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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 19.12.2003
Aktenzeichen: 11 UF 373/02
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 1632 Abs. 4
Es kann zum Wohl des Kindes im Einzelfall geboten sein, ein afghanisches Mädchen, das von einer Hilfsorganisation mit lebensgefährlichen Kriegsverletzungen zur Behandlung nach Deutschland geholt worden ist, hier mehr als 4 Jahre verbleibt und seit ca. 3 Jahren in einer Familienpflege lebt, trotz guten Heilungsverlaufs nicht in sein Heimatland zurückzuführen, sondern es gegen den Willen der leiblichen Eltern in der bisherigen Familienpflege - zunächst befristet für einen gewissen Zeitraum - zu belassen.
OBERLANDESGERICHT HAMM BESCHLUSS

11 UF 373/02 OLG Hamm

In der Familiensache

hat der 11. Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Hamm am 19.12.2003 aufgrund mündlicher Verhandlung durch

beschlossen:

Tenor:

Es wird angeordnet, dass das Kind G bis zum 31. Dezember 2006 in der Familienpflege des Antragstellers verbleibt.

Die Gerichtskosten und die gerichtlichen Auslagen werden gegeneinander aufgehoben. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Beteiligte zu 3. und seine Ehefrau sind die Pflegeeltern des am 27.08.1992 geborenen, aus Afghanistan stammenden Kindes G, das am 19.09.1999 von dem Beteiligten zu 2. -einer Hilfsorganisation zur ärztlichen Betreuung von Kindern in Kriegs- und Krisengebieten- zur medizinischen Versorgung und Behandlung einer schweren und in ihren Auswirkungen lebensbedrohenden Beinverletzung (chronische Tibia-Osteomyelitis = Knochenentzündung des rechten Schienbeins) nach Deutschland geholt und hier in ein Krankenhaus in T/Thüringen verbracht wurde, in dem die Ehefrau des Beteiligten zu 3. zum damaligen Zeitpunkt als Krankenschwester tätig war.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Hamm vom 28.09.1999 (33 F 263/99) wurde gemäß § 1674 BGB das Ruhen der elterlichen Sorge festgestellt und die Beteiligte zu 1. im Rahmen einer Vereinsvormundschaft zum Vormund für G bestellt. Diese lebt nach Vortrag des Beteiligten zu 3. seit dem 21.01.2000 in seiner Familie und besucht mittlerweile die 5. Klasse einer örtlichen Regelschule.

Der Beteiligte zu 3. hat im vorliegenden Verfahren vor dem Hintergrund einer seinerzeit anstehenden ärztlichen Untersuchung in C -zunächst im Wege einstweiliger Anordnung- den Erlass einer Verbleibensanordnung nach § 1632 IV BGB beantragt und zur Begründung darauf verwiesen, es bestehe die Befürchtung, dass G von dem Beteiligten zu 2. ohne sachliche Notwendigkeit oder Rechtfertigung aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen werden solle, obwohl die Behandlung des Kindes noch nicht abgeschlossen sei. Es sei zudem nicht auszuschließen, dass eine Rückführung des Kindes nach Afghanistan geplant sei, was wegen des noch nicht abgeschlossenen Heilungsprozesses einerseits sowie der dortigen hygienischen Verhältnisse andererseits für das Kind den sicheren Tod bedeuten würde. Hinzu komme, dass das Kind durch das in Afghanistan Erlebte weiterhin traumatisiert sei.

Der Beteiligte zu 2. ist dem Antrag entgegen getreten. Er hat auf die seines Erachtens schon aus grundsätzlichen Erwägungen gebotenen Notwendigkeit einer Rückführung in seiner Obhut behandelter Kinder nach Abschluss der Heilbehandlung verwiesen und weiter vorgetragen, derzeit stehe eine Rückführung G allerdings überhaupt noch nicht in Rede, vielmehr sei -so der Stand im Jahr 2002- vorläufig nur die Vorstellung des Kindes zum Zwecke eine ärztlichen Untersuchung in einer C Spezialklinik beabsichtigt.

Das Amtsgericht Sonneberg/Thüringen hat durch Beschluss vom 10.04.2002 ohne vorherige Anhörung der Beteiligten die beantragte einstweilige Anordnung erlassen und das Verfahren anschließend an das Amtsgericht Hamm abgegeben.

