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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 06.03.2006
Aktenzeichen: 2 Ss 8/06
Rechtsgebiete: JGG, StPO
Vorschriften:
JGG § 60 | |
StPO § 140 |
Beschluss
Strafsache
gegen P.F.
wegen Diebstahls u.a.
Auf die (Sprung-)Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts - Jugendschöffengericht - Recklinghausen vom 10. Oktober 2005 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 06. 03. 2006 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gem. §§ 349 Abs. 2, 4 StPO einstimmig beschlossen:
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird, soweit der Angeklagte wegen versuchten Diebstahls und Diebstahls in zwei Fällen verurteilt worden ist, mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Darüber hinaus wird das angefochtene Urteil, soweit der Angeklagte wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und Urkundenfälschung in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis und wegen vorsätzlichen Führens eines nichtpflichtversicherten Fahrzeuges verurteilt worden ist, im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen insgesamt aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Recklinghausen zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Revision verworfen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - hat den Angeklagten wegen "des versuchten Diebstahls in einem besonders schweren Fall und des vollendeten Diebstahls in zwei besonders schweren Fällen, des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und der Urkundenfälschung in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis und vorsätzlichen Führens eine nichtpflichtversicherten Fahrzeuges schuldig" gesprochen und gegen ihn vier Wochen Dauerarrest verhängt. Ferner hat es die Verwaltungsbehörde angewiesen, ihm vor Ablauf eines Jahres keine Fahrerlaubnis zu erteilen.
Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der die formelle und die materielle Rüge erhoben worden ist. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, wie der Senat erkannt hat.
II.
Die Revision des Angeklagten ist zulässig und hat auch in dem erfolgten Umfang - zumindest vorläufig - in der Sache Erfolg. Die Überprüfung des angefochtenen Urteils lässt Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen.
1. Unschädlich ist, dass der Angeklagte sein Rechtsmittel zunächst mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 11. Oktober 2005 ausdrücklich als Berufung bezeichnet und innerhalb der Rechtsmittelbegründungsfrist mitgeteilt hat, das Rechtsmittel als Revision zu führen.
Es ist gefestigte Rechtsprechung, dass der Rechtsmittelführer, der in der Rechtsmitteleinlegungsfrist Berufung eingelegt hat, innerhalb der Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO noch erklären darf, von der ursprünglich gewählten Berufung zur Revision überzugehen (BGHSt 5, 338 = NJW 1954, 687). Diese Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 03. Dezember 2003 in 5 StR 249/03, abgedr. in NJW 2004, 789 f., ergangen auf einen Vorlagebeschluss des Oberlandesgerichts Dresden, nochmals bekräftigt.
2. Die erhobene formelle Rüge der Verletzung des § 338 Ziffer 5 StPO hat keinen Erfolg.
Im Jugendgerichtsverfahren ist dem Heranwachsenden gem. §§ 109 Abs. 1, 68 Nr. 1 JGG ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Bestellung auch für einen Erwachsenen geboten wäre. Darin sieht die allgemeine Meinung eine Verweisung auf die Vorschrift des § 140 StPO (vgl. zuletzt u.a. Beschluss des erkennenden Senats vom 26. April 2004 in 2 Ss 54/04 und OLG Hamm, Beschluss vom 14. 5. 2003, 3 Ss 1163/02, NJW 2004, 1338; Spann StraFo 2004, 82, 83, jeweils mit weiteren Nachweisen). Danach ist die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung und die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Die "Schwere der Tat", die sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung richtet, gebietet nach wohl überwiegender Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung und der Auffassung der Literatur (vgl. dazu Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., 2004, § 140 Rn. 23 ff.; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl., 2003, Rn. 1232 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen) die Beiordnung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich dann, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten ist (so wohl auch OLG Hamm NJW 2004, 1338; siehe aus der Rechtsprechung des Senats u.a. NStZ-RR 1998, 243 = StraFo 1998, 164, 269). Dies gilt auch im Jugendrecht. Ob darüber hinaus noch weitere Voraussetzungen vorliegen müssen (so wohl OLG Hamm NJW 2004, 1338) oder ob die Beiordnung eines Pflichtverteidigers sogar schon immer dann erforderlich ist, wenn eine Jugendstrafe droht (so LG Gera StraFo 1998, 270 = StV 1999, 654; Spann StraFo 2004, 82, 83; Burhoff, a.a.O., Rn. 1234 unter Hinweis auf LG Gera, a.a.O.), braucht vorliegend nicht entschieden zu werden.
Entgegen der Auffassung der Revision lag vorliegend ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO nicht vor. Weder war die Sach- und Rechtslage schwierig noch war wegen der Schwere der Tat, die sich nach der konkreten Straferwartung beurteilt, die Mitwirkung eines Verteidigers geboten.
