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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 02.01.2007
Aktenzeichen: 15 W 22/06
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4
1) Es liegt in Rahmen rechtfehlerfreier tatsächlicher Würdigung, wenn das Landgericht die Prognoseentscheidung, es könne nicht festgestellt werden, dass die Abschiebung des Betroffenen innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten nicht durchgeführt werden könne, auf Einzelfälle gestützt hat, in denen die Beschaffung von Heimreisepapieren für Betroffene gleicher (hier indischer) Staatsangehörigkeit möglich war. Diese tatsächliche Überzeugung kann auf Statistiken gestützt werden, die eine zentrale Ausländerbehörde in ihrer Funktion als Clearingstelle für die Beschaffung von Heimreisepapieren und den Verkehr mit den konsularischen Behörden des betreffenden Staates ermittelt und zusammengestellt hat.

2) Für die Prognoseentscheidung nach § 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG bedarf es nicht der Erstellung einer Gesamtstatistik, in der die Zahl der Fälle, in denen sich die Behörde innerhalb des Zeitraumes von sechs Monaten erfolgreich um die Ausstellung von Heimreisepapieren bemüht hat, den erfolglosen Fällen gegenübergestellt wird.


Tenor:

Die sofortige weitere Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antrag auf die Anordnung der Erstattung außergerichtlicher Kosten wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Der Betroffene reiste erstmals Ende 1994 in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag. Nachdem er zu seiner Anhörung nicht erschienen war, wurde sein Antrag durch Bescheid vom 06.01.1995 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Nachdem er zum Zwecke der Abschiebungsvorbereitung im Juli 1998 der indischen Botschaft vorgeführt worden war und ein weiterer Vorführungstermin anstand, tauchte er unter. Nach seinen eigenen Angaben begab er sich nach Italien, wo er sich erfolglos um einen Pass bemüht haben will.

Am 26.08.2005 wurde der Betroffene von Polizeibeamten in D festgenommen. Das Amtsgericht Dortmund ordnete gegen den Betroffenen durch Beschluss vom 27.08.2005 Sicherungshaft für zunächst zwei Monate an.

Am 17.10.2005 beantragte der Beteiligte zu 2) bei dem nunmehr örtlich zuständigen Amtsgericht Paderborn die Verlängerung der Sicherungshaft um drei Monate. Zur Begründung führte er aus, dass eine Passersatzbeschaffung bislang gescheitert sei. Bei seiner erneuten Botschaftsvorführung am 23.09.2005 habe der Betroffene Angaben zu seinem Wohnort gemacht, die von den früheren Angaben abwichen, weshalb es nunmehr zu einer erneuten Überprüfung in Indien komme.

Das Amtsgericht Paderborn hörte den Betroffenen im Beisein eines Übersetzers am 26.10.2005 persönlich an. Durch Beschluss vom 27.10.2005 verlängerte das Amtsgericht die Sicherungshaft um drei Monate. Hiergegen erhob der Betroffene sofortige Beschwerde, mit der er im Wesentlichen geltend machte, seine Abschiebung werde auch in der verlängerten Haftzeit unmöglich sein, da die indischen Behörden innerhalb dieses Haftzeitraums kein Passersatzpapier ausstellen würden. Das Landgericht hat die sofortige Beschwerde unter Verwertung verschiedener Auskünfte der ZAB L durch Beschluss vom 13.12.2005 zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit der sofortigen weiteren Beschwerde.

II.

Die sofortige weitere Beschwerde ist nach den §§ 106 Abs. 2 S.1 AufenthG, 7 Abs. 1, 3 S. 2 FEVG, 27, 29 FGG statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt. Die Beschwerdebefugnis des Betroffenen ergibt sich bereits daraus, dass seine Erstbeschwerde ohne Erfolg geblieben ist.

Der Zulässigkeit des Rechtsmittels steht nicht entgegen, dass sich die Hauptsache mittlerweile durch Zeitablauf erledigt hat. Vielmehr ist im Hinblick auf den mit der Freiheitsentziehung verbundenen Eingriff in Grundrechtspositionen des Betroffenen sein Rechtsschutzinteresse mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Beschlusses des Landgerichts zu bejahen (BGH NJW 2002, 1801 unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG). Einen entsprechenden Antrag hat der Betroffene auch gestellt.

