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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 27.09.2000
Aktenzeichen: 13 U 80/00
Rechtsgebiete: StVG, BGB, PflVersG, ZPO


Vorschriften:

StVG § 7 Abs. 1
StVG § 17
StVG § 1-8
BGB § 823
BGB § 847
BGB § 421
PflVersG § 3
StVO § 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 1
ZPO § 91 Abs. 1
ZPO § 92 Abs. 1
ZPO § 708 Ziff. 10
Leitsatz:

Zur Haftungsverteilung, wenn ein PKW schon vor Beginn der Linksabbiegerspur unter Überfahren der durchgezogenen Mittellinie an einer Fahrzeugschlange vorbeifährt und dann mit dem von rechts aus untergeordneter Straße kommenden Querverkehr kollidiert, der durch eine Lücke nach links abbiegen will.

Hier: 1/3 Haftung des Vorfahrtsberechtigten


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

13 U 80/00 OLG Hamm 6 O 493/99 LG Bielefeld

Verkündet am 27. September 2000

Justizobersekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts

In dem Rechtsstreit

hat der 13. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 27. September 2000 durch die Richter am Oberlandesgericht Zumdick und Pauge und die Richterin am Landgericht Kirchhoff

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers und die Berufung der Beklagten gegen das am 22. Februar 2000 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld werden zurückgewiesen.

Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger 1/3 und die Beklagten 2/3.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Es beschwert den Kläger in Höhe von 5.310,38 DM und die Beklagten in Höhe von 11.120,75 DM.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Schadensersatz und ein Schmerzensgeld aus einem Verkehrsunfall, der sich am Juni 1999 in S ereignete. Der Kläger befuhr gegen 9.00 Uhr mit seinem Pkw Ford Escort die H Straße (Bundesstraße 68) aus Richtung B kommend in Richtung H. Er wollte an der Kreuzung B Straße nach links in Richtung S abbiegen.

Die Kreuzung befindet sich außerhalb geschlossener Ortschaft.

Die zulässige Höchstgeschwindigkeit ist auf 70 km/h begrenzt.

Der Verkehr wird durch eine Lichtzeichenanlage geregelt. Für Linksabbieger aus Fahrtrichtung B steht eine Linksabbiegerspur zur Verfügung. Auf der Geradeausspur hatte sich der Verkehr vor der Lichtzeichenanlage gestaut. Der Kläger fuhr an den dort wartenden Fahrzeugen links vorbei und kollidierte auf der Linksabbiegerspur mit dem von dem Beklagten zu 1) geführten, bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversicherten Taxi Mercedes-Benz, dessen Halterin die Beklagte zu 2) ist. Das Taxi kam aus der Straße "Q". Diese Straße mündet aus der Sicht des Klägers 100 m vor der genannten Kreuzung von rechts in die vorfahrtberechtigte H Straße ein. Der Beklagte zu 1) wollte nach links in Richtung B einbiegen und benutzte dazu eine Lücke zwischen den auf der Geradeausspur wartenden Fahrzeugen.

Der Kläger erlitt bei dem Unfall eine Verstauchung der Hals- und Brustwirbelsäule und war bis zum 9. Juli 1999 arbeitsunfähig. Er hat ein angemessenes Schmerzensgeld verlangt (Vorstellung: 1.500 DM). Der Pkw des Klägers wurde beschädigt. Der Sachschaden beträgt 15.931,13 DM.

Der Kläger behauptet, er habe zunächst gehalten. Als sich die Fahrzeugschlange bei Grün in Bewegung gesetzt habe; sei er angefahren. Er habe sich auf der Linksabbiegerspur eingeordnet und sei mit mäßiger Geschwindigkeit gefahren. Das Taxi habe er vor dem Unfall nicht gesehen. Die Endlage der Fahrzeuge sei durch die bei den Bußgeldakten befindlichen Fotos dokumentiert. Daraus ergebe sich, daß der Beklagte zu 1) zügig in die bevorrechtigte Haller Straße hineingefahren sei.

Die Beklagten behaupten, der Beklagte zu 1) habe sich langsam und vorsichtig in die B 6 hineingetastet. Als er etwa 50 cm hinter dem auf der Geradeausspur haltenden, von dem Zeugen F geführten Lkw hervorgekommen sei, sei der Kläger mit hoher Geschwindigkeit (mindestens 60 km/h) herangekommen. Er habe sich nicht auf der Linksabbiegerspur befunden, sondern vielmehr die vor dem Beginn der Linksabbiegerspur befindliche durchgezogene Linie überfahren. Die Linksabbiegerspur sei in Höhe der Unfallstelle nur 1,4 m breit.