Das Amtsgericht Hamm hat nach Anhörung der Beteiligten sowie Vernehmung des Zeugen Dr. med. L (vgl. Protokoll vom 21.06.2002, Bl. 68 f GA) den Beschluss vom 10.04.2002 mit Beschluss vom 05.07.2002 wegen fehlender Eilbedürftigkeit aufgehoben und sodann nach im Wege der Amtshilfe durch das Amtsgericht Sonneberg erfolgter Anhörung des Kindes durch den angefochtenen Beschluss vom 10.10.2002 den Antrag auf Erlass einer Verbleibensanordnung auch in der Hauptsache zurückgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, eine Gefährdung des Kindeswohls bei Herausnahme G aus der Familie des Beteiligten zu 3. zum Zwecke ihrer Rückführung nach Afghanistan sei nicht erkennbar.

Hiergegen wendet sich der Beteiligte zu 3. mit seiner sofortigen Beschwerde, mit der er seinen Antrag auf Erlass einer Verbleibensanordnung unter weitgehender Wiederholung und Vertiefung seines bisherigen Vortrags weiterverfolgt. Er rügt die fehlende Einholung eines Sachverständigengutachtens und führt ergänzend aus, nachdem die für April 2002 geplante Untersuchung des Kindes in C nicht zustande gekommen sei, sei derzeit völlig offen, ob neben persönlichen nicht auch gesundheitliche Gründe für einen weiteren Verbleib des Kindes in Deutschland sprächen.

Der Beteiligte zu 2. verteidigt dagegen den angefochtenen Beschluss. Er verweist darauf, dass die beabsichtigte Untersuchung in C inzwischen erfolgt sei, aber noch abgeklärt werden müsse, ob die Notwendigkeit einer weitere Behandlung des Kindes in Deutschland bestehe. Sollte dies der Fall sein, sei ein Verbleib des Kindes in Deutschland bis zum Abschluss der Behandlung nicht in Frage gestellt. Daneben verweist der Beteiligte zu 2. nochmals darauf, dass eine Rückführung G nach Abschluss ihrer Behandlung nicht zuletzt zur Sicherstellung seiner -des Beteiligten zu 2.- künftigen Tätigkeit zwingend erforderlich sei, da andernfalls das Vertrauen der leiblichen Eltern in die ihnen gegebene Zusage einer Rückgabe der allein zur Behandlung anvertrauten Kinder unwiederbringlich Schaden nehmen würde, zudem aber auch gegenüber dem auswärtigen Amt eine bindende Verpflichtung zur Rückführung erfolgreich behandelter Kinder in ihr Heimatland eingegangen worden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den Berichterstattervermerk zum Senatstermin vom 19.12.2003 verwiesen. Der Senat hat ein schriftliches Gutachten der Sachverständigen Dipl.-Psych. L vom 07.07.2003 (Bl. 131 ff GA) eingeholt, auf das wegen weiterer Einzelheiten Bezug genommen wird.

II.

Die nach §§ 621 e I, III, 621 I Nr. 3 ZPO zulässige Beschwerde des Beteiligten zu 3. ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sowie den überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen Dipl.-Psych. L in ihrem Gutachten vom 07.07.2003 auch in der Sache begründet. Sie führt in entsprechender Anwendung des § 1632 IV BGB zur -vorerst auf den 31.12.2006 befristeten- Anordnung eines weiteren Verbleibs G in der faktischen Familienpflege des Beteiligten zu 3.

1.

Sachliche Voraussetzung für den Erlass einer Verbleibensanordnung gemäß § 1632 IV BGB ist nach dem Wortlaut der Bestimmung, dass das Kind seit längerer Zeit in einer Familienpflege untergebracht ist und durch eine beabsichtigte Herausnahme des Kindes aus dieser Familienpflege das Kindeswohl i.S.d. § 1666 I BGB gefährdet würde. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sich das Verlangen des Sorgeberechtigten als mißbräuchliche Ausübung des Sorgerechts darstellt, durch die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet wird (BayObLG, FamRZ 1995, 626 ff, 627; OLG Düsseldorf, FamRZ 1994, 1541; BayObLG NJW 1988, 2381).

2.

