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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 01.06.2006
Aktenzeichen: 2 Ss OWi 262/06
Rechtsgebiete: StVG, BKatV, StVO, OWiG


Vorschriften:

StVG § 25 Abs. 2 a
BKatV § 4 Abs. 2
BKatV § 4 Abs. 2 S. 2
BKatV § 4 Abs. 4
StVO § 41 Abs. 2
OWiG § 79 Abs. 6
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den getroffenen Feststellungen aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Schwerte zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Der Landrat des Kreises Unna hat mit Bußgeldbescheid vom 15. Juni 2005 gegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaft eine Geldbuße in Höhe von 65,00 € sowie ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats mit der Maßgabe nach § 25 Abs. 2 a StVG festgesetzt.

Auf den hiergegen rechtzeitig eingelegten Einspruch des Betroffenen hat das Amtsgericht Schwerte ihn durch das angefochtene Urteil zu einer Geldbuße in Höhe von 120,00 € verurteilt. Von der Verhängung eines Fahrverbots hat es abgesehen.

Es hat u.a. folgende persönliche und tatsächliche Feststellungen getroffen:

"Der Betroffene ist selbständiger Gastwirt und betreibt eine Gaststätte in E. Seine Ehefrau betreibt ebenfalls eine Gaststätte im Münsterland, in der der Betroffene auch tätig ist.

Der Betroffene ist verkehrsrechtlich wie folgt vorbelastet:

Die Stadt E setzte gegen ihn am 30.10.2002, rechtskräftig seit dem 19.11.2002 wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaft um 24 km/h eine Geldbuße von 40,00 € fest.

Die Bußgeldbehörde des Regierungspräsidenten Karlsruhe in C setzte gegen ihn am 11. Januar 2005, rechtskräftig seit dem 01.02.2005, wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaft um 41 km/h eine Geldbuße von 200,00 € fest.

Am 08. Juni 2005 gegen 18.53 Uhr befuhr der Betroffene mit seinem Pkw Daimler Chrysler den I-Weg in Fahrtrichtung E. Von der Eisenbahnunterführung an besteht durch entsprechende Beschilderung eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h. Unmittelbar hinter der Tunneldurchfahrt beschleunigte der Betroffene sein Fahrzeug auf 58 km/h.

Diese Geschwindigkeit wurde durch den Zeugen I per Lasergerät Riegl LR 90-253 aus einer Messgeschwindigkeit von 208 m festgestellt, und zwar 61 km/h abzüglich 3 km/h Toleranz. "

Das Absehen von der Verhängung des noch im Bußgeldbescheid gem. § 4 Abs. 2 BKatV festgesetzten einmonatigen Regelfahrverbotes hat das Amtsgericht wie folgt begründet:

"Der Betroffene ist glaubhaft geständig. Er hat angegeben, dass dies sein täglicher Weg zu seiner Gaststätte sei. Er habe aus Leichtfertigkeit die bestehende Geschwindigkeitsbeschränkung nicht eingehalten.

Der Betroffene hat somit gegen § 41 Abs. 2 StVO zumindest fahrlässig verstoßen. Da der Betroffene innerhalb eines Jahres zum zweiten Mal eine Geschwindigkeitsüberschreitung von mindestens 26 km/h begangen hat, wäre gem. § 4 Abs. 2 S. 2 ein Regelfahrverbot anzuordnen. Wegen der besonderen Umstände erschien es jedoch nicht angezeigt, dieses Fahrverbot zu verhängen, sondern vielmehr gem. § 4 Abs. 4 BKatV die Regelbuße von 60,00 € zu verdoppeln. Die besonderen Umstände liegen darin, dass der Betroffene glaubhaft gemacht hat, dringend auf seine Fahrerlaubnis angewiesen zu sein, um seine eigene und die Gaststätte seiner Frau im Münsterland ordnungsgemäß betreiben zu können. Er hat Unterlagen vorgelegt, aus denen hervorgeht, dass er täglich weiträumig für seine Betriebe Einkäufe zu tätigen hat. Diese Arbeit kann ihm kein Angestellter abnehmen.

