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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 16.09.2002
Aktenzeichen: 2 Ss 657/2002
Rechtsgebiete: StPO
Vorschriften:
StPO § 261 |
Beschluss Strafsache gegen T.R. wegen Beleidigung u.a.
Auf die ( Sprung- ) Revision des Angeklagten vom 8. Mai 2002 gegen das Urteil des Amtsgerichts Iserlohn vom 2. Mai 2002 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 16. 09. 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gem. § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an das Amtsgericht Iserlohn zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen Beleidigung für schuldig befunden und ihn verwarnt. Es hat die Verurteilung zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je 130,- DM vorbehalten und ihn im übrigen freigesprochen.
Dazu hat es folgende tatsächliche Feststellungen getroffen:
"Der Angeklagte hatte ab dem 01.02.2000 zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der Zeugin P., eine Wohnung in dem Mehrfamilienhaus "A.H. 1" in Iserlohn-Sümmern gemietet. In der Folgezeit kam es bei gegenseitigen Schuldzuweisungen zu Problemen mit einigen Nachbarn, unter anderem der in dem Haus "A.H. 3" wohnenden Zeugin B..
Am 05.01.2001, einem Freitag, befuhr Frau B. gegen 15.00 Uhr mit ihrem PKW die rund 3 Meter breite Straße "A.H." von der Schützenstraße kommend in Richtung ihrer Wohnung. Vor dem Haus Nr. 1 mußte sie ihr Fahrzeug anhalten. Der Grund hierfür war nach ihren Angaben, dass die unangeleinte Dogge des Angeklagten mitten auf der Fahrbahn stand. Demgegenüber haben der Angeklagte und seine Lebensgefährtin behauptet, Frau B. sei auf Frau P., die in diesem Moment mit dem Hund die Fahrbahn habe überqueren wollen, mit unangemessen hoher Geschwindigkeit zugefahren und habe erst unmittelbar vor Frau P. angehalten.
Nach kurzer Zeit fuhr Frau B. mit ihrem PKW zu ihrem rund 50 Meter entfernt gelegenen Stellplatz weiter. Beim Anfahren soll nach der Bekundung der Zeugin B. Frau P. mit den Fäusten auf ihr Fahrzeug geschlagen haben, während diese und der Angeklagte behaupten, Frau P. sei von Frau B. angefahren und dabei leicht am Bein verletzt worden.
In jedem Falle folgte der Angeklagte Frau B. zum Haus "A.H. 3". Nachdem diese eingeparkt hatte und an ihrem Hauseingang erschienen war, herrschte er sie an, sie sei "bescheuert und gehöre in die Klapsmühle"."
Zur Beweiswürdigung heißt es weiter:
"Diese Feststellungen beruhen auf den Angaben des Angeklagten in Verbindung mit den uneidlichen Bekundungen der Zeugen Dagmar B. und Andrea P..
Der Angeklagte hat bestritten, die Zeugin beleidigt zu haben. Er will sie lediglich aufgefordert haben, mit zurück zur "Unfallstelle" zu kommen, um dort den Sachverhalt mit Hilfe der Polizei zu klären.
Beleidigende Äußerungen seitens ihres Lebensgefährten sind auch von der Zeugin P. bestritten worden.
Demgegenüber hat die Zeugin B. auf wiederholten Vorhalt bekräftigt, die vorgenannten Äußerungen seien durch den Angeklagten nicht nur vor ihrer Haustür, sondern auch schon vorher, als sie in Höhe der Wohnung Rademachers habe anhalten müssen, erfolgt.
Das Gericht ist der Aussage der Zeugin B. gefolgt. Dabei hat es nicht verkannt, dass die früher durch die Zeugin gegen den Angeklagten erhobenen weiteren Vorwürfe (siehe III) von ihr zumindest teilweise nicht aufrechterhalten worden sind. Auch sind die beleidigenden Äußerungen in der Strafanzeige ihres Anwalts nicht dem Angeklagten, sondern dessen Lebensgefährtin zugeschrieben worden.
Letzteres kann allerdings ohne weiteres auf ein Missverständnis zurückzuführen sein. Im übrigen hat das Gericht nicht den Eindruck einer überschießenden Belastungstendenz bei der Geschädigten gehabt, obwohl sie allein wegen des von ihr gestellten Strafantrags - wie auf der anderen Seite wenn auch mit einer genau entgegengesetzten Zielrichtung Frau P. - erkennbar ein Interesse am Ausgang des Verfahrens hat.
