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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 15.10.2007
Aktenzeichen: 1 VAs 79/07
Rechtsgebiete: EGGVG


Vorschriften:

EGGVG § 23
Die von der Bundesregierung zu treffende Entscheidung über ein von ihr zu stellendes Auslieferungsersuchen ist davon abhängig, dass die Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde ein solches Ersuchen überhaupt anregt. Dahe hat die Entscheidung der Staatsanwaltschaft ist Regelungscharakter und ist nicht ein bloßes Verwaltungsinternum. Rechtsschutz gegen diese Maßnahme ist also möglich.

Zur Überprüfung einer solchen Entscheidung.


Beschluss

Justizverwaltungssache

betreffend den Jugendlichen P.P.

wegen Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Justizbehörden, (hier: Anregung eines Auslieferungsersuchens).

Auf den Antrag des Betroffenen vom 27. Juli 2007 auf Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz im Verfahren nach den §§ 23 ff. EGGVG und auf den hilfsweise gestellten Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach diesen Vorschriften sowie auf den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 15. 10. 2007 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung des Generalstaatsanwalts in Hamm beschlossen:

Tenor:

1.

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung und der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werden als unbegründet verworfen.

Der Antrag auf Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz ist damit gegenstandslos.

2.

Die Kosten des Verfahrens werden bei einem Gegenstandswert von 2.500,- € dem Betroffenen auferlegt.

Gründe:

I.

Der am 16. November 1991 in Dortmund geborene Betroffene befand sich in der Zeit von März 2002 - von einer kurzen Unterbrechung abgesehen - bis zum 11. Oktober 2006 im Rahmen einer Jugendhilfemaßnahme gemäß § 34 Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) im Kinderwohnprojekt K.in Polen. Aufgrund des Beschlusses des zuständigen polnischen Gerichts für jugendliche Straftäter vom 11. Oktober 2006 befindet sich der Betroffene seit diesem Tag in einem polnischen Interventionsjugendheim für schwererziehbare Jugendliche in Dominow. Anlaß für diese Maßnahme war der gegen den Betroffenen erhobene Vorwurf, er habe in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 2006 in Wizajny/Polen die damals 82-jährige polnische Staatsangehörige J.H. in zwei Fällen mit Gewalt zur Duldung des Geschlechtsverkehrs gezwungen und habe außerdem versucht, die Geschädigte mit Gewalt und unter Androhung von gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben zur Herausgabe von Geld zu nötigen. Dabei soll der Betroffene die Geschädigte wiederholt erheblich körperlich misshandelt haben.

Wegen dieser Taten hat das Regionalgericht in Suwalki - Abteilung III für Familiensachen und Angelegenheiten von Minderjährigen - in dem nach polnischem Recht dafür vorgesehenen "Besserungsverfahren" inzwischen nach sechs Verhandlungs-tagen und Durchführung einer Beweisaufnahme - einschließlich der Besichtigung des Tatortes - mit Urteil vom 24. Juli 2007 die "Verwahrung in einer Besserungsanstalt" angeordnet. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die Eltern des Betroffenen haben angekündigt, die Entscheidung anfechten zu wollen.

Mit Schreiben vom 18. Mai 2007 hat die Verfahrensbevollmächtigte der Erziehungsberechtigten des Betroffenen die Staatsanwaltschaft Dortmund ersucht, sich um die Auslieferung des Betroffenen nach Deutschland zu bemühen. Sie hat dazu u. a. ausgeführt, dass Art. 2 des bilateralen Vertrages vom 17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen eine Auslieferung ausdrücklich vorsehe - und sogar einen Rechtsanspruch des Betroffenen begründe -, wenn der Durchführung der Strafverfolgung im Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei u.a. im Interesse der Resozialisierung der Vorzug zu geben sei. Dieser Aspekt, dem in Polen nur unzulänglich Rechnung getragen werden könne, sei stets vorrangig zu berücksichtigen. Außerdem sehe das polnische Jugendstrafrecht bei einem 15-jährigen noch keine Feststellungen zur Verantwortungsreife vor, so dass im Falle einer späteren Überstellung des Betroffenen zum Zwecke der Strafvollstreckung mit Schwierigkeiten zu rechnen sei.

