Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 26.05.2004
Aktenzeichen: 11 UF 183/03
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 1601
BGB § 1602
BGB § 1603
BGB § 1606
BGB § 1612 b
1) Muss ein Elternteil nach dem Tod des anderen Elternteils allein für den Bar- und Betreuungsunterhalt eines minderjährigen Kindes aufkommen, dann ist der Betreuungsbedarf nicht in gleicher Höhe wie der geschuldete Tabellenunterhalt zu monetarisieren, sondern grundsätzlich konkret darzulegen und zu beziffern. Bei einem Alter des Kindes zwischen 13 und 15 Jahren kann der Betreuungsaufwand auf 150,- € geschätzt werden.

2.) Auf den Gesamtbedarf aus Bar- und Betreuungsunterhalt ist das an die Betreuungsperson ausgezahlte Kindergeld gem. § 1612 b Abs. 3 BGB in voller Höhe anzurechnen, denn § 1612 b BGB regelt die unterhaltsrechtlichen Auswirkungen der Zahlung von Kindergeld abschließend, nicht nur die Aufteilung des Kindergeldes zwischen zwei unterhaltspflichtigen Elternteilen. Das gleiche gilt für die Halbwaisenrente.


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

11 UF 183/03 OLG Hamm

Verkündet am 26. Mai 2004

In der Familiensache

der Schülerin

hat der 11. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 05. Mai 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Zumdick und die Richter am Oberlandesgericht Dr. Köhler und Michaelis de Vasconcellos

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 15. Oktober 2003 verkündete Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Hamm teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin für die Zeit von August 2001 bis Juli 2003 Kindesunterhalt in Höhe von monatlich 90,- € zu zahlen.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtstreits in erster Instanz und zweiter Instanz werden gegeneinander aufgehoben.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Beklagte ist der Vater der Klägerin, die am 24.05.1988 geboren ist. Sie hat nach dem Tod der Mutter zunächst mit ihren beiden Geschwistern M., geboren am 07.04.1984, und J., geboren am 01.08.1990, im Haushalt ihres Vaters gelebt. Im August 2000 wechselte sie im Einverständnis des Beklagten in den Haushalt ihrer Großeltern, wo sie bis einschließlich Juli 2003 betreut worden ist. Im August 2003 ist sie in den Haushalt des Vaters zurückgekehrt, wohnt aber seit Ende März 2004 erneut bei den Großeltern.

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind die Unterhaltsansprüche der Klägerin für die Zeit von August 2001 bis Juli 2003. In dieser Zeit hat der Beklagte jeweils das volle Kindergeld und die der Klägerin zustehende Halbwaisenrente von monatlich 175,61 € an diese bzw. die Großeltern weitergeleitet. Die Klägerin verlangt darüber hinaus - auf der Grundlage der Berechnungen im Beschluss des Senats vom 02.06.2003 (NJW-RR 2004, 152), auf den Bezug genommen wird (Bl. 65 ff. GA) - monatlich weitere 181,- €.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an sie für die Zeit von August 2001 bis Juli 2003 monatlich 181,- € zu zahlen.

Der Beklagte hat den Anspruch in Höhe von monatlich 34,38 € anerkannt und im übrigen beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat geltend gemacht, auf das Bar-Existenzminimum der Klägerin von monatlich 364,- € (135 % des Regelbetrags) sei das volle Kindergeld von 154,- € und die volle Halbwaisenrente von 175,61 € anzurechnen. Dann verbleibe nur eine ungedeckte Bedarfslücke von 34,39 €.