Die vorgenannten Voraussetzungen einer Verbleibensanordnung sind im hier zu entscheidenden Fall gegeben.

a)

Die mit zumindest konkludenter Billigung der sorgeberechtigten Beteiligten zu 1. erfolgte dauerhafte Unterbringung G in der Familie des Beteiligten zu 3. ist nach Einschätzung des Senats einer Familienpflege i.S.d. § 1632 IV BGB nach der Zielsetzung der Bestimmung gleichzusetzen.

b)

Eine Kindeswohlgefährdung i.S.d. § 1666 I BGB kommt dagegen nach anerkannter und vom Senat geteilter Auffassung bei beabsichtigter Herausnahme eines seit längerer Zeit in Familienpflege lebenden Kindes u.a. dann in Betracht, wenn der Sorgeberechtigte das Kind -wie hier- zunächst zumindest de facto anderen zur Pflege anvertraut, sich ein solches über Jahre bestehendes Pflegeverhältnis zu einer einem Eltern-Kind-Verhältnis entsprechenden Beziehung entwickelt und der Sorgeberechtigte dann versucht, das Kind zur Unzeit unvermittelt aus dem Pflegeverhältnis und der gewohnten Umgebung herausnehmen, um es in die dem Kind entfremdete eigenen Familie zurückzuführen, da eine Herausnahme aus den gewachsenen Beziehungen und Bindungen im Normalfall eine erhebliche psychische Belastung für das Kind mit sich bringt (BayObLG FamRZ 1995, 627 unter Hinweis auf BayObLG FamRZ 1984, 817 f.; FamRZ 1987, 619 ff; vgl. hierzu auch BVerfG, FamRZ 1995, 24 ff). Eine derartige Konstellation ist hier nach Einschätzung des Senats gegeben.

Nach dem fundiert begründeten und in seinen Aussagen überzeugenden Gutachten der Sachverständigen Dipl.-Psych. L, deren fachliche Qualifikation dem Senat aus einer Vielzahl in seinem Auftrag erstellter kinder- und familienpsychologischer Gutachten hinreichend bekannt ist und auch von den Beteiligten nicht in Frage gestellt wird, ist davon auszugehen, dass eine Herausnahme G aus der Familie des Beteiligten zu 3. in der Absicht ihrer Rückführung in die Herkunftsfamilie das Kind auf absehbare Zeit in eine psychologische Belastungssituation bringen würde, die es völlig überfordern und der ernsthaften Gefahr weitreichender psychischer Schäden aussetzen würde.

Wie die Sachverständigen im Rahmen ihrer psychologischen Beurteilung (Bl. 176 ff GA = S. 46 ff des Gutachtens) ebenso nachvollziehbar wie überzeugend darlegt, "ruht" G vor dem Hintergrund einer gemeinsam erlebten und durchlittenen Extremsituation im Zuge ihrer langwierigen Krankenhausbehandlung mit vielfachen Operationen und schmerzhaften Behandlungen ihrer Beinverletzung in einer sicheren sozialen Beziehung zu dem Beteiligten zu 3. und (insbesondere) dessen Ehefrau, zu deren Familie sie sich inzwischen zählt. Gerade diese Beziehung hat dem Kind in der Vergangenheit den nötigen Rückhalt und die Unterstützung gegeben, um sich mit den veränderten Lebensbedingungen in Deutschland zurecht zu finden und sich zu der stark bindungsorientierten, gefühlsoffenen und flexiblen Persönlichkeit zu entwickeln, als die sie sich heute präsentiert. Die Sachverständige spricht hier (Bl. 179 GA = S. 49 des Gutachtens) nachvollziehbar von einem ersten "Kulturschock", den das Kind in der Zeit unmittelbar nach seiner Einreise nach Deutschland erlitten hat und der zur Folge hatte, dass es seine frühere -afghanische- Identität mitsamt den damit verbundenen persönlichen Bezüge aufgegeben und sich statt dessen den deutschen Verhältnissen vollkommen angepasst -nach Einschätzung der Sachverständigen in Teilen sogar überangepasst- hat und in ihnen fest verwurzelt ist. Sinnbildlich hierfür steht u.a. das rasche "Vergessen" der afghanischen Sprache oder wesentlicher Aspekte der alltäglichen Lebensumstände im Herkunftsland.