Die Staatsanwaltschaft Dortmund hat das Ersuchen mit Entschließung vom 27. Juni 2007 zurückgewiesen. Sie ist der Auffassung, dass sich aus Rechtshilfeverträgen als zwischenstaatlichem Recht grundsätzlich keine subjektiven Rechte Dritter ergeben könnten. Außerdem hätten die polnischen Strafverfolgungsbehörden bereits mitgeteilt, das dort bereits anhängige Verfahren selbst durchzuführen. Ein Auslieferungsersuchen sei deshalb nicht aussichtsreich. Schließlich würden die weiteren, in Art. 2 des bilateralen Vertrages vom 17. Juli 2003 genannten Gründe für eine Auslieferung auch gleichrangig nebeneinander stehen; der Resozialisierungs- bzw. Erziehungsaspekt sei deshalb nicht vorrangig zu beachten. Hier komme aber dem in dem bilateralen Vertrag ebenfalls genannten Umstand besondere Bedeutung zu, dass ein Strafverfahren gegen den Betroffenen in Deutschland nicht in gleicher Weise effektiv geführt werden könne wie in Polen, weil die Geschädigte aufgrund ihres hohen Alters kaum in der Lage sei, an einem erwartungsgemäß umfangreichen Strafverfahren in Deutschland teilzunehmen. Einer Auslieferung des Betroffenen stehe daher im Ergebnis das Interesse an einer effektiven Verfolgung der Tat entgegen. Es sei allerdings in Betracht zu ziehen, die Überstellung des Betroffenen zum Zwecke der Strafvollstreckung nach seiner rechtskräftigen Verurteilung bei der zuständigen Behörde anzuregen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich der am 30. Juli 2007 beim Oberlandesgericht in Hamm eingegangene Antrag auf Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz im Verfahren nach den §§ 23 ff. EGGVG, mit dem die Verfahrensbevollmächtigte für den Betroffenen die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft erstrebt, "bei der obersten Justizbehörde ein Ersuchen um Auslieferung des sich in Polen aufhaltenden Dominic Cornelissen anzuregen". Wenn - wie hier - ein vertraglicher Auslieferungsanspruch bestehe, habe die Staatsanwaltschaft die Pflicht, darauf hinzuwirken, dass dieser Anspruch auch geltend gemacht werde. Ein Ermessen bestehe insoweit nicht.

Für den Fall der Unzulässigkeit des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat die Verfahrensbevollmächtigte die Verpflichtung der Staatsanwaltschaft zur Anregung eines Auslieferungsersuchens hilfsweise auch "als Antrag in der Hauptsache" geltend gemacht.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit näheren Ausführungen beantragt, den Antrag auf Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz als unzulässig und den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zu verwerfen.

II.

Der Senat hat - entsprechend dem gestellten Hilfsantrag - den Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache beschieden. Der Antrag auf Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz ist damit gegenstandslos.

Der Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung nach den §§ 23 ff. EGGVG ist zulässig, insbesondere ist die Durchführung eines Vorschaltverfahrens für das Begehren des Betroffenen nicht vorgesehen. In der Sache hat der Antrag jedoch keinen Erfolg.

1. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 25. März 1981 (NJW 1981, S. 1154) noch ausdrücklich bezweifelt, ob die Stellung eines Auslieferungsersuchens überhaupt geeignet sein könne, "jemals Rechte des privaten Einzelnen i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG zu verletzen", weil die damit verknüpfte völkerrechtliche Willenserklärung "weder unmittelbar noch mittelbar einen der Bundesrepublik Deutschland zurechenbaren Eingriff" zur Folge habe. Vielmehr nehme der ersuchte Staat eine eigenständige und selbstverantwortliche Prüfung im Bereiche seiner Hoheitsgewalt vor. Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht aber nicht ausgeschlossen, dass "die sonstigen, auf den Auslieferungsverkehr ... anwendbaren Vertragsnormen" im Einzelfall - etwa aufgrund ergänzender bilateraler Vereinbarungen - subjektive Rechte des privaten Einzelnen begründen könnten.

So darf etwa einem in Deutschland verurteilten Straftäter, der zur weiteren Strafvollstreckung in sein Heimatland überstellt werden soll, ein gerichtlicher Rechtsschutz zur Überprüfung, ob die Vollstreckungsbehörde bei ihrer in diesem Zusammenhang zu treffenden Entscheidung sein Resozialisierungsinteresse ermessensfehlerfrei berücksichtigt hat, nicht verwehrt werden (BVerfG NJW 1997, S. 3013; vgl. dazu auch Senatsbeschluss vom 3. September 1998 - 1 VAs 45/98 -; Senatsbeschluss vom 9. Januar 2007 - 1 VAs 95/96 -; jeweils m.w.N.)

Eine vergleichbare Rechtslage ist auch hier gegeben, denn gemäß Art. 2 des bilateralen Vertrages vom 17. Juli 2003 wird die ersuchte Vertragspartei "die Auslieferung einer Person wegen einer strafbaren Handlung, die nach ihren Rechtsvorschriften ihrer Gerichtsbarkeit unterliegt, bewilligen, wenn der Durchführung der Strafverfolgung im Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei im Interesse der Wahrheitsfindung, aus Gründen der Strafzumessung oder des Strafvollzuges oder im Interesse der Resozialisierung der Vorzug zu geben ist. Die in Anwendung dieses Vertrages nach außenpolitischen Gesichtspunkten zu treffende Entscheidung der Bundesregierung über ein von ihr zu stellendes Auslieferungsersuchen ist hier aber ersichtlich davon abhängig, dass die Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde ein solches Ersuchen überhaupt anregt (vgl. dazu auch Böttcher in Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., EGGVG § 23 Rn. 40). In diesem Fall erweist sich aber die Entscheidung der Staatsanwaltschaft als Maßnahme mit Regelungscharakter und nicht als bloßes Verwaltungsinternum, gegen die, da der verfassungsrechtliche Anspruch auf Resozialisierung berührt wird, Rechtsschutz erforderlich ist.

