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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 08.12.2005
Aktenzeichen: 2 Ss 442/05
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 46
StGB § 323 a
StPO § 267
Zum erforderlichen Umfang der tatsächlichen Feststellungen beim Vollrausch.
Beschluss

Strafsache

gegen S.V.

wegen Vollrausches

Auf die (Sprung-)Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Bochum vom 9. Mai 2004 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 08. 12. 2005 durch Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gem. § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das Urteil des Amtsgerichts Bochum vom 9. Mai 2005 wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Bochum zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Der Angeklagte ist durch das angefochtene Urteil wegen fahrlässigen Vollrausches zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die materielle Rüge erhoben hat. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision gem. § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.

II.

Die Revision ist zulässig und hat auch in der Sache einen zumindest vorläufigen Erfolg. Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen sind lückenhaft (§ 267 StPO). Sie tragen die Verurteilung wegen eines fahrlässigen Vollrausches nicht.

1.

Das Amtsgericht hat folgende tatsächliche Feststellungen getroffen:

"Am 16.08.2003 hatte der Angeklagte übermäßig Alkohol getrunken, und zwar in Form von Wodka zu sich genommen, als er gegen 5.00 Uhr früh vor der Diskothek "Planet" in Bochum in eine körperliche Auseinandersetzung mit mehreren Personen verstrickt wurde, wobei er der Unterlegene war. Als eine Kampfpause eingetreten war, begab sich die Zeugin V.K., die mit dem Angeklagten und den Zeugen P. und R. die Diskothek gemeinsam aufgesucht hatte, zum Angeklagten, um ihn zu beruhigen und aus der dem Angeklagten feindlich gesonnenen Personengruppe, die noch um ihn herumstand, herauszuziehen. Der Angeklagte packte jedoch die Zeugin, zog den Oberkörper zur Seite und biss ihr einen Teil ihres linken Ohres ab, das daraufhin stark blutete und nachfolgend im Krankenhaus genäht werden musste. Die Zeugin musste 9 Tage im Krankenhaus verbleiben.

Es ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte aufgrund des zuvor genossenen Alkohols sich in einem solchen Rauschzustand befand, dass er die Zeugin Kindler nicht als eine ihm wohl gesonnene Person wahrnahm, sondern glaubte, dass es sich bei ihrem Versuch, ihn aus der Personengruppe zu ziehen, um einen erneuten Angriff der ihm feindlich gesonnenen Personen handelte.

......

Der Angeklagte hat keine Einlassung abgegeben.

.........Nach den Aussagen sämtlicher Zeugen ist überdies nicht auszuschließen, dass der Angeklagte sich zuvor in einen Rauschzustand versetzt hat, der seine Schuldunfähigkeit nicht ausschließen ließ. Neben den Bekundungen der Zeugen spricht dafür insbesondere der Umstand; dass er die körperverletzende Handlung zulasten der Person beging, die ihm helfen wollte. Offensichtlich war er nicht in der Lage zu erkennen, dass keine Notwehrlage vorlag. Aufgrund seiner alkoholischen Beeinflussung konnte er überdies nicht abschätzen, dass eine Notwehrmaßnahme wie das Abbeißen eines Ohrteils selbst bei einer Notwehrlage nicht mehr gerechtfertigt gewesen wäre. Diese Irrtum des Angeklagten hinsichtlich einer nicht bestehenden Notwehrlage und bezüglich der Unangemessenheit der Notwehr lässt nach Auffassung des Gerichtes nur den Schluss zu, dass der Angeklagte tatsächlich derart unter Alkoholeinfluss stand, dass eine Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Körperverletzungsdeliktes nicht in Betracht kam.

Es lagen jedoch die Voraussetzungen eines fahrlässigen Vollrausches nach § 323 a StGB vor, so dass der Angeklagte nach dieser Vorschrift zu bestrafen war.

2. Diese Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen eines fahrlässigen Vollrausches nicht, so dass das amtsgerichtliche Urteil aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen war.

