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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 18.03.2004
Aktenzeichen: 1 Ss 102/04
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 318
StGB § 20
StGB § 21
Zur Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung, wenn Schuldspruch und Strafzumessung so miteinander verknüpft sind, das eine getrennte Überprüfung der Strafzumessung nicht möglich wäre, ohne den nicht angefochtenen Schuldspruch zu berühren.
Beschluss

Strafsache

gegen A.K.

wegen falscher Verdächtigung u.a.

Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 2. kleinen Strafkammer des Landgerichts Siegen vom 7. November 2003 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 18. 03. 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Siegen zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Siegen verurteilte den Angeklagten mit Urteil vom 11. September 2003 (40 Ds 152 Js 229/02 - K 86/02 -) wegen falscher Verdächtigung in Tateinheit mit Verleumdung zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts, die es auf ein glaubhaftes Geständnis des Angeklagten stützte, hatte der Angeklagte aus der Haft - Justizvollzugsanstalt Attendorn/Zweiganstalt Siegen - heraus in einer an das Oberlandesgericht Hamm gerichteten Strafanzeige vom 18. Dezember 2001, die zuständigkeitshalber an die Staatsanwaltschaft Siegen weitergeleitet wurde und dort am 3. Januar 2002 einging, bewusst wahrheitswidrig behauptet, dass vier von ihm namentlich genannte Justizvollzugsbedienstete der o.g. Justizvollzugsanstalt von seiner damaligen Lebensgefährtin die Vornahme sexueller Handlungen verlangt und empfangen hätten, damit diese ihn (den Angeklagten) überhaupt bzw. 10 Minuten länger besuchen durfte. Im Rahmen einer daraufhin am 27. Februar 2002 durchgeführten polizeilichen Zeugenvernehmung hatte der Angeklagte diese Behauptungen nach den Feststellungen des Amtsgerichts wiederholt. Die, wie der Angeklagte wusste, objektiv unwahren rufschädigenden Tatsachenbehauptungen hatte der Angeklagte, so das Amtsgericht, in der Absicht aufgestellt, ein behördliches Verfahren gegen die betreffenden Justizvollzugsbediensteten herbeizuführen. Ausführungen zu den §§ 20, 21 StGB enthält das amtsgerichtliche Urteil nicht.

Gegen das Urteil des Amtsgerichts Siegen legte der Pflichtverteidiger des Verurteilten in dessen Auftrag rechtzeitig Berufung ein, wobei die Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt wurde.

Die 2. kleine Strafkammer des Landgerichts Siegen hat die Berufung des Angeklagten mit Urteil vom 7. November 2003 als unbegründet verworfen. Dabei ist das Landgericht von der Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung ausgegangen. Die Strafkammer hat in dem Berufungsurteil ergänzende Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Verurteilten, seinem Vorleben einschließlich der strafrechtlichen Vorbelastungen sowie zu den Beweggründen der vom Amtsgericht festgestellten Tat getroffen. In diesem Zusammenhang ist in dem landgerichtlichen Berufungsurteil u.a. Folgendes ausgeführt:

"Der Angeklagte war seit Oktober 2001 zur Verbüßung von Straf- und Untersuchungshaft im geschlossenen Vollzug in der Justizvollzugsanstalt Siegen. Im Dezember 2002 wurde er in die Westfälische Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Lippstadt verlegt, aus der er am 28. Mai 2003 entlassen wurde. Er zog zu seiner Lebensgefährtin, die er seit 1999 kennt und die während der Haft zu dem Angeklagten gehalten hatte. Der Angeklagte hat unter der Haft gelitten; er fühlt sich psychisch nicht unerheblich angegriffen.

..

Wegen dieser Problematik hat der Angeklagte Kontakt zu der Psychiaterin Frau Dr. W. in G. aufgenommen; ein erstes Gespräch soll am 21. November 2003 stattfinden. Der Angeklagte erhofft sich von der Behandlung Anstöße zu Veränderungen und damit eine Verbesserung seines Zustandes.

...

Der Angeklagte nimmt keine Drogen; nach seinen Angaben trinkt er hin und wieder Alkohol in Maßen. Eine Behandlung hinsichtlich seines Alkoholkon-sums, der in der Vergangenheit zeitweise übermäßig war, hält er nicht für erforderlich. Der Angeklagte wird zurzeit mit Diazepam behandelt.

...

Am 19. Mai 1993 wurde vom Landgericht Ost-Kopenhagen in Dänemark wegen Totschlags die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Mit Beschluss der 1. großen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Siegen vom 24. Oktober 1994 wurde das Urteil für vollstreckbar erklärt; die weitere Vollstreckung wurde durch Beschluss der 1. großen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Siegen vom 13. November 1995 zur Bewährung ausgesetzt. Die Führungsaufsicht läuft noch."

