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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 12.04.2007
Aktenzeichen: 1 Ss 112/07
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 244
Ein namentlich benannter Zeuge ist i.d.R. nur dann unerreichbar, wenn das Gericht unter Beachtung der ihm obliegenden Aufklärungspflicht alle der Bedeutung des Zeugnisses entsprechende Bemühungen zur Beibringung des Zeugen vergeblich entfaltet hat und auch keine begründete Aussicht besteht, dass der Zeuge in absehbarer Zeit beigebracht werden kann. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist in der den Beweisantrag ablehnenden Entscheidung darzulegen.
Beschluss

Strafsache

gegen T.S.

wegen fahrlässigen Vollrausches.

Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der Strafkammer II - kleine Strafkammer - des Landgerichts Detmold vom 20.12.2006 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 12. 04. 2007 durch die Richterin am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Amtsgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gem. § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Detmold zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts Detmold vom 07.08.2006 wegen fahrlässigen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Detmold mit dem angefochtenen Urteil vom 20.12.2006 verworfen.

Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es in den Mittagsstunden des 02.01.2006 zwischen dem erheblich alkoholisierten Angeklagten und dem Zeugen L. zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung, in deren weiteren Verlauf der Angeklagte dem Zeugen L. mit der rechten Hand gegen den Hals schlug und ihn mit den Fingernägeln kratzte. Bei einem weiteren Aufeinandertreffen in der Küche ca. 2 Stunden nach dem ersten Vorfall sei es zunächst wieder zu einem Streit gekommen. Der Angeklagte habe sodann die Küche verlassen und sei mit einem Messer zurückgekehrt. Mit erhobenem Arm und dem Messer in der Hand sei er auf den Zeugen losgegangen, als wenn er zustechen wolle. Bei einer Abwehrbewegung des Zeugen L. habe dieser 2 kleine Verletzungen am linken Zeigefinger erlitten. Die gegen 16.30 Uhr erschienenen Zeugen POK H. und POM K. hätten den Angeklagten volltrunken auf dem Boden des Flures oder seines Zimmers liegend vorgefunden. Ein anschließend durchgeführter Atemalkoholtest habe eine Blutalkoholkonzentration von 2,7 Promille ergeben. Daraus ergebe sich für die Tatzeit eine Blutalkoholkonzentration von 3,1 bzw. 3,5 Promille.

Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 20. Dezember 2006, eingegangen beim Landgericht Detmold am 21. Dezember 2006, Revision eingelegt. Nach Zustellung des Urteils am 03.01.2007 hat der Prozessbevollmächtigte des Angeklagten mit am 01. Februar 2007 eingegangenem Schriftsatz die Revision begründet. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Im Rahmen der formellen Rüge hat er u. a. ausgeführt, dass die Berufungskammer zu Unrecht von der Unerreichbarkeit des Zeugen L. ausgegangen sei und deswegen dessen frühere polizeiliche Vernehmung gem. § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht hätte verlesen werden dürfen. Aus dem gleichen Grunde sei auch sein Beweisantrag auf Vernehmung des Zeugen L. zu Unrecht gem. § 244 Abs. 3 StPO zurückgewiesen worden.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensrüge einen jedenfalls vorläufigen Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an eine andere Abteilung des Landgerichts Detmold.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat dazu u. a. wie folgt Stellung genommen:

"Die zulässige Revision des Angeklagten hat bereits mit der Verfahrensrüge der Verletzung der §§ 244 Abs. 3 S. 2, 251 Abs. 1 Ziff. 2 StPO einen zumindest vorläufigen Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den zu Grunde liegenden Feststellungen sowie zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Berufungskammer des Landgerichts Detmold.

1. Die Revision rügt in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügenden Form die Verletzung der vorstehend genannten Vorschriften. Auf Grund der Revisionsrechtfertigung, der Sitzungsniederschrift und der schriftlichen Urteilsgründe ergibt sich folgender Verfahrensablauf:

Der Verteidiger hatte in der Hauptverhandlung vom 20.12.2006 der Verlesung der Vernehmungsniederschrift vom 17.01.2006 widersprochen und ausgeführt, die Auskunft des Kreises Lippe rechtfertige nicht die Annahme, der Zeuge L. sei nicht erreichbar i. S. des § 251 StPO. Angesichts der Bedeutung des Zeugen hätten weitere Anstrengungen unternommen werden müssen, um dessen Aufenthalt zu ermitteln. Die Berufungskammer hat daraufhin im Beschlusswege die Verlesung der vorbezeichneten Vernehmungsniederschrift angeordnet und zur Begründung angeführt, nach Auskunft des Ausländeramtes des Kreises Lippe vom 02.05.2006 sei der Zeuge untergetaucht und nach unbekannt abgemeldet worden. Weiter gehende Maßnahmen zur Ergreifung des Zeugen seien auch im Hinblick auf die Bedeutung seiner Aussage nach Auffassung der Kammer nicht erforderlich.

Im Anschluss daran hat der Verteidiger beantragt, den Zeugen L. zum Beweis der Tatsache zu vernehmen, dass der Angeklagte ihn am 02.01.2006 weder mit einem Messer noch mit den Händen an der Hand bzw. am Hals verletzt habe. Außerdem hat er angeregt, zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen L. Ermittlungen über etwaige strafrechtliche Vorbelastungen durchzuführen.

Die Kammer hat den Beweisantrag mit der Begründung abgelehnt, der Zeuge sei unerreichbar (§ 244 Abs. 2 StPO). Nach der vorbezeichneten Auskunft des Kreises Lippe sei er untergetaucht und nach unbekannt abgemeldet worden. Der Beweisanregung werde nicht nachgegangen, da es für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen unerheblich sei, ob er strafrechtlich in Erscheinung getreten sei.