Das Landgericht hat die Bußgeldakten beigezogen und - ohne Beweisaufnahme - der Klage in Höhe von insgesamt 11.120,75 DM (2/3 des materiellen Schadens und 500 DM Schmerzensgeld) - jeweils nebst 4 % Zinsen - stattgegeben. Dagegen haben beide Parteien Berufung eingelegt. Der Kläger begehrt (nur) Ersatz seines weiteren materiellen Schadens von 5.310,38 DM. Die Beklagten erstreben die vollständige Klageabweisung, mindestens jedoch eine Reduzierung des Schmerzensgeldes, weil das Landgericht insoweit die Haftungsquote unberücksichtigt gelassen habe.

Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Die Akten StA B lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Der Senat hat den Kläger und den Beklagten zu 1) persönlich gehört und Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugen F und sowie durch Einholung eines mündlichen Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. G. Wegen des Ergebnisses der Parteianhörung und der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Berichterstattervermerks Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die beiderseitigen Rechtsmittel sind zulässig, in der Sache aber nicht begründet.

I.

Das angefochtene Urteil beruht auf einem schwerwiegenden Verfahrensfehler (§ 539 ZPO). Das Landgericht hat die beiderseitigen Beweisantritte zur Unfallörtlichkeit (Linksabbiegerspur oder teilweise auf der Gegenfahrbahn) und zur Fahrweise beider Fahrzeugführer übergangen. Dieser Verfahrensfehler nötigt ausnahmsweise nicht zu einer Aufhebung und Zurückverweisung. Der Senat ist in der Lage und erachtet es als sachdienlich, in der Sache selbst zu entscheiden (§ 540 ZPO).

II.

Die Klage ist in dem vom Landgericht zuerkannten Umfang begründet.

Der Kläger hat gegen die Beklagten gem. §§ 7 Abs. 1, 17, 1-8 StVG, 823, 847, 421 BGB, 3 PflVersG einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 10.620,75 DM und auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von 500,00 DM.

1.

Der Beklagte zu 1) hat gegen § 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StVO verstoßen und dadurch den Unfall verschuldet. Er hat die Vorfahrt des Klägers mißachtet. Für die Frage der Vorfahrt kommt es nicht darauf an, wo und wie schnell der Kläger gefahren ist. Es gilt der Grundsatz, daß verkehrswidriges Verhalten des Berechtigten dessen Vorfahrt nicht beseitigt (BGH VRS 22, 135; 30, 23; BGHSt 34, 127 = NJW 1986, 2651). Er verliert sie weder durch unerlaubtes Überholen (BGH VRS 11, 117) noch dadurch, daß er links von einer Fahrstreifenbegrenzung fährt (OLG Oldenburg, DAR 1964, 142).

2.

Die Fahrweise des Klägers führt zu einer Haftungsminderung. Bei der gem. § 17 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile ist zu berücksichtigen, daß das Verhalten des Klägers für den Unfall mitursächlich war.

a)

Entgegen der Behauptung der Beklagten hat der Kläger allerdings nicht die an der Unfallstelle erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h überschritten. Nach den Berechnungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. G lag die Kollisionsgeschwindigkeit des Ford Escort zwischen 37 und 40 km/h. Das war auch die Annäherungsgeschwindigkeit, denn der Kläger ist ungebremst mit dem Mercedes-Taxi kollidiert. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Angaben des Zeugen R, der bekundet hat, er sei mit seinem Pkw hinter dem Kläger gefahren; seine Geschwindigkeit habe vielleicht 40 bis 50 km/h betragen. Daß der voranfahrende Kläger deutlich schneller gefahren ist, kann demnach ausgeschlossen werden.

b)