Im Rahmen seiner Strafzumessungserwägungen und der von der Strafkammer erörterten Frage einer möglichen Strafaussetzung zur Bewährung hat das Landgericht ausgeführt, dass der Angeklagte sich um eine Therapie bemühe und insoweit bereits konkrete Schritte eingeleitet habe; eine psychiatrische Behandlung sei geplant. Allerdings könne noch keine Rede davon sein, dass es bei dem Angeklagten zu einer Verhaltens- bzw. Einstellungsänderung gekommen sei. Ausführungen zu den §§ 20, 21 StGB enthält auch das landgerichtliche Urteil nicht.

Gegen das Berufungsurteil des Landgerichts hat der Verteidiger des Angeklagten form- und fristgerecht Revision eingelegt und diese noch am Tag der Urteilszustellung mit der allgemein erhobenen Sachrüge begründet.

II.

Die in zulässiger Weise eingelegte Revision des Angeklagten hat - zumindest vorläufig - Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückweisung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Siegen.

Das Berufungsgericht ist zu Unrecht von der Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung ausgegangen. Das Revisionsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob das Berufungsgericht über alle Bestandteile des erstinstanzlichen Urteils entschieden hat, die von der Berufung erfasst wurden, insbesondere, ob die Berufungsbeschränkung, von der das Berufungsgericht ausgegangen ist, wirksam war (vgl. BGHSt 27, 70; OLG Hamm NJW 1973, 1141; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 352 Rdnr. 4). Da der Angeklagte seine Berufung gegen das amtsgerichtliche Urteil nicht wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt und somit die Strafkammer das mit der Berufung angefochtene Urteil des Amtsgerichts in rechtsfehlerhafter Weise nur teilweise, nämlich hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs, überprüft hat, war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur neuen Behandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.

Die Unwirksamkeit der Berufungsbeschränkung ergibt sich vorliegend daraus, dass der von der Rechtsmittelerklärung des Angeklagten an sich nicht mit umfasste Schuldspruch und die Strafzumessung vorliegend so miteinander verknüpft sind, das eine getrennte Überprüfung der Strafzumessung nicht möglich wäre, ohne den nicht angefochtenen Schuldspruch zu berühren (vgl. BGHSt 33, 59; 46, 257; BGH NJW 1996, 2663; Meyer-Goßner, a.a.O., § 318 Rdnr. 17). Grundsätzlich ist zwar die Entscheidung, ob der Täter schuldunfähig (§ 20 StGB) ist, von der Entscheidung, ob verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) vorliegt, trennbar; während die Schuldfähigkeit zur Schuldfrage gehört, ist die verminderte Schuldfähigkeit zur Straffrage zu rechnen (vgl. BGHSt 7, 283; OLG Köln, NStZ 1984, 379; Meyer-Goßner, a.a.O., § 318 Rdnr. 15). Die Grenze zwischen Schuldunfähigkeit und verminderter Schuldfähigkeit kann im Einzelfall jedoch undeutlich und zweifelhaft sein mit der Folge, dass die rechtliche Beurteilung nicht beschränkt werden kann (vgl. OLG Köln, NStZ 1984, 379). So kann die Berufung nicht wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt werden, wenn das Amtsgericht die Frage der Schuldfähigkeit nicht geprüft hat, obwohl der Sachverhalt Anlass dazu bot (OLG Köln, BA 2000, 371; BayObLG, VRS 89, 128; NZV 2001, 353; OLG Frankfurt, NJW 1968, 1638; OLG Köln, NStZ 1984, 379; OLG Celle, Nds. RPfleger 1981, 254; OLG Koblenz, VRS 70, 14; Meyer-Goßner, a.a.O., § 318 Rdnr. 17) oder wenn eine neue Entscheidung über die Schuldfrage aufgrund der für die Strafzumessung festgestellten Tatsachen zur Verneinung der Schuld des Angeklagten führen könnte bzw. würde (BGHSt 7, 283, 286; BGH NJW 1996, 2663; BGHSt 46, 257; OLG Köln, BA 2000, 371; NStZ 1984, 379). Eine solche Fallgestaltung ist hier gegeben. Das Amtsgericht hat in seinem Urteil die Anwendbarkeit der §§ 20, 21 StGB nicht erörtert, obwohl nach den tatsächlichen Gegebenheiten dazu Veranlassung bestand. So ergibt sich aus dem Vermerk der Kriminalhauptkommissarin Bald vom 10. April 2002, dass die von der Kriminalbeamtin telefonisch befragte Lebensgefährtin des Angeklagten diesen für psychisch krank hielt, da er "an Eifersuchtswahn leide." Der Polizeibeamte Stockschläder, der den Angeklagten in der Justizvollzugsanstalt Siegen zum Tatvorwurf vernahm, hielt seinen Eindruck von dem Angeklagten in einem Vermerk vom 12. August 2002 (Bl.139 d.A.) fest, in dem es heißt, dass seiner Einschätzung nach eine psychische Erkrankung des Angeklagten nicht gänzlich in Abrede gestellt werden könne. Das Verhalten des Angeklagten habe zumindest in Bezug auf die behaupteten sexuellen Kontaktaufnahmen seiner Lebensgefährtin schon neurotische Züge angenommen. In dem Protokoll der - ausgesetzten - Hauptverhandlung des Amtsgerichts vom 9. Januar 2003 wird zudem das Verfahren 213 Js 594/01 StA Siegen erwähnt, aus dem sich, so das Protokoll, ergebe, dass gegen den Angeklagten vom Amtsgericht Olpe am 29. November 2002 ein Unterbringungshaftbefehl erlassen worden sei, da dringende Gründe dafür sprächen, dass der Angeklagte am 2. Oktober 2001 einen Diebstahl in einem besonders schweren Fall im Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit begangen habe. Grundlage des Unterbringungshaftbefehls sei ein Gutachten der Westfälischen Klinik für Psychiatrie in Warstein vom 21. November 2002. Das Amtsgericht hat dann das für die 2. große Strafkammer des Landgerichts Siegen im Verfahren KLs 213 Js 594/01 - K 6/02 - zur Frage der Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB sowie zur Frage einer möglichen Unterbringung des Angeklagten gemäß § 63 StGB vom beauftragten Sachverständigen Dr. med. R. unter dem 10. April 2003 schriftlich erstattete psychiatrische Gutachten beigezogen und bei der auf den 11. September 2003 neu anberaumten Hauptverhandlung ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls "zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht". In diesem Gutachten weist der Sachverständige darauf hin, dass der Angeklagte im Jahre 1992 in Dänemark Kokain und Heroin konsumiert habe, schnell süchtig geworden sei und im Drogenrausch in einem Zustand der Schuldunfähigkeit Mitte Mai 1992 seinen damals sechs Wochen alten Sohn getötet habe, worauf ihn das Landgericht Kopenhagen am 19. Mai 1993 in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen habe. Der Sachverständige Dr. med. R. diagnostizierte bei dem Angeklagten eine gemischte Persönlichkeitsstörung mit dissozialen und emotional instabilen Anteilen. Der Angeklagte steigere sich gelegentlich in affektive Konflikte hinein und stelle dann Behauptungen auf, die mit der Realität nicht vereinbar seien. Bezogen auf die im Verfahren 213 Js 594/01 StA Siegen angeklagte Diebstahlstat vom 2. Oktober 2001 kam der Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten vom 10. April 2003 zu dem Ergebnis, dass sich derzeit keine sicheren Anhaltspunkte dafür finden ließen, dass der Angeklagte zum jeweiligen Tatzeitpunkt unter dem Eindruck einer erheblichen Minderung der Steuerungsfähigkeit oder einer deutlichen Beeinträchtigung oder Aufhebung der Einsichtsfähigkeit gehandelt habe.