Entgegen der Ansicht des Landgerichts liegen die Voraussetzungen für die Annahme einer Unerreichbarkeit des Zeugen i. S. der vorbezeichneten Vorschriften nicht vor. Ein Zeuge ist dann unerreichbar, wenn der Tatrichter unter Beachtung der ihm obliegenden Aufklärungspflicht alle der Bedeutung des Zeugnisses entsprechenden Bemühungen zur Beibringung des Zeugen vergeblich entfaltet hat und keine begründete Aussicht besteht, dass der Zeuge in absehbarer Zeit als Beweismittel herangezogen werden kann (BGHR StPO, § 244 Abs. 3 S. 2 Unerreichbarkeit 13, Urteil vom 04.08.1992). Ein namentlich benannter Zeuge ist, auch wenn er untergetaucht ist bzw. sich im Ausland aufhält, in der Regel nur dann unerreichbar, wenn das Gericht unter Beachtung der ihm obliegenden Aufklärungspflicht alle der Bedeutung des Zeugnisses entsprechende Bemühungen zur Beibringung des Zeugen vergeblich entfaltet hat und auch keine begründete Aussicht besteht, dass der Zeuge in absehbarer Zeit beigebracht werden kann (BGHR StPO § 244 Abs. 3 S. 2 Unerreichbarkeit 6, Urteil vom 20.06.1998; BGH NStZ 1993, 50; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 244 Rdnr. 62). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist in der den Beweisantrag ablehnenden Entscheidung darzulegen (BGH NStZ 1993, 50; Alsberg/Nüse/Meyer, Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl., Rdnr. 646), weil die Darlegung der Bemühungen des Gerichts, das Beweismittel herbeizuschaffen, und der Gründe, aus denen dies nicht möglich erschien, in erster Linie auch die Aufgabe hat, dem Revisionsgericht die Überprüfung zu ermöglichen, ob das Tatgericht den Rechtsbegriff der Unerreichbarkeit verkannt hat.

Das Vorliegen der vorbezeichneten Voraussetzungen ist weder dem den Beweisantrag des Angeklagten ablehnenden Beschluss noch den Urteilsgründen zu entnehmen. Dass ein Zeuge nach Auskunft der Meldebehörde unbekannt verzogen ist, macht ihn noch nicht ohne Weiteres unerreichbar (BGH bei Herlan, MDR 1954, 531; KG, Beschluss vom 08.06.2004 - (5) 1 Ss 23/04 -; StV 2005, 13 14 ). Vielmehr sind vorhandene weitere Erkenntnis- und Mitteilungsmöglichkeiten zur Feststellung des Aufenthaltsorts des Zeugen auszuschöpfen. Dabei richtet sich das Maß der erforderlichen Nachforschungen insbesondere nach der Bedeutung des Zeugen für die Wahrheitsfindung. Keinesfalls kann es jedoch nach alledem genügen, wenn sich das Gericht mit der Auskunft der Ausländerbehörde, der betreffende Zeuge sei unbekannten Aufenthalts, begnügt. Weitere aktuelle Ermittlungen zum Aufenthalt des Zeugen L. sind den Akten nicht zu entnehmen. Insbesondere hätte es sich vorliegend aufgedrängt, Auskünfte aus dem Ausländerzentralregister einzuholen bzw. eine Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung nach § 131 a Abs. 1 StPO i. V. m. § 126 Abs. 2 S. 3 StPO zu bewirken. Dass entsprechende Maßnahmen im Verlauf des Verfahrens in Erwägung gezogen worden sind, ist den Akten nicht zu entnehmen. Vor diesem Hintergrund durfte das Landgericht den Zeugen L. nicht unter Berufung auf die Auskunft der Ausländerbehörde als unerreichbar ansehen und den Beweisantrag nicht mit "knapper" Begründung zurückweisen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Zeuge L. nach telefonischer Auskunft der Sachbearbeiterin des Kreises Lippe erst auf Grund der Anfrage des Landgerichts vom 21.11.2006 zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben worden sei.

Demgemäss liegen die Voraussetzungen für die Verlesung der Vernehmungsniederschrift (§ 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO) nicht vor, denn dies kommt nur dann in Betracht, wenn die vorliegend unterbliebenen Nachforschungen nach dem Verbleib des Zeugen ergebnislos verlaufen wären. Die Revision hält die Verfahrensweise des Landgerichts daher zu Recht für fehlerhaft, da weitere Nachforschungen hätten angestellt werden müssen, die auch hinreichende Aussicht auf Erfolg versprachen."

Diesen Ausführungen tritt der Senat bei und macht sie zum Gegenstand seiner eigenen Entscheidung.

Da die Verfahrensrüge bereits zur Aufhebung der Entscheidung führt, kann dahingestellt bleiben, ob auch die Beweiswürdigung - wie von der Revision angeführt - fehlerhaft ist. Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat jedoch darauf hin, dass für die Beweiswürdigung in den Fällen, in denen Aussage gegen Aussage steht, besondere Anforderungen gelten. In diesen Fällen müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seinen Überlegungen einbezogen hat (BGH NStZ 2002, 494). Diese Anforderungen gelten noch im erhöhten Maße dann, wenn der Zeuge L. auch künftig für eine Hauptverhandlung nicht geladen werden kann, da das Gericht in diesem Fall nicht die Möglichkeit hat, aufgrund seines persönlichen Eindrucks die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu beurteilen.

Ende der Entscheidung

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