In der Sache ist die weitere Beschwerde unbegründet, da die Entscheidung des Landgerichts nicht auf einer Verletzung des Rechts beruht, § 27 FGG.

Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht den Haftgrund des § 62 Abs.2 S.1 Nr.5 AufenthG bejaht. Da die sofortige weitere Beschwerde hiergegen keine Einwendungen erhebt, verweist der Senat auf die rechtsfehlerfreien Ausführungen des Landgerichts in dem angefochtenen Beschluss.

Auch die Annahme des Landgerichts, dass § 62 Abs.2 S.4 AufenthG der Haftverlängerung nicht entgegenstehe, da der Betroffene die Verzögerung seiner Abschiebung zu vertreten habe und sich vorausschauend nicht feststellen lasse, dass die Abschiebung innerhalb des gesamten Haftzeitraums von hier fünf Monaten nicht möglich sein werde, erweist sich als frei von Rechtsfehlern.

Im Sinne des § 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG hat der Betroffene alle Umstände zu vertreten, die von ihm zurechenbar veranlasst sind und dazu geführt haben, dass ein Abschiebehindernis eingetreten ist. Nach der Rechtsprechung des BGH (NJW 1996, 2796, 2797) zu der gleichlautenden Vorgängerregelung in § 57 Abs. 2 S. 4 AuslG muss bei der Anwendung der Vorschrift deren Zweck Rechnung getragen werden, dass im Regelfall die Dauer von drei Monaten Haft nicht überschritten werden soll und eine Haftdauer von sechs Monaten nicht ohne weiteres als verhältnismäßig angesehen werden darf. Daraus muss die Schlussfolgerung gezogen werden, dass auch die Verlängerung einer Haftanordnung über drei Monate des insgesamt angeordneten Haftzeitraumes hinaus unzulässig ist, wenn die Abschiebung während der ersten drei Monate aus Gründen unterblieben ist, die von dem Ausländer nicht zu vertreten sind. Dementsprechend darf die Haft für einen Zeitraum von insgesamt sechs Monaten nur verlängert werden, wenn die Verzögerung der Abschiebung von dem Betroffenen im Sinne des § 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG zu vertreten ist. Es handelt sich um eine Frage der Zurechnung, die nicht generell-abstrakt beantwortet werden kann, sondern unter Würdigung der gesamten Umstände zu entscheiden ist (BGH NJW a.a.O.).

Für den vorliegenden Fall kann offen bleiben, ob - wie der Senat entschieden hat (FGPrax 1997, 77) - bereits der Umstand allein, dass der Betroffene sich ohne Nationalpass im Bundesgebiet aufgehalten hat, als Zurechnungsgrund in diesem Sinne ausreicht. Teilweise wird insoweit bezogen auf die Verhältnisse abgelehnter Asylbewerber die Auffassung vertreten, nur wenn festgestellt werden könne, dass der Betroffene seinen vorhandenen Nationalpass bei seiner Einreise schuldhaft (etwa an einen Schlepper) weggegeben habe, liege ein zurechenbares Verhalten vor (vgl. etwa OLG Düsseldorf, Beschl. v. 03.11.2003 - I-3 Wx 275/03 -; OLG Köln, Beschl. v. 13.10.2004 - 16 Wx 194/04 -). Auch nach dieser einschränkenden Auffassung hat der Betroffene die Verzögerung infolge der Notwendigkeit der Passersatzbeschaffung jedoch zu vertreten, da er, wie das Landgericht rechtsfehlerfrei festgestellt hat, eben dies nach seinen eigenen Angaben getan hat.

Das Vertretenmüssen im Sinne des § 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG erstreckt sich auf die Verzögerung der Abschiebung, die dadurch entsteht, dass die Behörden des Heimatstaates des Betroffenen um die Erteilung ein Passersatzpapiers ersucht werden müssen. In den dem Betroffenen zuzurechnenden und von ihm daher hinzunehmenden Zeitraum fällt deshalb in den Grenzen der gesetzlichen Vorschrift auch das Prüfungsverfahren, das die Heimatbehörden des Betroffenen bis zur positiven Bescheidung des Antrags auf Erteilung eines Passersatzpapiers für sich in Anspruch nehmen.