Ganz entscheidend war jedoch, dass für das Gericht die Schilderung des Angeklagten nicht nachvollziehbar war. Er kannte Frau B. und wusste, wo sie wohnte. Ihr Auto war von der angeblichen "Unfallstelle" entfernt worden. Weshalb sie dann dorthin zurückkehren und genau an dieser Stelle mit dem Angeklagten und seiner Lebensgefährtin auf die Polizei warten sollte, ergibt schon deshalb keinen Sinn, weil den Angeklagten sowie Frau P. auf der einen und Frau B. auf der anderen Seite eine auf Gegenseitigkeit beruhende Abneigung verband, so dass es im allseitigen Interesse lag, den unmittelbaren Kontakt weitestgehend zu vermeiden. Hinzukommt, dass es jeglicher Lebenserfahrung widerspricht, wenn jemand, nach dessen Schilderung seine Lebensgefährtin soeben von einer verantwortungslosen Kraftfahrerin angefahren und verletzt worden ist, diese nunmehr in normalem Umgangston zu einem bestimmten Verhalten auffordert, zumal dann, wenn es in der Vergangenheit zwischen den Beteiligten wiederholt Differenzen gegeben hat."
."III.
Soweit die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten mit der zugelassenen Anklageschrift vom 15.02.2002 weiter zur Last gelegt hatte, am 05.10.2001 in Iserlohn durch zwei selbständige Handlungen einen Menschen rechtwidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt zu haben ( Vergehen gemäß § 240,53 StGB ), indem er der Zeugin B. im Verlauf der Auseinandersetzung vor dem Haus "A.H. 3" provozierend und demonstrativ den Weg zum Eingangsbereich ihres Hauses versperrt und sich später der Zeugin, als diese mit ihrem PKW die Straße "A.H." in Richtung Schützenstraße befuhr, für einige Minuten in den Weg gestellt und sie an der Weiterfahrt gehindert haben soll, war Rademacher aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.
Im ersten Fall lag - wenn überhaupt - lediglich eine versuchte Nötigung vor, von der der Angeklagte strafbefreiend zurückgetreten ist, vor; den zweiten im Schriftsatz ihrer Anwälte an die Staatsanwaltschaft Hagen gemachten Vorwurf hat Frau B. im Haupthandlungstermin nicht aufrechterhalten."
Hiergegen richtet sich die ( Sprung- ) Revision des Angeklagten, mit der er unter näherer Ausführung die Verletzung materiellen Rechts rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat keinen Antrag gestellt.
II.
Die ( Sprung- )Revision ist zulässig und hat - zumindest vorläufig - in der Sache Erfolg.
1. Der Umstand, dass sie sich gegen eine vorbehaltene Verurteilung zu einer Geldstrafe von nur 10 Tagessätzen richtet, steht ihrer Zulässigkeit trotz der in § 313 StPO geregelten Beschränkung in den Fällen der Annahmeberufung nicht entgegen. Denn der Begriff "zulässig" in § 335 StPO bedeutet nicht, dass damit das Vorliegen sämtlicher für die Berufung erforderlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen zu fordern ist. "Zulässig" ist hier vielmehr mit dem Begriff "statthaft" gleichzusetzen ( vgl. OLG Zweibrücken in StV 1994,119; OLG Karlsruhe in StV 1994,292 und in NStZ 1995, 562; OLG Frankfurt in NStZ-RR 1996, 174 alle mit weiteren Nachweisen zu der in der Literatur vertretenen abweichenden Meinung ). Die demgemäss nach §§ 335 Abs. 1, 312 StPO statthafte Revision des Angeklagten ist form- und fristgerecht eingelegt, begründet und mit einem Antrag versehen worden.
2. Das angefochtenen Urteil war auf die Sachrüge hin aufzuheben, weil die vom Amtsgericht vorgenommene Beweiswürdigung durchgreifenden Bedenken begegnet.
Zwar ist es allein Sache des Tatrichters, das Ergebnis der Beweisaufnahme festzustellen und zu würdigen ( vgl. BGH St 21, 149, 152 ). Er ist in seiner Überzeugungsbildung frei und dabei nicht an gesetzliche Beweisregeln gebunden. Die tatrichterliche Überzeugungsbildung ist der Prüfung durch das Revisionsgericht nur daraufhin zugänglich, ob sie rechtlich einwandfrei, d.h. frei von Widersprüchen, Lücken, Unklarheiten und Verstößen gegen die Denkgesetze oder gesicherte Lebenserfahrung ist. Dabei hat das Revisionsgericht nicht zu prüfen, ob die Erwägungen und Schlüsse des Tatrichters zwingend und überzeugend sind. Es genügt, dass sie denkgesetzlich möglich sind und von der subjektiven Gewissheit des Tatrichters getragen werden ( vgl. BGH St 10, 208 ff.; 25, 56 ff.; 29, 18, 20; OLG Düsseldorf StV 2002, 471 f. ).