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, daß der Kläger, als er an dem Lkw vorbeifuhr, die durchgezogene Mittellinie überfahren hat. Die Linksabbiegerspur beginnt etwa 30 m vor der Einmündung der Straße "Q". Sie ist an ihrem Beginn etwa 30 cm breit und erweitert sich allmählich. In Höhe der Einmündung ist sie 1,7 m breit. Da der vor der Einmündung haltende Lkw, an dem der Kläger vorbeifuhr, eine Länge von etwa 15 m hatte und sich zwischen dem Lkw und dem Fahrzeug des Klägers noch ein weiterer Pkw befand, muß der Kläger mindestens 20 bis 25 m vor der Einmündung nach links ausgeschert sein. An dieser Stelle ist die Linksabbiegerspur nur etwa 60 bis 70 cm breit. Da der Lkw nach den von dem Zeugen F bestätigten Angaben des Beklagten zu 1) mittig auf seiner Fahrspur stand, konnte der Kläger an ihm nur vorbeifahren, indem er teilweise die Gegenfahrbahn benutzte. Für ein - von dem Kläger selbst für möglich gehaltenes Überfahren der Mittellinie - spricht auch die Aussage des ihm nachfolgenden Zeugen R der eingeräumt hat, er habe die Mittellinie überfahren müssen, obwohl er sehr nahe an den anderen Fahrzeugen vorbeigefahren sei.

Das Überfahren der durchgezogenen Mittellinie hat zu dem Unfall beigetragen. Allerdings ist davon auszugehen, daß die Fahrbahnbegrenzung in Form einer durchgezogenen Linie (§ 41 Abs. 3 Nr. 3 StVO, Zeichen 295) hier nicht dem Schutz des Einbiegenden dient, sondern den Zweck hat, den für den Gegenverkehr bestimmten Teil der Fahrbahn zu begrenzen. Sie gebietet, daß nur rechts von ihr gefahren werden darf (vgl. Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl., § 41 StVO Rdn. 237). Die Fahrbahnbegrenzung schafft auch kein Überholverbot, ordnet aber an, daß nur dann überholt werden darf, wenn der Überholer die Begrenzung nicht berühren muß.

Das Überfahren der Mittellinie durch den Kläger war hier insbesondere deswegen gefährlich, weil sich in der Schlange der wartenden Fahrzeuge eine Lücke gebildet hatte, und zwar genau an der Stelle, an der die Fahrbahnbegrenzung auf einer Länge von etwa 7 m aus einer unterbrochenen Linie besteht (Zeichen 296). Diese Umstände waren Signale dafür, daß hier mit Querverkehr gerechnet werden mußte. Deswegen war bei einem Vorbeifahren an der Fahrzeugschlange besondere Vorsicht geboten. Diese hat der Kläger mißachtet, indem er nicht langsam und jederzeit bremsbereit, sondern mit einer Geschwindigkeit von mindestens 37 km/h an dem Lkw vorbeifuhr. Das war in der gegebenen Verkehrssituation zu schnell. Mit seiner gefährlichen Fahrweise hat der Kläger gegen die Grundregel des Straßenverkehrs verstoßen, wonach jeder Verkehrsteilnehmer sich so zu verhalten hat, daß kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird (§ 1 Abs. 1 StVO).

3.

Die gem. § 17 StVG vorzunehmende Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile führt zu einer Haftungsquote von 1/3 zu 2/3 zum Nachteil der Beklagten. Die Vorfahrtsverletzung durch den Beklagten zu 1) wiegt doppelt so schwer wie der Verstoß des Klägers gegen das Gebot ständiger Vorsicht und gegenseitiger Rücksicht. Dabei hat der Senat berücksichtigt, daß der Beklagte zu 1), obwohl er keine Sichtmöglichkeit hatte, recht zügig (mit etwa 15 km/h) durch die entstandene Lücke in die vorfahrtberechtigte Straße eingebogen ist. Daß er dazu von dem Zeugen E durch entsprechende Handzeichen ermutigt worden ist und deshalb darauf vertraut hat, daß ein Einbiegen gefahrlos möglich sei, kann ihn im Verhältnis zu dem vorfahrtberechtigten Kläger nicht entlasten.

4.

Die Höhe des Sachschadens beträgt (unstreitig) 15.931,13 DM. Davon haben die Beklagten 2/3 zu ersetzen, also 10.620,75 DM. Das vom Landgericht ausgeurteilte Schmerzensgeld von 500 DM ist angemessen (§ 847 BGB). Entgegen der Annahme der Beklagten hat das Landgericht die Mitverursachung des Klägers (§ 254 BGB) bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt.

III.

Der Zinsanspruch ist nicht im Streit.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 92 Abs. 1 ZPO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Ziff. 10 ZPO.

Ende der Entscheidung

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