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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 24.05.2007
Aktenzeichen: 1 UF 78/07
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 1666
BGB § 1666a
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Der am 20.3.2007 durch Zustellung bekannt gemachte Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Minden wird aufgehoben. Das Verfahren auf Entziehung der elterlichen Sorge wird eingestellt.

Auslagen werden nicht erstattet. Der Gegenstandswert beträgt 3.000 €.

Gründe:

I.

Das Familiengericht hat den Beschwerdeführern mit dem angefochtenen Beschluss einen Teil der elterlichen Sorge für ihre Tochter K entzogen, nämlich das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Gesundheitsfürsorge, und eine Pflegschaft eingerichtet. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Absicht der Eltern, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen bei K und ihre künstliche Ernährung beenden zu wollen mit der Konsequenz, dass das Kind sterbe, gefährde das Kindeswohl und überschreite den ihnen zuzubilligenden Ermessensspielraum. Ob und inwieweit künftig eine Wiederherstellung zumindest insoweit möglich sein werde, dass dem Kind zumindest eine basale Teilhabe am Leben ermöglicht werden könne, sei offen. Wegen des zugrundeliegende Sachverhalts und der vollständigen Gründe wird auf den angefochtenen Beschluss Bezug genommen.

II.

Dagegen wenden sich die Eltern mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten befristeten Beschwerde, mit welcher sie die Zurückübertragung der gesamten elterlichen Sorge erstreben. Sie verteidigen ihre Absicht, K sterben zu lassen. Im Einzelnen führen sie u.a. aus:

"K befindet sich im apallischen Syndrom, welches nach sicherer ärztlicher Bewertung irreversibel ist. Dies bedeutet nach schulmedizinischem Konsens, dass sie für immer ohne Bewusstsein ist und für immer kognitive Denkvorgänge der Großhirnrinde unmöglich sind, weil für diese eben eine Funktion der Großhirnrinde (Pallium) notwendig ist, welche bei K irreversibel geschädigt ist (a-pallisch). Selbstverständlich reagiert K auf verschiedene Reize. Dies wird von Strukturen des Gehirns unter der Großhirnrinde (basale Strukturen) geleistet. Infolge der Schädigung leidet K an schwersten Spastiken aller vier Quadranten des Körpers (Tetraspastik). Dadurch ist K völlig steif und es hat sich sogar die Wirbelsäule verdreht. Der Zustand hat sich in den letzten Wochen tendenziell verschlechtert. Sie kann nur für den Außenstehenden mangels Schmerzsymptomatik einen Eindruck des Zufriedenseins vermitteln, den K mangels Funktion der Großhirnrinde selbst jedoch nicht bewusst empfinden kann. Damit wird eine Zufriedenheit auf basaler Wahrnehmungsebene postuliert. Nach außen zeigt sich lediglich eine Symptomlosigkeit, die nicht mit Zufriedenheit gleichzusetzen ist. Um K aber symptomlos zu machen, bedarf es einer noch intensiveren Medikamentengabe (ggf. auch über die "Spastikpumpe"), wonach selbst Ks basale Reaktionen mehr oder weniger zum Erliegen kommen würden. So ist K schon in den letzten Wochen praktisch nur noch im Tiefschlaf zu halten. So würde ihr weiteres Leben aussehen.

K liegt so lange nicht im Sterben, solange die infolge der Großhirnzerstörung verloren gegangene Fähigkeit der natürlichen Aufnahme von Flüssigkeit und Nahrung durch Infusion kalorischer Flüssigkeit über die PEG (Perkutane endoskopische Gastrostomie -Ernährungssonde durch die Bauchdecke direkt in den Magen) substituiert wird. So lange werden voraussichtlich Nieren, Herz und Lunge - und damit der Kreislauf - "funktionieren". Ohne den Erhalt dieser lebenswichtigen Körperfunktionen wäre längst der Tod eingetreten. Ks verbliebene Körperfunktionen können noch jahrelang künstlich erhalten werden.

Die lebenserhaltende Zufuhr von kalorischer Nahrung über die PEG ist eine medizinische Behandlung (BGH NJW 1995, 204 ff und Grundsätze der Bundesärztekammer zu ärztlichen Sterbebegleitung). Jede ärztliche Behandlung ist invasiv, tatbestandsmäßig damit eine Verletzung der körperlichen Integrität, so auch die PEG.

Zu ihrer Rechtfertigung bedarf es nach herrschendem Medizinrecht kumulativ der ärztlichen Indikation und der Zustimmung des Patienten.

Die Grundsätze der Bundesärztekammer von 2004 halten beim Apalliker grundsätzlich eine lebenserhaltende Ernährungstherapie für indiziert, allerdings unter Beachtung seines Willens. Erst bei Hinzutreten weiterer negativer Entwicklungen über das alleinige Andauern des Wachkomas hinaus käme eine Beendigung in Frage. K leidet "neben" dem apallischen Syndrom an kaum mehr zu beherrschenden Spastiken. Die Universitätsklinik E hat vor wenigen Tagen zum zweiten Mal die Indikation für eine Installation einer "Spastikpumpe" (Baclofen-Perfusor) verneint und das Kind erneut ohne diese Pumpe zurück in die KinderReha-Klinik geschickt, weil die Ärzte sich bei Abwägung von Nutzen und Risiken kein Benefit für K erwarten. Damit haben wir vorliegend nicht nur das Wachkoma sondern auch ein Kind, das pausenlos schreit und krampft und insoweit nicht einmal sicher zu therapieren ist.