Auch der Umstand, dass das Landgericht seine Prognoseentscheidung, es stehe nicht vorausschauend fest, dass eine Abschiebung nicht innerhalb des verlängerten Haftzeitraums möglich sein werde, ohne weitere Ermittlungen auf die Auskünfte der ZAB L gestützt hat, hält der allein möglichen rechtlichen Prüfung stand. Im Verfahren der Rechtsbeschwerde ist die Tatsachenwürdigung des Beschwerdegerichts nur darauf nachprüfbar, ob der Tatrichter den maßgebenden Sachverhalt ausreichend ermittelt, sich mit allen wesentlichen Umständen auseinandergesetzt und hierbei nicht gegen gesetzliche Beweisregeln und Verfahrensvorschriften sowie gegen Denkgesetze, zwingende Erfahrungssätze oder den allgemeinen Sprachgebrauch verstoßen hat (Keidel/Meyer-Holz, FG, 15.Aufl. § 27 FGG Rdn.42).

Nicht zu beanstanden ist danach zunächst, dass das Landgericht davon abgesehen hat, sich, wie von dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen verlangt, eine Gesamtstatistik vorlegen zu lassen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. etwa Beschluss vom 11.09.2003 - 15 W 346/03-), die dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen hinreichend bekannt ist, kann der Tatrichter seine Überzeugung, die Undurchführbarkeit der Abschiebung innerhalb des maßgebenden Zeitraums könne nicht festgestellt werden, rechtsfehlerfrei darauf stützen, dass in Einzelfällen eine solche Abschiebung hat durchgeführt werden können. Diese Sichtweise entspricht der insoweit eindeutigen gesetzlichen Regelung, nach der die Haftanordnung nur zu unterbleiben hat, wenn feststeht, dass die Abschiebung nicht möglich sein wird.

Auch in dem Umstand, dass die Kammer die Auskünfte der ZAB L ohne weitere Ermittlungen als glaubhaft erachtet hat, begründet keinen Verstoß gegen § 12 FGG. Es ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung unbestritten, dass bei der Prüfung, innerhalb welches Zeitraums eine Abschiebung möglich erscheint, zuvörderst auf die Erfahrungen der (zentralen) Ausländerbehörden zurückzugreifen ist (OLG Düsseldorf, Beschl. vom 05.06.2002 -3 Wx 152/02-; OLG Köln, Beschl. vom 23.11.2001 -16 Wx 253/01-). Dabei teilt der Senat die Auffassung, dass der Haftrichter den Angaben einer antragstellenden Behörde nicht blind vertrauen darf, sondern diese aus gegebenem Anlass auch überprüfen muss. Darum geht es vorliegend jedoch nicht. Die ZAB L ist bei ihrer Auskunft vom 16.11.2005 als Clearingstelle tätig geworden. Bereits dies lässt der Auskunft einen anderen Beweiswert zukommen. Die Kammer konnte weiter ihre eigenen Erfahrungen aus Einzelfällen (vgl. hierzu den o.a. Senatsbeschluss) berücksichtigen, zu denen die Auskünfte der ZAB widerspruchsfrei passen. In dieselbe Richtung weist schließlich auch das Schreiben des Innenministeriums NW vom 21.06.2005, mag dieses für sich auch wenig aussagekräftig sein. Bei zusammenfassender Würdigung ist die Überzeugungsbildung aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Dies gilt auch unter Berücksichtigung der mit der sofortigen Beschwerde erhobenen Rügen gegen das Zahlenmaterial der ZAB. Die dort angesprochene Rechtsprechung des Kammergerichts bezieht sich ausdrücklich nur auf tatsächliche Erfahrungen aus dem Bereich C. Die angeblich für die Haftanstalten C3 und N bestehenden Erfahrungswerte können letztlich auch nur einen zeitlich und räumlich begrenzten Bereich erfassen, der im Hinblick auf den o.g. rechtlichen Ausgangspunkt, dass nämlich feststehen muss, dass die Abschiebung undurchführbar ist, nicht maßgebend sein kann.

Da die Anordnung der Haft somit zu Recht erfolgt ist, ist der Tatbestand des § 16 FEVG ersichtlich nicht erfüllt, so dass eine Kostenerstattung ausscheidet.

Ende der Entscheidung

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