Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 08.05.2000
Aktenzeichen: 13 U 197/99
Rechtsgebiete: ZPO, BGB, PflVG


Vorschriften:

ZPO § 287
ZPO § 286
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 546 Abs. 2
BGB § 823
BGB § 847
PflVG § 3 Nr. 1
Leitsatz:

Zur Kausalität eines Unfalls (§ 287 ZPO) für eine Tinnitus-Erkrankung.


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

13 U 197/99 OLG Hamm 6 O 614/98 LG Bochum

Verkündet am 08. Mai 2000

Justizobersekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts

In dem Rechtsstreit

hat der 13. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 08. Mai 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Brück, den Richter am Oberlandesgericht Pauge und den Richter am Landgericht Lopez Ramos

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das am 23. August 1999 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Bochum wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Es beschwert den Kläger in Höhe von 29.904,-- DM.

Tatbestand:

Der Kläger nimmt die Beklagten auf Schadensersatz, Schmerzensgeld und Feststellung aus einem Unfallereignis, das sich am 1994 an der Ecke W H /L in B ereignete, in Anspruch.

Der Kläger befuhr mit seinem Pkw Opel Kadett den bevorrechtigten W H. Die Beklagte zu 1) bog unter Missachtung des Vorfahrrechts des Klägers mit ihrem Pkw VW Golf, der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, aus der untergeordneten auf den W H.

Es kam zur Kollision zwischen den Fahrzeugen. Der Kläger erlitt beim Unfall unstreitig ein Schleudertrauma mit Schädel- und Schulterprellung.

Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist unstreitig. Vorprozessual regulierte die Beklagte zu 2) die am Fahrzeug des Klägers entstandenen Sachschäden einschließlich der Gutachterkosten. Des weiteren zahlte sie an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 500,00 DM.

Die Parteien streiten nunmehr nur noch über die Einstandspflicht der Beklagten für ein Tinnitusleiden des Klägers. Unstreitig leidet Kläger seit 1978 unter einem leichten tonalen Tinnitus. Im Jahre 1988 begab er sich deshalb in ärztliche Behandlung. Bereits im Jahre 1993 wurde eine Infusionstherapie durchgeführt. Am 11.11.1994 begab sich der Kläger wegen eines verstärkten Ohrengeräusches im linken Ohr in fachärztliche Behandlung zum HNO-Arzt Dr. M. Dieser diagnostizierte einen pulssynchronen Tinnitus bei asymmetrischer Innenohrschwerhörigkeit mit Linksbetonung. Ferner stellte er Blutspuren im Bereich des linken Gehörgangdaches fest.

Seit November 1994 trägt der Kläger ein Hörgerät mit Masker. Infolge der Verstärkung des Tinnitusleidens verschlechterte sich die psychische Verfassung des Klägers. Es zeigte sich eine Affektlabilität sowie eine psychomotorische Unruhe. Der Kläger begab sich in neurologische Behandlung. Wegen der verstärkten Ohrgeräusche begab er sich zudem in psychotherapeutische Behandlung. In der Zeit vom 29.08.1995 bis zum 08.09.1995 wurde der Kläger mittels einer Infusionstherapie mit Trental und Novocain in der HNO-Klinik des Hospitals in B behandelt.

Im Jahre 1996 versuchte der Kläger seine Leiden durch eine Akupunkturbehandlung zu beheben. Sämtliche Behandlungsmaßnahmen blieben jedoch erfolglos. Anfang März 1997 erlitt der Kläger einen Hörsturz im linken Ohr. In der Zeit vom 23.05.1997 bis zum 31.07.1997 hielt sich der Kläger zur stationären Behandlung seines Ohrenleidens in der Spezialklinik auf.

Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger neben einem Schmerzensgeld (Vorstellung: mindestens 12.000,-- DM) und der Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz aller (zukünftigen) materiellen und immateriellen Schäden den Ersatz des ihm durch das Tinnitusleiden angeblich entstandenen materiellen Schadens in Höhe von insgesamt 12.904,00 DM (im wesentlichen Heilbehandlungskosten i.w.S., vgl. Aufstellung Bl. 35 d. A.). Die Einzelheiten bzgl. des materiellen Schadens sind zwischen den Parteien streitig.

Der Kläger hat behauptet, er sei beim Unfall mit dem Kopf und der linken Schulter gegen den Fahrertürholm und den Karosserierahmen geprallt. Das Unfallereignis sei ursächlich für die erhebliche Verschlechterung seines Tinnitusleidens. Die erhebliche unfallbedingte Verschlechterung sei darin zu sehen, daß sich der Tinnitus seit dem Unfall als pulssynchron und nicht mehr nur als tonal darstelle.

Die Beklagten haben behauptet, zwischen dem Unfall und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers bestünde kein Kausalzusammenhang. Die Hörprobleme hätten bereits vor dem Unfall bestanden und sich auch ohne den Unfall verschlechtert. Der Kläger sei auch bereits vor dem Unfallereignis an einem psychischen Erschöpfungssyndrom erkrankt gewesen. Auch insoweit fehle es an einer Ursächlichkeit.

Der Kläger hat unter dem 21.08.1996 im selbständigen Beweisverfahren die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt. Der Sachverständige Dr. W hat unter dem 13.12.1996 das Gutachten erstattet (AG Bochum H ).

Das Landgericht hat nach beweismäßiger Verwertung dieses Gutachtens und ergänzender Anhörung des Sachverständigen Dr. W die Klage abgewiesen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei ein Kausalzusammenhang zwischen Unfall und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers nicht festzustellen.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er seine Ansprüche in voller Höhe weiter verfolgt. Er rügt insb., dass das Landgericht dem Sachverständigen das gemäß § 287 ZPO anzuwendende Beweismaß nicht mitgeteilt habe. Ohne den Unfall würde der Kläger mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht an den gesundheitlichen (körperlichen und psychischen) Beschwerden leiden. Der Sachverständige Dr. W habe entscheidende Gesichtspunkte (Blutspuren, pulssynchroner Tinnitus, Verschlechterung des Audiogramms nach dem Unfall vor allem links) nicht berücksichtigt.

Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil. Der Kläger habe bereits vor dem Unfall an einer schweren Tinnituserkrankung gelitten. Die erst ein Jahr nach dem Unfall festgestellte Progredienz sei unfallunabhängig zu erwarten gewesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat den Kläger persönlich angehört und Beweis erhoben durch mündliche Erläuterung des schriftlichen Gutachtens durch den Sachverständigen Dr. W. Wegen des Ergebnisses der Parteianhörung und der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Berichterstattervermerks Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.

Dem Kläger steht aufgrund des Unfalles vom 28.10.1994 kein über den vorprozessual gezahlten Betrag in Höhe von 500,00 DM hinausgehender Schmerzensgeldanspruch gemäß §§ 823, 847 BGB, § 3 Nr. 1 PflVG gegen die Beklagten zu (I.). Gleiches gilt, soweit der Kläger Ersatz für materielle Schäden verlangt. Auch der Antrag des Klägers auf Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für seine künftigen materiellen und immateriellen Unfallschäden ist unbegründet (II.).

I.

Nach dem Ergebnis der ergänzend vor dem Senat durchgeführten Beweisaufnahme hat der Kläger durch den Unfall "nur" ein folgenlos ausgeheiltes leichtes Schleudertrauma mit Schulter- und Schädelprellung erlitten.

Dagegen hat der Kläger nicht bewiesen, dass die Verschlechterung des bestehenden Tinnitus und die damit im Zusammenhang stehenden Beschwerden und Beeinträchtigungen (physischer und psychischer Art) auf den Unfall und seine Folgen zurückzuführen sind. Die Ausführungen des Landgerichts erweisen sich als zutreffend. Das Landgericht hat den anzuwendenden Beweismaßstab nicht verkannt.