Das Amtsgericht hat nur den anerkannten Betrag zugesprochen und die Klage im übrigen abgewiesen. Es hat ausgeführt, gemäß den Ausführungen des Senats im Beschluss vom 02.06.2003 sei lediglich von einem Barbedarf der Klägerin von monatlich 269,- € auszugehen, da der Betreuungsaufwand nach wie nicht näher dargelegt sei und daher nicht beziffert werden könne. Auf diesen Bedarf sei das Kindergeld in voller Höhe anzurechnen, denn die Vorschrift des § 1612 b Abs. 5 BGB passe nicht; vielmehr sei § 1612 b Abs. 3 BGB analog anzuwenden, der die volle Anrechnung des Kindergeldes vorsehe. Ebenso sei die an die Klägerin ausgezahlte Halbwaisenrente in voller Höhe anzurechnen. Dann bleibe nicht mehr als der anerkannte Betrag.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit der Berufung, mit der sie den Anspruch auf Zahlung von monatlich 181,- € für die Zeit von August 2001 bis Juli 2003 weiter verfolgt.

Sie macht geltend, der Betreuungsbedarf dürfe nicht gänzlich außer Betracht bleiben, sondern sei zu schätzen. Sie sei von den Großeltern verpflegt und beherbergt worden. Sie hätten ihre Wäsche gewaschen, sie bei den Hausaufgaben unterstützt und ihr als Vertraute zur Seite gestanden.

Aber auch wenn der Betreuungsbedarf außer Betracht bleibe, sei die Entscheidung des Amtsgerichts nicht haltbar, denn § 1612 b Abs. 5 BGB sei sehr wohl anwendbar. Folge man nämlich der Auffassung des Amtsgerichts, sei ihr Mindestbedarf auch nicht annähernd gedeckt.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten abändernd zu verurteilen, an sie für den Zeitraum von August 2001 bis Juli 2003 monatlichen Unterhalt von 181,- € zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt die Entscheidung des Amtsgerichts, insbesondere die Auffassung, dass die auf den Fall einer Unterhaltspflicht beider Elternteile zugeschnittenen Regeln zur Anrechung des Kindergeldes in § 1612 b BGB nicht anwendbar seien. Auch die von der Berufung postulierte nur hälftige Anrechnung der Halbwaisenrente sei nicht gerechtfertigt, denn die innere Rechtfertigung für die nur hälftige Anrechnung entfalle, wenn nur noch ein Elternteil lebe und sowohl den Betreuungs- wie auch den Barbedarf abzudecken habe.

Darüber hinaus stelle sich die Frage, ob die Durchsetzung des Anspruchs wirklich den Interessen der Klägerin diene, weil er einen etwaigen Rückstand nicht zahlen könne und durch eine Vollstreckung der eigene laufenden Unterhalt der Klägerin gefährdet würde.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und hat teilweise Erfolg, denn der Bedarf der Klägerin ist höher als vom Amtsgericht angenommen.

1. Auf Grund der Pflegerbestellung ist die Klägerin im Prozess gegen ihren nach wie vorsorgeberechtigten Vater ordnungsgemäß vertreten.

Die Überlegung, dass die Klägerin im Falle des Obsiegens ihre eigene wirtschaftliche Position gefährden würde, weil sie inzwischen wieder im Haushalt des Vaters lebe, hindert die Verfolgung der Ansprüche durch den Pfleger nicht, der die verschiedenen Interessen eigenverantwortlich abwägen muss. Nachdem die Klägerin im Laufe des Berufungsverfahrens erneut zu ihren Großeltern gewechselt ist, bedarf die Frage der Unterhaltsverpflichtung des Vaters im übrigen auch einer Klärung für die Zukunft.

2. Materielle Rechtslage:

Anspruchsgrundlage sind die §§ 1601 ff. BGB. Der Beklagte zieht nicht in Zweifel, nach dem Tod der Mutter allein für den Bar- und Betreuungsbedarf der Klägerin aufkommen zu müssen. Zur Höhe des Unterhalts gilt folgendes:

2.1 Bedarfsberechnung:

a) Den Barbedarf beziffert die Klägerin durchgehend mit 269,- €. Das ist nicht zu beanstanden, denn ihr Bedarf entspricht mindestens dem Regelbetrag, der für die Zeit von August bis Dezember 2001 525,- DM = gerundet 269,- € und ab Januar 2002 monatlich 269,- € betragen hat.