Es würde dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in erheblicher Weise widersprechen, wenn man wegen eines Augenblicksversagens hier ein Fahrverbot verhängen würde. Hinzugefügt werden muss, dass die 30 km/h-Begrenzung wegen einer Schule angeordnet ist, die sich in einer Entfernung von etwa 300 m von dem Begehungsort an befindet. Zur Begehungszeit sind üblicherweise keine Schüler mehr dort anzutreffen."

Das Urteil ist der Staatsanwaltschaft Hagen, die nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen hatte, am 18. Oktober 2005 zunächst ohne Gründe zugestellt worden, da die Staatsanwaltschaft vor der Hauptverhandlung keine schriftliche Begründung des Urteils beantragt und der Betroffene auf die Einlegung von Rechtsmitteln verzichtet hatte. Das begründete Urteil ist der Staatsanwaltschaft sodann am 02. Dezember 2005 zugestellt worden. Die Staatsanwaltschaft hat gegen das Urteil form- und fristgerecht Rechtsbeschwerde eingelegt, die sie unter näheren Ausführungen mit der Sachrüge begründet und auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat und der die Generalstaatsanwaltschaft mit ergänzenden Ausführungen beigetreten ist.

II.

Das Rechtsmittel ist zulässig und begründet.

1.

Gegen die Wirksamkeit der Beschränkung der Rechtsbeschwerde bestehen keine Bedenken.

Die Urteilsgründe genügen den Anforderungen, die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung an die Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung, ermittelt im standardisierten Messverfahren, gestellt werden.

2.

Die Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs. Die Erwägungen, auf Grund derer das Amtsgericht von der Verhängung eines einmonatigen Fahrverbots abgesehen hat, halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Zwar unterliegt die Entscheidung, ob trotz Vorliegens eines Regelfalles der konkrete Sachverhalt Ausnahmecharakter hat und demgemäß von der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen werden kann, in erster Linie der Beurteilung durch den Tatrichter (vgl. BGHSt 38, 125 ff. = NZV 1992, 286 ff.). Diesem ist jedoch insoweit kein rechtlich ungebundenes, freies Ermessen eingeräumt, das nur auf das Vorliegen von Ermessensfehlern hin vom Rechtsbeschwerdegericht überprüfbar ist. Der dem Tatrichter verbleibende Entscheidungsspielraum ist vielmehr durch gesetzlich niedergelegte oder von der Rechtsprechung herausgearbeitete Zumessungskriterien eingeengt und unterliegt insoweit hinsichtlich der Angemessenheit der verhängten Rechtsfolge in gewissen Grenzen der Kontrolle durch das Rechtsbeschwerdegericht, und zwar insbesondere hinsichtlich der Annahme der Voraussetzungen eines Durchschnittsfalles oder Regelfalles, zu der auch die Frage der Verhängung bzw. des Absehens von der Verhängung des Regelfahrverbotes nach der Bußgeldkatalogverordnung zu zählen ist (vgl. hierzu Entscheidung des erkennenden Senats vom 20. Mai 2005 in 2 Ss OWi 108/05 m. w. N.).

Von der Anordnung eines Fahrverbotes kann gem. § 4 Abs. 4 BKatV in Einzelfällen abgesehen werden, in denen der Sachverhalt zu Gunsten des Betroffenen so erhebliche Abweichungen vom Normalfall aufweist, dass die Annahme eines Ausnahmefalles gerechtfertigt ist und die Verhängung des Fahrverbotes trotz der groben bzw. beharrlichen Pflichtverletzung unangemessen wäre, wobei das Vorliegen erheblicher Härten oder eine Vielzahl für sich genommen gewöhnlicher und durchschnittlicher Umstände ausreicht. Einen solchen Ausnahmefall können z.B. der drohende Verlust des Arbeitsplatzes oder der Verlust der sonstigen wirtschaftlichen Existenzgrundlage begründen (vgl. Senatsbeschluss vom 06. Februar 2006 in 2 Ss OWi 31/06; OLG Hamm, VRS 92, 369). Derartige Umstände sind aber weder hinreichend dargelegt noch nachgewiesen worden. In den Urteilsgründen wird zwar mitgeteilt, der Betroffene sei selbständiger Gastwirt und er sei dringend auf seine Fahrerlaubnis angewiesen, um seine eigene und die Gaststätte seiner Ehefrau im Münsterland betreiben zu können. Er habe täglich weiträumig für seine Betriebe Einkäufe zu erledigen; diese Arbeit könne ihm kein Angestellter abnehmen.