Unter all diesen Umständen ist bereits die Indikation für eine weitere lebenserhaltende Therapie höchst fraglich.

Bei minderjährigen Kindern haben die Eltern das Recht, für das Kind die Zustimmung zu einer ärztlichen Behandlung zu erklären oder zu verweigern. Angesichts des Alters von K von nur vier Jahren bedarf es keiner vertiefenden Betrachtung, dass die Eltern dabei mit wachsender Reife die eigenen Wünsche des Kindes zu beachten haben. Den Eltern steht es gemäß Artikel 6 II 1 GG als natürliches Recht und als die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht zu, für ihr Kind Entscheidungen über die Zuführung zu ärztlicher Behandlung zu treffen. So wie das Grundgesetz diese Aufgabe allein den Eltern überträgt und diesem eigenen Entscheidungsrecht der Eltern Verfassungsrang einräumt, so richtet das Grundgesetz in Artikel 6 II 2 aber auch das Wächtertum der staatlichen Gemeinschaft ein. Dieses Wächteramt übt die Familiengerichtsbarkeit aus, indem sie die Wohlschranke des § 1666 BGB zu prüfen hat.

Rechtsfehlerhaft hat das Amtsgericht die Ausübung der elterlichen Sorge nach der Rechtsprechung zu Betreuerentscheidungen bewertet. Mit der Heranziehung dieser Rechtsprechung verkennt das Amtsgericht, dass den Eltern für K ein verfassungsmäßig garantiertes Grundrecht zusteht, eine Entscheidung für K nach ihrer eigenen elterlichen Wertewelt zu treffen. Sie dürfen aktuell für K so entscheiden, wie sie auch aktuell über ihre eigene Behandlung entscheiden dürfen. Dies ist der Kerngehalt des Grundrechtes des Artikel 6 GG. Das Grundgesetz schützt weitestgehend die Werteordnung der Familie.

Dieses Grundrecht findet folglich seine Grenzen nur im objektiven Wohl des Kindes. Nun zeigt alle Rechtsprechung zu Behandlungsabbruch, Zulassen des Sterbens und Beachtung einer Patientenverfügung, dass längst nicht mehr gilt, dass das Zulassen des Sterbens per se dem Wohl eines Menschen widerspricht. Diese gewandelte allgemeine Wertvorstellung ist Folge der heutigen Möglichkeiten der Medizin, menschliches Leben in früher ebenso unbekanntem wie ungeahntem Ausmaß künstlich zu verlängern und damit das Sterben auch bei an sich unumkehrbar tödlichen Krankheitsverläufen beliebig hinauszuschieben.

Die Eltern haben sich entschieden, K sterben zu lassen, indem die künstliche Lebenserhaltung durch die derzeitige Ernährungstherapie beendet wird. Ks Sterbevorgang soll palliativmedizinisch so therapiert werden, dass sie nach ärztlichem und menschlichem Ermessen nicht einmal über basale Wahrnehmungen Leid empfinden kann.

Das Zulassen des symptomfreien Sterbens widerspricht nicht dem Wohl von K. Zum einen schildert die angefochtene Entscheidung eindrucksvoll die denkbar schwerste Gesundheitsschädigung, die ein Mensch erleiden kann. Zum anderen ist auszuschließen, dass sich an diesem Zustand jemals etwas Gravierendes ändert.

Einziges Therapieziel soll das Erreichen der Schmerzlosigkeit unter Inkaufnahme der weitgehenden Reduzierung selbst basaler Reaktionsfähigkeiten sein. Es soll also das Empfinden des Schmerzes durch das gänzliche Ausschalten von letzten Empfindungsmöglichkeiten des allein funktionierenden Stammhirns ausgeschlossen werden. Damit entfallen aber auch die letzten Argumente für eine Lebenserhaltung des Kindes, nämlich das wenigstens basale Teilnehmen an der Umwelt.

Es geht in diesem Verfahren nicht darum, staatlich zu entscheiden, ob das Leben eines solchermaßen leidenden Wachkomapatienten lebenswert oder lebensunwert ist. Es geht in diesem Verfahren alleine darum, ob die Eltern mit der Entscheidung, K sterben zu lassen, ihren verfassungsrechtlich geschützten Entscheidungsspielraum überschritten haben."

III.

Der Amtspfleger und das beteiligte Jugendamt verteidigen die angefochtene Entscheidung. Er führt aus, dass K in der 15. Kalenderwoche im Universitätsklinikum E die beschriebene sog. Spastik-Pumpe implantiert bekommen habe. Die tägliche Dosis werde derzeit gesteigert, bis die Therapeutisch notwendige Dosis gefunden sei. Wann dies der Fall sei, sei nicht abzusehen. Die Spastiken seien zwischenzeitlich teilweise entschärft worden, so dass K ruhiger wirke. Das sei jedoch ein rein symptomatischer Erfolg. Die Kontrakturen der Sprunggelenke seien irreversibel und nur durch operative Verlängerung der Sehnen zu beheben. Weil K derzeit im Wachzustand Klagelaute von sich gebe, erhalte sie zusätzlich Morphium, Diazepam und andere Sedierungsmittel.