b) Da der Beklagte die Klägerin im streitbefangenen Zeitraum nicht selber betreut hat, hat er auch den Betreuungsbedarf bar abzugelten.

aa) Teilweise wird in Rechtsprechung und Literatur die Auffassung vertreten, dass der Betreuungsunterhalt pauschal in gleicher Höhe wie der geschuldete Tabellenunterhalt zu monetarisieren sei (so etwa OLG Hamm, 12. Familiensenat, FamRZ 2001, S. 1024; Kalthoener/Büttner, Die Rechtsprechung zur Höhe des Unterhalts, 8. Auflage, Rdnr. 538)

bb) Andere Stimmen vertreten demgegenüber die Auffassung (OLG Stuttgart, FamRZ 2001, S. 1241; Luthin, Handbuch des Unterhaltsrechts, 9. Auflage, Rdnr. 3172), dass der Betreuungsunterhalt konkret beziffert werden muss. Dieser Auffassung hat sich der Senat angeschlossen (NJW-RR 2004, 152) und hält auch nach nochmaliger Prüfung daran fest.

Der Einwand in der Berufungsbegründung, auch der BGH habe sich für eine pauschalisierte Monetarisierung ausgesprochen, geht fehl. In der zitierten Entscheidung (FamRZ 1980, S. 1109) hat der BGH nur ausgeführt, dass Bar- und Betreuungsunterhalt grundsätzlich gleichwertig seien. Andererseits hat er stets die Auffassung vertreten, dass der Unterhaltspflichtige bei der Inanspruchnahme auf Kindesunterhalt für ein nicht bei ihm lebendes Kind wegen der Betreuung eines bei ihm selbst lebenden Kindes auch ohne konkreten Kostenaufwand dann einen Bonus in Anspruch nehmen könne, wenn er darlegen könne, dass die Betreuung nur unter besonderen Erschwernisse zu bewerkstelligen sei (BGH FamRZ 1991, S. 182, 184). Dieser Linie entspricht, auch im vorliegenden Fall eine konkrete Darlegung des Betreuungsbedarfs zu verlangen.

Hier kann der Betreuungsaufwand nach dem erstmals in der Berufungsinstanz in Ansätzen konkretisierten Vortrag auf einen Mindestbetrag von 150,- € pro Monat geschätzt werden:

Die Klägerin war zu Beginn des Aufenthalts bei den Großeltern 13 Jahre und an dessen Ende gerade 15 Jahre. Sie hat in der Berufungsbegründung unbestritten ausgeführt, ihre Großeltern hätten ihren Wohnbedarf gedeckt, den Haushalt versorgt, ihre Wäsche gewaschen, sie mit allem ausgestattet, was sie für die Schule und ihre sonstigen Bedürfnisse benötigt habe, sie bei den Hausaufgaben unterstützt und ihr als vertraute Personen zur Seite gestanden.

Auch wenn man im streitigen Zeitraum von einer kontinuierlichen Entwicklung zu mehr Selbständigkeit ausgeht, rechtfertigen die gemachten Angaben, den Aufwand durchgängig mit 150,- € pro Monat anzusetzen. Dies entspricht dem Betreuungsbonus, den der Senat regelmäßig dem Unterhaltspflichtigen gewährt, der selber Kinder dieses Alters betreut, wenn keine Besonderheiten in der Betreuungssituation vorliegen (vgl. dazu auch Wendl/Staudigl, Das Unterhaltsrecht in der familiengerichtlichen Praxis, 6. Auflage, § 2 Rdnr. 275 a).

c) Also ergibt sich ein Gesamtbedarf von 419,- € (269,- € + 150,- €), auf den zum einen das Kindergeld und zum anderen die der Klägerin zustehende Halbwaisenrente anzurechnen ist.

aa) Zur Anrechnung des Kindergeldes:

Während der Senat im Beschluss vom 02.06.2003 die Auffassung vertreten hat, dass auf den ohne Berücksichtigung des Betreuungsaufwands bezifferten Barunterhalt das Kindergeld nur zur Hälfte und unter Berücksichtigung von § 1612 b Abs. 5 BGB anzurechnen sei, hat das Amtsgericht die volle Anrechnung des Kindergeldes für richtig gehalten. Nachdem nunmehr auch der Betreuungsaufwand monetarisiert ist, ist der Lösung des Amtsgerichts zu folgen.