Bestraft wird nach § 323 a StGB das vorsätzliche oder fahrlässige Sich-Berauschen. Das ist Gegenstand des Schuldvorwurfs und damit Grundlage der Strafzumessung (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 53 Aufl., § 323 a Rn. 2 mit weiteren Nachweisen). Der objektive Tatbestand des § 323 a StGB setzt daher einen Rausch des Täters durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel voraus (siehe dazu auch Beschluss des hiesigen 3. Senats für Strafsachen vom 14. Dezember 2004 in 3 Ss 408/04). Die amtsgerichtlichen Urteilsfeststellungen stellen keine ausreichende Tatsachengrundlage für die Annahme eines Vollrausches im Sinne des § 323 a StGB dar. Für die Beurteilung der Frage, ob ein alkoholbedingter Rausch vorliegt, der zur Folge hat, dass der Täter schuldunfähig ist oder seine Schuldunfähigkeit jedenfalls nicht ausgeschlossen werden kann, kommt der Blutalkoholkonzentration ein erhebliches indizielles Gewicht zu, neben der allerdings auch die konkreten Umstände des Tatgeschehens, die Persönlichkeit des Täters sowie sein Leistungsverhalten vor, während und nach der Tat zu berücksichtigen sind (Tröndle/Fischer, a.a.O., § 20, Rn. 22, 23 mit weiteren Nachweisen).

In den Gründen des angefochtenen Urteils wird die Höhe der Blutalkoholkonzentration aber nicht mitgeteilt. Es werden auch keine sonstigen, zumindest keinen ausreichenden Umstände festgestellt, aus denen sich nachvollziehbar eine - zumindest nicht auszuschließende - Schuldunfähigkeit des Angeklagten infolge des Konsums von Alkohol ergibt. Das Amtsgericht teilt lediglich mit, dass der Amtsgerichte am Tattag übermäßig Wodka getrunken habe und er bereits vor dem Besuch der Diskothek so betrunken gewesen sei, dass seine Mutter ihm deshalb deren Besuch verboten habe. Das Amtsgericht hätte aber weitere Feststellungen dazu treffen müssen, auf welche Weise der Angeklagte den Geschehensablauf in Gang gesetzt hat, insbesondere zum Trinkverlauf am Tattag und zur Persönlichkeit des Angeklagten in Bezug auf sein Verhalten bei Alkoholgenuss. Ggf. hätte es auch weitere Feststellungen zur Person des Angeklagten treffen müssen. So bleibt angesichts des geschilderten (vagen) Trinkverlaufs - der Angeklagte hatte offenbar den ganzen Tag und die ganze Nacht über Wodka zu sich genommen - völlig offen, ob der Angeklagte nicht möglicherweise Alkoholiker ist. Vor diesem Hintergrund hätte das Amtsgericht dann aber unter Zugrundelegung des Trinkverlaufs am Tattage ggf. der Frage nachgehen müssen, inwieweit der Angeklagte überhaupt in der Lage war, sein Trinkverhalten zu steuern. § 323 a StGB ist nämlich dann nicht anwendbar, wenn Einsichts- oder Steuerungsunfähigkeit schon zum Zeitpunkt des Sich-Berauschens selbst vorgelegen haben. Insbesondere kann eine infolge bestehender Alkoholabhängigkeit vorliegende erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit hinsichtlich des Sich-Berauschens bei Vorliegen der Voraussetzungen zur Milderung des § 323 a StGB nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB führen (Tröndle/Fischer, a.a.O., § 323 a Rn. 14 mit weiteren Nachweisen).

Darüber hinaus enthält das angefochtene Urteil auch keine ausreichenden Feststellungen zum subjektiven Tatbestand des § 323 a StGB. Die Strafbarkeit wegen eines Vollrausches ist nur dann gegeben, wenn der Täter sich vorsätzlich oder fahrlässig in den Rausch versetzt hat. Mitgeteilt wird hier nur das Ergebnis einer rechtlichen Würdigung, wonach sich der Angeklagte fahrlässig in einen Rausch versetzt hat. Fahrlässig handelt der Täter, wenn er die Folgen des Rauschmittels hätte erkennen können und müssen (Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl., § 323 a, Rn. 10). Worauf das Amtsgericht seine Überzeugung, der Angeklagte habe fahrlässig gehandelt hat, gestützt hat, wird in dem angefochtenen Urteil mit keinem Wort näher ausgeführt und ergibt sich auch nicht aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe. Es fehlen sowohl Feststellungen dazu, welche Vorstellung der Angeklagte über die Auswirkungen seines Alkohol- und Drogenkonsums hatte, als er sich betrank, als auch dazu, dass er vorhersehen konnte, dass er in einen alkoholbedingten Rausch geraten würde.