Beruht - wie hier - die Überzeugung des Gerichts jedoch allein auf der Aussage eines einzigen Belastungszeugen, ohne dass weitere belastende Indizien vorliegen, so sind an die Überzeugungsbildung des Tatrichters strenge Anforderungen zu stellen. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, in seine Überlegungen einbezogen hat. Namentlich ist die Aussage des Zeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen ( vgl. BGH NStZ-RR 2002, 146 f. m.w.N. ). Das gilt besonders, wenn der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung seine Vorwürfe nicht mehr aufrechterhält oder der anfänglichen Schilderung nicht gefolgt wird ( vgl. BGH StV 2002, 470 m.w.N. ).
Diesen Anforderungen hält das angefochtene Urteil nicht stand. Das Amtsgericht stützt die Verurteilung ausschließlich auf die - als glaubhaft gewerteten - Angaben der geschädigten Zeugin B.. Es hat hierbei nicht verkannt, dass Umstände gegeben sind, die gegen deren Richtigkeit sprechen können. Damit hat es sich aber nicht in dem erforderlichen Maße auseinandergesetzt. Diesen Umständen misst das Amtsgericht keine besondere Bedeutung zu oder es deutet sie jeweils so, dass sich aus jedem einzelnen von ihnen keine durchgreifenden Bedenken gegen die Richtigkeit ihrer Angaben ergeben müssen. Eine spätere Gesamtschau, ob sich aus der Gesamtheit der - jede für sich noch erklärbaren - Fragwürdigkeiten nicht doch ernsthafte Zweifel an der Begründetheit des gegen den Angeklagten erhobenen Vorwurfs erwachsen, erfolgt nicht. Hinzu kommt, dass das Amtsgericht die Erwägungen, mit denen es durchgreifende Bedenken gegen die Richtigkeit der Angaben der Zeugin B. ausschließt, größtenteils nicht auf konkrete Tatsachen, sondern auf abstrakte Deutungsmöglichkeiten und Vermutungen stützt.
So lässt die Beweiswürdigung nicht erkennen, ob der Zeugin die Tatsache, dass die beleidigenden Äußerungen in der Strafanzeige ihres Anwalts nicht dem Angeklagten, sondern dessen Lebensgefährtin zugeschrieben worden sind, vorgehalten worden ist, und was sie selbst dazu geäußert hat. Soweit das Amtsgericht diesen Widerspruch mit der Möglichkeit eines Missverständnisses erklärt, beruht das auf einer bloßen Vermutung.
Ebenso wenig wird dargelegt, warum der Angeklagte bezüglich der ihm außerdem zur Last gelegten Vorwürfe freigesprochen worden ist. Die bloße Mitteilung, Frau B. habe den Vorwurf in der Hauptverhandlung nicht aufrechterhalten, lässt jegliche kritische Auseinandersetzung des Tatrichters mit dem diesbezüglichen Aussageverhalten der Zeugin und den sich daraus ergebenden Bedenken gegen die Richtigkeit ihrer übrigen Angaben vermissen.
Zudem enthalten die Urteilsgründe weder eine Wiedergabe der Angabe der - einzigen unbeteiligten - Zeugin R., noch erfolgt eine Würdigung ihrer Aussage.
Soweit das Amtsgericht seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten damit begründet, es widerspreche jeglicher Lebenserfahrung, dass er in der von ihm geschilderten Situation im normalen Umgangston von der Zeugin B. lediglich verlangt habe, an der "Unfallstelle" mit ihm und seiner Lebensgefährtin auf die Polizei zu warten, hält dies rechtlicher Prüfung nicht stand, weil sich der Tatrichter auch hier in Bereich bloßer Vermutung und nicht allgemeingültiger Erfahrungssätze bewegt.
Da die Sache deshalb neuer tatrichterlicher Aufklärung und Bewertung und Bewertung bedarf, war das Urteil aufzuheben und an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Iserlohn zurückzuverweisen ( § 354 Abs. 2 StPO ), die auch über die Kosten der Revision zu entscheiden haben wird.
Ende der Entscheidung
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