(1) Bedenken, § 1612 b BGB auf den vorliegenden Fall anzuwenden, bestehen nicht. Zwar trifft es zu, dass § 1612 b BGB in erster Linie die Frage betrifft, wie das Kindergeld zwischen zwei unterhaltspflichtigen Elternteilen aufzuteilen ist, die Vorschrift sollte aber die unterhaltsrechtlichen Auswirkungen der Zahlung von Kindergeld abschließend regeln (so Palandt/Diederichsen, BGB, 61. Auflage, § 1612 b, Rdnr. 1; Bamberger/Roth/Reinken, BGB, § 1612 b, Rdnr. 1 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien) und gilt daher auch vorliegend.

(2) Da der Beklagte der allein Unterhaltspflichtige und Kindergeldberechtigte ist, kann er gemäß § 1612 b Abs. 3 BGB grundsätzlich die volle Anrechnung des Kindergeldes beanspruchen. Dass dabei auch § 1612 b Absatz 5 BGB als Grenze für die Anrechnung zu beachten ist, kann nicht zweifelhaft sein, doch greift die Vorschrift vorliegend nicht mehr ein, nachdem sich unter Berücksichtigung des Betreuungsbedarfs ein einheitlicher Barunterhaltsanspruch von 419,- € ergibt, der 135 % des Regelbedarfs übersteigt.

§ 1612 b Abs. 5 BGB dahin auszulegen, dass zweimal 135 % des Regelbetrages gesichert sein müssten, wenn ein Elternteil für den Bar- und den Betreuungsbedarf aufkommen müsse, kommt demgegenüber nicht Betracht, denn aus verfassungsrechtlichen Gründen ist eine einschränkende Auslegung der Vorschrift geboten, die Unterhaltspflichtige mit geringerem Einkommen stärker belastet als Eltern mit höherem Einkommen (Wendl/Staudigl, Das Unterhaltsrecht in der familiengerichtlichen Praxis, 6. Auflage, § 2 Rdnr. 512).

bb) Die Frage, ob die Halbwaisenrente, die Einkommen der Klägerin ist, nicht zur einen Hälfte auf den Barbedarf und zur anderen auf den Betreuungsbedarf anzurechnen sei, stellt sich nicht mehr, nachdem sowohl der Bar- als auch Betreuungsbedarf beziffert und vom Beklagten zu erfüllen sind. Die Halbwaisenrente ist daher in voller Höhe anzurechnen.

cc) Also errechnet sich der Bedarf der Klägerin wie folgt:

Regelunterhalt 269,00 €

Betreuungsbedarf 150,00 €

419,00 €

./.Kindergeld 154,00 €

./. Halbwaisenrente 175,61 €

Anspruch 89,39 €

Gerundet 90,00 €

2.2 Leistungsfähigkeit:

Diesen Bedarf kann der Beklagte aufbringen, wie sich aus den Berechnungen des Senats im Beschluss vom 02.06.2003 ergibt, auf die Bezug genommen wird. Das gilt auch dann, wenn man dem Beklagten (anders als bisher geschehen) für die Zeit von August 2001 bis Januar 2003 einen Betreuungsbonus von 150,- € zurechnet, weil er bis einschließlich Januar 2003 die 12-jährige J. in seinem Haushalt betreut hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 92, 97 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 708 Ziffer 10 ZPO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision ergeben sich aus § 543 ZPO.



Ende der Entscheidung

Zurück