Aufgrund dieser Erkenntnisse bestand für das Amtsgericht Siegen Veranlassung, im vorliegenden Fall die Anwendbarkeit der §§ 20, 21 StGB zu prüfen und im Urteil zu erörtern. Ausführungen hierzu enthält das amtsgerichtliche Urteil jedoch nicht. Aufgrund der genannten aktenkundigen Hinweise auf eine (mögliche) psychische Erkrankung des Angeklagten, die Einfluss auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit haben konnte, konnte das Berufungsgericht bereits bei Eingang der Akten jedenfalls nicht ausschließen, dass eine neue Entscheidung über die Schuldfrage aufgrund der jedenfalls für die Strafzumessung bedeutsamen, vom Berufungsgericht festzustellenden Tatsachen zu Verneinung der Schuld des Angeklagten führen würde. Bei dieser Sachlage war die vom Angeklagten in seiner Berufungserklärung vorgenommene Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch in dem amtsgerichtlichen Urteil unwirksam.

Im Übrigen hat die zu Unrecht von einer wirksam beschränkten Berufung ausgehende Strafkammer im Rahmen ihrer Überprüfung der Rechtsfolgenentscheidung des Amtsgerichts ergänzende Feststellungen zur Persönlichkeit des Angeklagten und seinem Vorleben getroffen, die ebenfalls Veranlassung zur Prüfung und Erörterung der §§ 20, 21 StGB hätten geben müssen. So ergibt sich aus dem Berufungsurteil, dass der Angeklagte im Dezember 2002 aus dem Vollzug heraus in die Westfälische Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Lippstadt verlegt wurde, die er erst Ende Mai 2003 wieder verließ. Weiter heißt es, dass der Angeklagte unter der Haft gelitten habe und sich psychisch nicht unerheblich angegriffen fühle. Er habe sich während der letzten Haftzeit ungerecht behandelt gefühlt und Kontakt zu einer Psychiaterin in Grevenbrück aufgenommen, bei der eine psychiatrische Behandlung/Therapie geplant sei. Gegenwärtig werde er mit Diazepam behandelt. Trotz dieser erheblichen Anhaltspunkte für eine mögliche Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder erheblich verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) des Angeklagten bei Begehung der Tat, die Gegenstand des vorliegenden Strafverfahrens ist, ist das Landgericht auf diese Frage in dem Berufungsurteil mit keinem Wort eingegangen.

Nach alledem war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Siegen zurückzuverweisen. Diese wird die Tat neu festzustellen und die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt (§§ 20, 21 StGB) mit sachverständiger Hilfe zu prüfen und in den Urteilsgründen abzuhandeln haben.

Ende der Entscheidung

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