1.)

Vorliegend streiten die Parteien im wesentlichen um den Kausalzusammenhang zwischen dem Haftungsgrund und das Ausmaß des eingetretenen "Schadens", denn unstreitig erlitt der Kläger durch den Unfall eine Primärverletzung. Demnach ist streitig allein die haftungsausfüllende Kausalität. Bei der Feststellung dieses Merkmales kommt dem Geschädigten die Beweiserleichterung des § 287 ZPO zu Gute; eine Beweisführung gemäß § 286 ZPO ist nicht erforderlich. Daraus folgt, daß eine höhere oder deutlich höhere (überwiegende) Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung genügt (OLGR Hamm 1994, 481).

Eine Haftung des Schädigers selbst für eine psychische Fehlverarbeitung als Folgewirkung des Unfallgeschehens ist anzunehmen, wenn eine hinreichende Gewissheit besteht, daß diese Folge ohne den Unfall nicht eingetreten wäre (BGH NJW-RR 1998, 810 m.w.N.). Eine Zurechnung der Schäden ist sogar dann zu bejahen, wenn der Verletzte infolge körperlich oder seelischer Anomalien oder Dispositionen besonders anfällig ist. Insoweit hat der Schädiger keinen Anspruch darauf, so gestellt zu werden, als habe er einen bis dahin Gesunden verletzt (BGH NJW 1996, 2425; BGH NJW 1997, 1640).

Befand sich der Geschädigte allerdings vor dem Unfall bereits wegen spezifischer Beschwerden in ärztlicher Behandlung, ist davon auszugehen, daß die gesundheitliche Entwicklung nur vorübergehend durch die Unfallfolgen überlagert war (so für den Bereich der HWS-Fälle OLGR Hamm 1999, 119).

War demgegenüber der vorherige Zustand beschwerdefrei (klinisch stumm, latent, symptomlos), so sind alle bewiesenen Beeinträchtigungen auf den Unfall zurückzuführen (so Dannert, NZV 2000, 9 ff, ebenfalls für den Bereich der HWS-Falle).

2.)

Unter Anwendung dieses Beweismaßstabes hält der Senat es für unwahrscheinlich, daß die vom Kläger behaupteten Beschwerden, die in der Verschlechterung des Tinnitusleidens ihre Ursache haben, auf den Unfall vom 1994 zurückzuführen sind.

Vielmehr ist nach dem Ergebnis des schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dr. W vom 13.12.1996, seiner mündlichen Erläuterung und Ergänzung im Senatstermin sowie unter Berücksichtigung der von dem Kläger überreichten Arztberichte davon auszugehen, daß die jetzigen, beim Kläger bestehenden Beschwerden ihre Ursache ausschließlich in der unstreitig bereits vor dem Unfall bestehenden Tinnituserkrankung haben. Der Unfall und seine Folgen haben die gesundheitliche Entwicklung des Klägers nur vorübergehend überlagert. Auch ohne den Unfall würde der Kläger zum heutigen Zeitpunkt über diese Beschwerden klagen.

a)