War die Umstellung von den afghanischen auf die deutschen Lebensverhältnisse ein erster Kulturschock, so würde die beabsichtigte Rückführung G nach Afghanistan in ihre Herkunftsfamilie -so die Sachverständige Dipl.-Psych. L weiter- zu einem zweiten, für das Kind ungleich belastenderen und in seinen Auswirkungen derzeit kaum abzuschätzenden Kulturschock führen (Bl. 179 f GA = S. 49 f des Gutachtens). Dabei wird man -zumal angesichts der zuletzt vorgelegten ärztlichen Befundberichte (Arztberichte des Dr. med. T vom 19.09.2003 und 22.09.2003, Bl. 223/225 f GA)- von einem guten Verlauf des bisherigen Heilungsprozesses sprechen können und hinsichtlich der von der Sachverständigen geäußerten Bedenken gegen die hygienischen und medizinischen Verhältnisse im Herkunftsland mangels gegenteiliger Anhaltspunkte unterstellen müssen, dass die leiblichen Eltern sowohl willens als auch in der Lage sind bzw. sein werden, sämtliche für die Gesundheit ihres Kindes notwendigen Schritte zu unternehmen. Auch die Überlegungen der Sachverständigen zu den voraussichtlich eher mäßigen wenn nicht gar ausgesprochen schlechten Zukunftsperspektiven G in ihrem Herkunftsland erscheinen vordergründig wenig entscheidungsrelevant, zumal sich insoweit einwenden lässt, dass diese ähnlich schlecht -wenn nicht noch schlechter- gewesen wären, wenn G nicht nach Deutschland geholt und hier behandelt worden wäre, sie im übrigen aber auch in diesem Punkt allein das Schicksal aller Menschen teilt, die in Ländern mit einem niedrigeren Lebensstandard als dem in der Bundesrepublik leben.

Eine allein auf die genannten Umstände beschränkte Beurteilung würde indes in den Augen des Senats zu Unrecht daran vorbei gehen, dass die von der Sachverständigen Dipl.-Psych. L angesprochenen gesellschaftlichen Verhältnisse im Herkunftsland und die erkennbare Perspektivenarmut G bei einer Rückkehr dorthin eine zu dem Verlust ihrer inzwischen gewachsenen Beziehung zu den Pflegeeltern hinzu kommende, zusätzliche Belastung darstellt, die eine weitere Traumatisierung des Kindes bewirken würde (Bl. 190 f GA = S. 60 f des Gutachtens). Gerade der Umstand, dass G im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan gezwungen wäre, sich gegen ihren erklärten -anlässlich der persönlichen Anhörung vor dem Senat nochmals bekräftigen- Willen auf die dortigen Verhältnisse einzulassen und gezwungenermaßen von allen in Deutschland entwickelten Plänen für die eigene Zukunft -in familiärer wie auch in schulischer und beruflicher Hinsicht- Abschied zu nehmen, birgt aus psychologischer Sicht unkalkulierbare Risiken. Die Sachverständige sieht insoweit eine Spanne von möglichen Depressionen bis hin zu autoaggressiven Durchbrüchen unter Einschluss möglicher Suizidversuche.

c)

Unter den dargelegten Umständen fehlt nach dem Gutachten der Sachverständigen Dipl.-Psych. L jedenfalls zur Zeit jede Basis für eine Rückführung G nach Afghanistan, eine grundlegende Änderung ist dabei auch in naher Zukunft nicht zu erwarten (Bl. 192 f GA = 62 f des Gutachtens). Zur Abwehr einer andernfalls drohenden Gefährdung des Kindeswohls war daher dem Antrag des Beteiligten zu 3. zu entsprechen und -vorläufig befristet bis zum 31.12.2006- der Verbleib G in der (faktischen) Familienpflege des Beteiligten zu 3. anzuordnen.

Der Senat verkennt dabei nicht, dass den leiblichen Eltern G hierdurch ein außergewöhnliches Opfer abverlangt wird, das allein durch die ihnen verbleibende Hoffnung eines im Verlauf ihres Heranwachsens wiedererwachenden Interesses G an ihrem Herkunftsland und ihrer Ursprungsfamilie nur unzureichend gemildert werden kann. Auch unter Einbeziehung dieses Aspektes war indes angesichts der gegebenen Sachlage im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung für diesen besonderen Einzelfall den schutzwürdigen Kindesbelangen der Vorrang gegenüber den Elternrechten einzuräumen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 13 I FGG, die Wertfestsetzung auf §§ 131 II, 30 II KostO.

Ende der Entscheidung

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