2. Der danach zulässige Antrag auf gerichtliche Entscheidung bleibt in der Sache allerdings erfolglos. Die von der Staatsanwaltschaft angestellten Erwägungen, eine Auslieferung des Betroffenen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht anzuregen, sind nicht zu beanstanden.

Bei den in Art. 2 des Vertrages vom 17. Juli 2003 abschließend genannten Kriterien, die sowohl von der ersuchten wie auch von der ersuchenden Vertragspartei zu beachten sind, handelt es sich um unbestimmte Rechtbegriffe, die durch konkretisierungsbedürftige, namentlich wertende Begriffe oder durch Prognosen gekennzeichnet sind. In einem solchen Fall ist die von der Behörde getroffene Entscheidung einer gerichtlichen Kontrolle aber nur im Umfang und nach Art einer Ermessensüberprüfung zugänglich. Der Senat hat in diesem Fall nur zu prüfen, ob die Staatsanwaltschaft die Grenzen des Beurteilungsspielraums durch eine nicht mehr vertretbare Auslegung der unbestimmten in Art. 2 aufgeführten Rechtsbegriffe überschritten hat, ob sie den zugrundeliegenden Sachverhalt unzutreffend oder unvollständig ermittelt hat, ob sie allgemeine Wertmaßstäbe missachtet oder ob sie sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.

Die anhand dieser Kriterien anzustellende Prüfung lässt Rechtsfehler aber nicht erkennen. So hat die Staatsanwaltschaft zu Recht die in Artikel 2 des bilateralen Vertrages angeführten Gründe für eine Auslieferung als gleichwertig erachtet, ohne dem Resozialisierungsinteresse des Betroffenen bereits vor dem Abschluß des in Polen anhängigen Verfahrens einen Vorrang einzuräumen. Dies ergibt sich zum einen schon aus dem Wortlaut der Vereinbarung, in der dieser Aspekt - als einer von mehreren - auch erst abschließend erwähnt wird und ihm damit ersichtlich keine überwiegende Bedeutung beigemessen wird. Zum anderen folgt dies aber auch aus dem Umstand, dass dem Resozialisierungsinteresse eines Straftäters in der Regel vor dem rechtskräftigen Abschluss des Erkenntnisverfahrens ohnehin nicht oder nur sehr eingeschränkt Rechnung getragen werden kann, denn bis zu diesem Zeitpunkt steht noch nicht fest, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen der Betroffene die ihm zur Last gelegten Taten begangen hat und welche erzieherischen Massnahmen zu seiner Resozialisierung angezeigt sind.

Demgegenüber hat die Staatsanwaltschaft bei ihrer Ermessensentscheidung zu Recht darauf abgestellt, dass das gerichtliche Verfahren in Polen, gegen das rechtsstaatliche Bedenken weder vorgetragen noch sonst ersichtlich sind, wesentlich effizienter geführt werden kann als in Deutschland. Ein Erscheinen der 82-jährigen, in Polen lebenden Hauptbelastungszeugin zu einem Hauptverhandlungstermin in Deutschland erscheint kaum zumutbar und ist deshalb nicht zu erwarten. Angesichts des Umstandes, dass der Betroffene die Tat nur mit Einschränkungen eingeräumt hat, kommt der persönlichen Vernehmung dieser Zeugin - gegebenenfalls auch einer Besichtigung des Tatortes - aber eine so wesentliche Bedeutung zu, dass eine kommissarische Vernehmung nicht in Betracht kommen dürfte. Im Fall einer Auslieferung des Betroffenen nach Deutschland wäre deshalb mit einem zeitaufwändigem Verfahren zu rechnen, das im Falle eines Schuldspruchs eine erhebliche Verzögerung bei der Einleitung von erzieherischen Maßnahmen zur Folge hätte. Im übrigen liegt gegen den Betroffenen aber auch bereits ein nach ausführlicher Beweisaufnahme ergangenes erstinstanzliches Urteil vor, so dass ein kurzfristiger Abschluss des gerichtlichen Verfahrens in Polen zu erwarten ist und einer anschließenden Überstellung des Betroffenen nach Deutschland jedenfalls Rechtsgründe nicht entgegenstehen. Dem Bedürfnis nach einer möglichst frühzeitigen erzieherischen Einwirkung auf den Betroffenen kann unter diesen Umständen erst im Vollstreckungsverfahren angemessen Rechnung getragen werden.

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung war deshalb als unbegründet zu verwerfen. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft ist nicht zu beanstanden.

III.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war als unbegründet zu verwerfen, weil das Begehren des Betroffenen keine Aussicht auf Erfolg hat.

IV.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 30 EGGVG, 30, 130 KostO.

Ende der Entscheidung

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