die hier nur durch das vergleichsweise späte Auslieferungsgesuch der Republik Türkei entstehen konnten, können nicht plangemäß durch mutmaßliche Straftäter selbst herbeigeführt werden, um somit aus Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 8 EMRK eine Möglichkeit zur ungeahndeten Begehung von Straftaten abzuleiten.

Nach alledem war die Auslieferung der Verfolgten in die Republik Türkei für unzulässig zu erklären.

Ende der Entscheidung

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