Auch war der Angeklagte nicht in seiner Verteidigungsfähigkeit eingeschränkt, was auch bei geringer Straferwartung die Beiordnung eines Pflichtverteidigers notwendig gemacht hätte. Bei der Strafgrenze von einem Jahr handelt es sich nicht um eine starre Grenze, sondern es sind auch sonstige Umstände zu berücksichtigen, die in Zusammenhang mit der verhängten und/oder drohenden Strafe dazu führen können, dass die Mitwirkung eines Verteidigers auch bei einer niedrigeren Strafe geboten erscheint. Zwar ist das in der Rechtsprechung - für das Erwachsenenrecht - im Wesentlichen bisher entschieden worden für die Frage der Berücksichtigung eines drohenden Widerrufs von Strafaussetzung zur Bewährung aufgrund der nun zu verhängenden Strafe (vgl. u.a. OLG Hamm VRS 100, 307 und die Nachweise bei Burhoff, a.a.O., Rn. 1233). Darüber hinaus sind aber auch schon andere Umstände anerkannt worden (vgl. Burhoff, a.a.O., Rn. 1233 und 1235). Dem schließt sich der Senat, insbesondere auch für das Jugendrecht an (vgl. auch den Beschluss des Senats vom 9. 2. 2004, 2 Ss 21/04; siehe auch OLG Brandenburg NStZ-RR 2002, 184). Denn gerade im Jugendrecht ist wegen der in der Regel geringeren Lebenserfahrung des jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten und seiner daher größeren Schutzbedürftigkeit eher die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich als im Erwachsenenstrafverfahren.
Aber auch unter Berücksichtigung dieses Umstands war die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht erforderlich. Ausweislich der in dem Urteil getroffenen persönlichen Feststellungen verfügt der Angeklagte nämlich bereits über gewisse Gerichtserfahrungen; es ist auch nicht ersichtlich, dass ihm über die Verurteilung nach Jugendstrafrecht hinausgehende sonstige schwerwiegende Nachteile - etwa einschneidende ausländerrechtliche Maßnahmen - drohen.
3. Soweit der Angeklagte allerdings wegen Diebstahls - das Vorliegen eines besonders schweren Falles ist nicht in die Urteilsformel aufzunehmen - verurteilt worden ist, hat die Revision auf die Sachrüge Erfolg. Die Beweiswürdigung weist insoweit Lücken auf.
Das Amtsgericht hat hierzu folgende tatsächliche Feststellungen getroffen und in seiner Beweiswürdigung Folgendes ausgeführt:
"1. Am 14.12.2004 begaben sich der Angeklagte sowie der gesondert Verfolgte G. aufgrund eines gemeinschaftlichen Tatplanes nachts zu der Kstr. 141 in Marl. Sie bogen das Blech der Beifahrertür des Pkw's VW Golf mit dem amtl. Kennzeichen: XXXXX des Zeugen W. oberhalb des Türgriffes auf und gelangten so in den Fahrzeuginnenraum. Sie entwendeten aus dem Fahrzeug eine Bassrolle, ein CD-Autoradio des Herstellers Kenwood, einen Rucksack sowie einen Verstärker. Die Beute hatte einen Gesamtwert von ca. 600,00 Euro.
2. Anschließend fuhren der Angeklagte und G. aufgrund eines gemeinschaftlichen Tatplans mit dem geliehenen Pkw Suzuki mit dem amtl. Kennzeichen: XXXXXX des Zeugen M. zur Sachsenstraße 52. Dort brachen sie die Beifahrertür des Pkw Daihatsu Cuore mit dem amtlichen Kennzeichen: XXXXXX der Zeugin B. auf, der auf der Sachsenstraße 52 abgestellt war. Aus dem Fahrzeug entwendeten sie ein Autoradio/CD-Player.
3. Ferner begaben sie sich zur Gerberstr. 7 in Recklinghausen und brachen den Pkw des Zeugen V. mit dem amtl. Kennzeichen: XXXXXXX durch Aufhebeln des Schlosses der Beifahrertür auf. Sie beabsichtigten, mitnehmenswerte Gegenstände aus dem Pkw zu entwenden. Als die Angeklagten bemerkten, dass sie von dem Zeugen B. beobachtet wurden, gaben sie die weitere Tatausführung auf und flüchteten vom Tatort. Der Zeuge Beck hatte sie beobachtet und unmittelbar die Polizei benachrichtigt. Als die Polizeibeamten K. und W. zu dem Tatort fuhren, kam ihnen der Pkw mit dem Angeklagten und seinem Mittäter entgegen. Sie stoppten das Fahrzeug, in dem der Angeklagte auf dem Fahrersitz und der Mittäter G. auf dem Beifahrersitz saßen. In dem Fahrzeug befand sich Diebeswerkzeug sowie die Diebesbeute aus den beiden vorangegangenen Diebstählen.
...
Der Angeklagte gibt an, dass der gesondert Verfolgte G. ihn gebeten habe, ihn etwas durch die Gegend zu fahren, um Sachen für den Trödel zu besorgen. Dies habe er dann auch getan und der G. sei dann jeweils mit irgendwelchen Sachen gekommen. Er habe sich schon gedacht, dass das nicht in Ordnung sei. Bei den Diebstählen habe er jedoch nicht mitgewirkt.