Der subjektiven Tatbestand des § 323 a StGB erfordert außerdem, dass für den Täter mindestens vorhersehbar ist, dass er im Rausch irgendwelche Ausschreitungen strafbarer Art begehen wird (Tröndle/Fischer, a.a.O., § 323 a, Rn. 18 m.w.N.). Auch damit befasst sich das angefochtene Urteil mit keinem Wort nicht.

Schließlich bleibt unklar, von welcher Rauschtat, die so genannte objektive Bedingung der Strafbarkeit ist, das Amtsgericht ausgegangen ist, nämlich ob eine fahrlässige oder vorsätzliche Körperverletzung (§ 223 StGB oder § 230 StGB), eine gefährliche Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) oder sogar eine schwere Körperverletzung (§ 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB) vorgelegen hat. In dem Zusammenhang diskutiert das Amtsgericht das Amtsgericht (nur) das Vorliegen eines Irrtums beim Angeklagten hinsichtlich "einer nicht bestehenden Notwehrlage und bezüglich der Unangemessenheit der Notwehr", ohne im Einzelnen darzulegen, was aber erforderlich gewesen wäre, ob es einen Erlaubnistatbestandsirrtum oder einen Verbotsirrtum annimmt (vgl. zur Abgrenzung in diesen Fällen Tröndle/Fischer, § 32 Rn. 27 mit weiteren Nachweisen). Offen bleibt auch die an sich nahe liegende Diskussion, ob nicht ein Notwehrexzess gegeben ist. Schließlich lässt das Urteil auch eine Auseinandersetzung mit der Frage vermissen, ob nicht ein ggf. vorliegender Verbotsirrtum rauschbedingt und damit unbeachtlich wäre (Tröndle/Fischer, § 323 a Rn. 8). Der Senat ist - entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft auch nicht auf Grund des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe - in der Lage, auf diese Fragen eine für die Verwerfung der Revision sichere Antwort zu geben. Die Feststellungen und Ausführungen zum Vollrausch nach § 323 a StGB und zur Rauschtat sind einerseits so knapp, andererseits aber so miteinander verwoben und verworren, dass sich eine sichere Zuordnung nicht treffen lässt.

III.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:

1. Sollte nach den neu zu treffenden Feststellungen die Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Vollrausches in Betracht kommen, steht dem nicht § 331 StPO entgegen. Das Verschlechterungsverbot schließt Änderungen des Schuldspruchs nicht aus (Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., 2005, § 331 Rn. 8 mit weiteren Nachweisen).

2. Im Übrigen war auch die derzeitige Strafzumessung nicht frei von Rechtsfehlern.

Soweit das Amtsgericht bei der Strafzumessung die Folgen der Rauschtat berücksichtigt hat, ist das nicht zu beanstanden. Zwar darf bei einem Vollrausch nach § 323 a StGB die im Rausch begangene Tat als solche dem Täter nicht vorgeworfen werden, weil er insoweit ohne Schuld gehandelt hat, jedoch dürfen die tatbezogenen Merkmale der Rauschtat, wie Art, Umfang, Schwere und Gefährlichkeit oder Folgen dieser Tat bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden (BGH NStZ-RR 2001, 15; NStZ 1993, 32; Beschl. des hiesigen 3. Strafsenats vom 14. Dezember 2004, 3 Ss 408/04 ).

Aus Rechtsgründen zu beanstanden ist jedoch, dass das bei der Strafzumessung zu Lasten des Angeklagten, der sich nicht zur Sache eingelassen hat, berücksichtigt hat, dass er "sich nicht einmal in der Hauptverhandlung gemüßigt gefühlt hat, sich bei der Zeugin für sein Fehlverhalten zu entschuldigen". Zwar kann das Tatnachverhalten im Rahmen des § 46 StGB Berücksichtigung finden. Ebenso wenig wie jedoch ein leugnender Angeklagter Mitgefühl mit dem Geschädigten zeigen nach, das sich nach außen in Form einer Entschuldigung manifestiert (vgl. dazu Tröndle/Fischer, a.a.O., § 46 Rn. 50 mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus der ständigen Rechtsprechung des BGH), kann dies ein schweigender, von seinen Rechten aus § 136 Abs. 1 StPO Gebrauch machender Angeklagter. Dieser müsste ansonsten seine im Schweigen zum Ausdruck kommende Verteidigungsposition aufgeben. Das Fehlen einer Entschuldigung kann daher in diesen Fällen gerade nicht strafschärfend herangezogen werden.

Ende der Entscheidung

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