Kontakt zur Umwelt nehme K nach wie vor nicht auf. Damit sei nach übereinstimmender Einschätzung der Mediziner auch nicht mehr zu rechnen. Aus seiner Sicht als Amtspfleger sei indessen ungeklärt, ob und inwieweit die medizinischen Maßnahmen K Linderung verschaffen und sie befähigen könnten, künftig auf nonverbaler Ebene Kontakt zu ihren Eltern aufzunehmen. Deshalb erachte er sowohl die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens für erforderlich.

IV.

Das Rechtsmittel der Eltern hat Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und - klarstellend - zur Verfahrenseinstellung.

Der Senat hat keinerlei Grund für die Annahme, dass die Eltern hier ihre Elternverantwortung missbräuchlich wahrnehmen könnten und schuldlos oder gar schuldhaft i.S.v. § 1666 BGB versagt hätten.

In tatsächlicher Hinsicht geht der Senat, wie vor ihm das Amtsgericht und die Beschwerdeführer, vom selben Sachverhalt aus. Dieser ist abschließend aufgeklärt und lässt hinsichtlich der maßgeblichen Diagnose und auch der Prognose keinen weiteren Aufklärungsbedarf erkennen. Eine Kontaktaufnahme im Sinne einer bewussten Willensbestätigung oder auch nur als Zeichen vorhandenen Bewusstseins lässt sich nach gegenwärtigen Erkenntnisstand und dem Stand der medizinischen Wissenschaft mit Sicherheit ausschließen. Das gilt auch für eine Kommunikation auf "nonverbaler Ebene", soweit damit irgendeine Bewusstseinsbetätigung gemeint ist. Soweit damit aber nur reflexartige Reaktionen auf eingebrachte körperliche Reize gemeint sind, sind diese nach zutreffender Ansicht aller Beteiligter auch weiterhin möglich, aber als reine Stammhirnfunktionen keine geeigneten Anzeichen für Reste von Bewusstsein. Soweit der Amtspfleger in seiner Stellungnahme die Möglichkeit zu einer Wiederherstellung der Fähigkeit Ks zu einer Kontaktaufnahme unterstellt, geht er von falschen Voraussetzungen aus. Der Senat hat daher kein weiteres Gutachten für erforderlich gehalten. Auch die Durchführung eines Termins zur mündlichen Verhandlung war nicht geboten. Das Amtsgericht hat die Beteiligten mündlich angehört. Wesentliche neue Tatsachen sind seither nicht eingetreten.

In rechtlicher Hinsicht lassen sich die Voraussetzungen für einen - auch nur partiellen - Sorgerechtsentzug gem. §§ 1666, 1666a BGB nicht feststellen. Die Eltern haben, ausgehend von zutreffenden tatsächlichen Gegebenheiten und in Kenntnis ihrer Rechte, Pflichten und ihrer Verantwortung, eine nach bürgerlichem Recht und verfassungsrechtlich garantiert zuvörderst ihnen zukommende Entscheidung nach reiflicher Überlegung getroffen. Anhaltspunkte für einen Sorgerechtsmissbrauch liegen nicht vor. Maßstab ist insoweit nicht, ob ein anderer Entscheidungsträger ein ihm zustehendes Ermessen möglicherweise anders ausgeübt hätte. Jedenfalls wäre das Ermessen nicht zwingend anders auszuüben.

Ein Sorgerechtsmissbrauch ergibt sich insbesondere auch nicht unter dem Gesichtspunkt, dass die Entscheidung der Eltern möglicherweise oder sogar wahrscheinlich - vorbehaltlich einer eventuell erforderlich werdenden Entscheidung des Vormundschaftsgerichts - den Tod Ks zur Folge hätte. In ihrer konkreten Situation ohne die Perspektive einer Besserung ihrer gesundheitlichen Situation, ohne nach medizinischem Ermessen greifbare Wahrscheinlichkeit der Wiedererlangung irgendeiner Bewusstseinsfunktion und einhergehend mit weiteren irreversiblen, wenn auch nur auf basaler Ebene als schmerzhaft erlebten, gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die nur durch weitere invasive Eingriffe gemildert werden können, erscheint dem Senat auch aus Sicht des Kindeswohls im Lichte des mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechts auf eine menschenwürdige Behandlung die Entscheidung, einer Fortsetzung der lebenserhaltenden Maßnahmen nicht weiter zustimmen zu wollen, als einfühlbar und das Kindeswohl wahrend. Der terminale Charakter dieser Entscheidung ist hier und für sich allein kein Grund, anstelle der Eltern einen Pfleger mit derselben Frage zu betrauen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 13 FGG, 131 III, 30 II KostO.

Ende der Entscheidung

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