...
Soweit der Angeklagte bestreitet, an den Diebstählen beteiligt gewesen zu sein, hält das Gericht dies für eine Schutzbehauptung. Er räumt selber ein, mit G. die verschiedenen Tatorte angefahren zu haben. Das Diebesgut befand sich auch in dem von ihm gefahrenen Pkw. Aufgrund der ganzen Situation bestehen keine Zweifel, dass der Angeklagte und G. einverständlich zusammen gewirkt haben."
Zwar sind die vom Amtsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen noch ausreichend, um das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des Diebstahls zu bejahen, insbesondere hat das Amtsgericht - entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 13. Januar 2006 - festgestellt, dass sich das Diebesgut aus den unter Ziffer 1 und 2 festgestellten Diebstahlstaten in dem Pkw befand.
Jedoch hält die Beweiswürdigung des Amtsgerichts einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Sie ist unzureichend und lückenhaft und weist damit Rechtsfehler auf.
Aus § 261 StPO ergibt sich, dass der Tatrichter den festgestellten Sachverhalt, soweit er bestimmte Schlüsse zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten nahe legt, in Verbindung mit den weiteren festgestellten Tatsachen erschöpfend zu würdigen hat; diese erschöpfende Würdigung hat er in den Urteilsgründen darzulegen (vgl. OLG Hamm VRS 69, 137). Sie müssen eine Gesamtwürdigung aller in der Hauptverhandlung festgestellten Tatsachen enthalten, was aber nicht erfordert, dass in den Urteilsgründen stets in allen Einzelheiten darzulegen ist, auf welche Weise der Richter zu bestimmten Feststellungen gelangt ist. Es muss die Einlassung des Angeklagten mitgeteilt werden und unter Berücksichtigung der erhobenen Beweise gewürdigt werden; seine bestreitende Einlassung und ihre Widerlegung bestimmen den Umfang und den Inhalt der Darlegung im Urteil (vgl. dazu Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., § 261 Rn. 6 und § 267 Rn. 12 m. w. Nachw.).
Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung in dem angefochtenen Urteil nicht gerecht, da sie in diesem Sinne nicht erschöpfend ist. So wird lediglich festgestellt, dass die bestreitende Einlassung des Angeklagten für eine reine Schutzbehauptung gehalten wird. Nähere Ausführungen dazu lässt das Urteil vermissen. Dem Tatrichter ist zwar darin zuzustimmen, dass die Gesamtsituation - das Diebesgut befand sich in dem von dem Angeklagten gesteuerten Pkw - für eine Täterschaft des Angeklagten spricht. Aus diesem Umstand kann jedoch nicht zwingend die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der Angeklagte auch als Mittäter an den Diebstahlstaten beteiligt war, zumal er eine Erklärung gegeben hat, wie das Diebesgut in den Pkw gelangt sein soll. Dass die vom Angeklagten abgegebene Einlassung von vornherein abwegig ist, drängt sich auch nicht aufgrund der äußeren Umstände auf. Solche werden nämlich nicht mitgeteilt. So hätte beispielsweise aus der Angabe der genauen Tatzeit - etwa wenn diese in den späten Abendstunden oder zur Nachtzeit gewesen wäre - geschlossen werden können, ob die Angaben des Angeklagten nachvollziehbar erscheinen oder nicht. Das Urteil gibt auch keine den Angeklagten belastenden Zeugenaussagen wieder. Lücken bestehen vorliegend auch insoweit, als das Amtsgericht es als sicher festgestellt hat, dass der Angeklagte und der gesondert Verfolgte G. bei dem dritten ihnen zur Last gelegten versuchten Diebstahl auf der Gerberstraße in Recklinghausen von dem Zeugen Beck beobachtet worden seien, der unmittelbar nach der Tat die Polizei benachrichtigt habe. Ausweislich des Protokolls und der Urteilsgründe ist der Zeuge Beck aber nicht vernommen worden, obwohl sich dies angesichts der bestreitenden Einlassung des Angeklagten aufgedrängt hätte. Das Amtsgericht legt auch nicht nahe, warum es die Vernehmung dieses Zeugen für entbehrlich gehalten hat.
4.
Soweit der Angeklagte wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und Urkundenfälschung in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis und wegen vorsätzlichen Führens eines nichtpflichtversicherten Fahrzeuges verurteilt worden ist, hält das Urteil einer rechtlichen Überprüfung stand, so dass die Revision diesbezüglich zu verwerfen war.
5. Das Urteil war nach alledem in dem genannten Umfang im Schuldspruch mit den dazugehörigen Feststellungen und im Rechtsfolgenausspruch insgesamt aufzuheben. Insoweit war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Recklinghausen zurückzuverweisen.
Ende der Entscheidung
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