Nach den überzeugenden und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. W denen der Senat folgt, leidet der Kläger seit dem Jahre 1978 an einem tonalen Tinnitus, der sich ständig verschlimmert hat. Bereits vor dem Unfall hatten Sich Zustand und Charakter des Tinnitus negativ verändert. Im Jahre 1993, mithin vor dem Unfallereignis am 1994, ist der Kläger wegen der Tinnitusbeschwerden mittels einer Infusionstherapie behandelt worden. Diese Behandlungsmethode - so der Sachverständige - wird, da der Eintritt von schwerwiegenden Komplikationen nicht ausgeschlossen werden kann, nur bei schwersten Tinnituserkrankungen angewandt. Der Sachverständige Dr. W hat zu den möglichen Ursachen einer Tinnituserkrankung ausgeführt, dass ein bei einem Unfall erlittenes schweres Trauma (einhergehend mit einer HWS-Verletzung) durchaus geeignet sei, eine solche Verletzung auszulösen und/oder zu verschlimmern. Eine Tinnituserkrankung könne aber auch durch schwere und andauernde Lärmbelästigungen am Arbeitsplatz, denen auch der Kläger bei der Fa. ausgesetzt gewesen ist, generiert werden. Das von dem Kläger beim Unfall erlittenen Trauma sei nicht schwerwiegend gewesen. Es sei keine Innenohrschädigung festgehalten. Auch habe er keinen Anhaltspunkt für Gleichgewichtsstörungen, die mit einem schweren Trauma einhergehen müssten, gefunden. Ein Vergleich zwischen den vor und nach dem Unfall angefertigten Tonschwellenaudiogrammen zeige keine wesentlichen Abweichungen. Nach dem Unfall sei auch keine akute Verschlechterung des Hörvermögens des Klägers festzustellen gewesen. Diese sei erst rund ein Jahr später eingetreten und stehe daher nicht in einem kausalen Zusammenhang mit dem Unfall.

b)

Aufgrund seiner Feststellungen hält der Sachverständige D. W es für nahezu ausgeschlossen, dass die nach dem Unfall eingetretene und bis jetzt fortwirkende Verschlimmerung des Tinnitusleidens des Klägers auf den Unfall zurückzuführen ist. Der Sachverständige - und ihm folgend der Senat - geht vielmehr davon aus, dass der nach dem Unfall eingetretene Krankheitsverlauf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sich auch ohne den Unfall genauso entwickelt hätte. Der Senat hält die Ausführungen des Sachverständigen im Hinblick auf die Erheblichkeit des vor dem Unfall (unstreitig) bestehenden Krankheitsbildes und die geringe Intensität des bei dem Unfall erlittenen Traumas ohne weiteres für nachvollziehbar.

c)

Aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen steht zur Überzeugung des Senats auch fest, dass eine psychisch vermittelte Kausalität nicht in Frage kommt. Die Frage der psychisch vermittelten Kausalität kann nicht losgelöst von den körperlichen Beschwerden betrachtet werden. Zwar geht ein schweres Tinnitusleiden oft mit (erheblichen) Problemen auf psychischer Ebene einher. Der Tinnitus kann dann zu psychischen Ausfällen (Depressionen etc.) führen. Sind der Tinnitus bzw. die eingetretene Verschlimmerung desselben jedoch - wie oben dargelegt - unfallunabhängig, sind es auch die vom Kläger geäußerten psychischen Beschwerden.

Überdies steht nach der Einschätzung des Sachverständigen Dr. W der HNO-Bereich bei den Ursachen der psychischen Beschwerden nicht im Vordergrund. Danach sind die Depressionen, an denen der Kläger u.a. leidet, auf die Persönlichkeitsstruktur des Klägers zurückzuführen.

3.)

Im Ergebnis ist damit keine weitergehende Unfallfolge als ein leichtes Schleudertrauma mit Schädel- und Schulterprellung festzustellen. Für eine solche Verletzung kommt im vorliegenden Fall ein höheres Schmerzensgeld als die bereits vorprozessual gezahlten 500,00 DM nicht in Betracht. Der Kläger trägt zu den konkreten Umständen des Krankheitsverlaufes (Arbeitsunfähigkeit, Behandlungen etc.) keine Einzelheiten vor. Der Senat geht daher davon aus, dass die eingetretenen Beschwerden unmittelbar nach dem Unfall wieder vergingen und damit nicht zu einer spürbaren Beeinträchtigung der Lebensqualität des Klägers führten.

II.

Aufgrund fehlender Kausalität zwischen Unfallereignis und bestehendem Krankheitsbild konnten auch die Anträge des Klägers auf Ersatz materieller Schäden sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für zukünftige materielle und immaterielle Schäden keinen Erfolg haben.

III.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 546 Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

Zurück