Weitere Ausführungen dazu, inwieweit eine existenzielle Gefährdung des Betroffenen durch die Verhängung eines Fahrverbotes gegeben ist, enthält das Urteil aber nicht. Der Grundsatz, dass berufliche oder wirtschaftliche Schwierigkeiten als selbstverschuldet hinzunehmen sind und für ein Absehen von einem Fahrverbot nicht ausreichen, gilt grundsätzlich auch für selbständige Gewerbetreibende, da anderenfalls die Nebenfolge bei bestimmten Berufsgruppen praktisch ausscheiden würde (vgl. Senatsbeschluss vom 06. Januar 2000 in 2 Ss OWi 1274/99; ferner Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 25 StVG, Rdnr. 25 m. w. N.). In der Rechtsprechung ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass es nicht dem gesetzgeberischen Willen entspricht, nur gewisse Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise Hausfrauen und Rentner, die sich in aller Regel nicht auf die Notwendigkeit ihrer Fahrerlaubnis berufen können, mit dem Regelfahrverbot zu belegen, Berufstätige aber selbst im Falle beharrlicher Verstöße davon auszunehmen (vgl. zur Frage der Verhängung eines Fahrverbotes gegen einen mehrfach verkehrsrechtlich in Erscheinung getretenen Taxifahrer: Senatsbeschluss vom 18. Juli 1995 in 2 Ss OWi 386/95 = NZV 1995, 498; ferner Beschluss des hiesigen 4. Senats für Bußgeldsachen vom 02. Dezember 2003 in 4 Ss OWi 719/03).

Das Urteil lässt jegliche Auseinandersetzung damit vermissen, warum der Betroffene nicht in der Lage sein sollte, sich eines anderen Fahrers oder eines Lieferservices zu bedienen. Den Urteilsausführungen ist ferner nicht zu entnehmen, warum es dem Betroffenen nicht - worauf die Rechtsbeschwerde zutreffend hingewiesen hat - möglich ist, die wirtschaftlichen Auswirkungen für seinen eigenen und den Betrieb seiner Ehefrau dadurch abzumildern, dass er das Fahrverbot zumindest teilweise in der Zeit eines möglicherweise gemeinsam geplanten Jahresurlaubs abwickeln würde. Insoweit erschöpfen sich die Urteilsausführungen in einer ungeprüften Übernahme der Angaben des Betroffenen zu drohenden beruflichen oder wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Der Amtsrichter hat aber die Angaben des Betroffenen auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen und darzulegen, aus welchen Gründen er diese für glaubhaft erachtet (vgl. OLG Hamm, VRS 95, 138). Auch insoweit ist das Urteil rechtsfehlerhaft.

Aber selbst wenn Umstände hätten festgestellt werden können, hätte ein Betroffener, wenn er aufgrund des Fahrverbotes mit durchgreifenden beruflichen Schwierigkeiten zu rechnen hätte, diese auch dann hinzunehmen, wenn wegen der Vielzahl der bereits in der Vergangenheit begangenen Verkehrsordnungswidrigkeiten keine andere Maßnahme als die Verhängung der Denkzettelmaßnahme "Fahrverbot" mehr bleibt (vgl. OLG Hamm, VRS 93, 377).

Der vom Amtsgericht des weiteren angeführte Umstand, dass der Verkehrsverstoß zu einer Zeit geschehen ist, als in der etwa 300 m entfernt gelegenen Schule üblicherweise keine Schüler mehr anzutreffen seien und durch den Verkehrsverstoß niemand beeinträchtigt worden ist, vermag ebenfalls weder allein noch im Zusammenhang mit den anderen Umständen einen Ausnahmefall zu begründen. In objektiver Hinsicht beschreiben nämlich die Tatbestände, für die § 4 Abs. 4 BKatV i.V.m. der Anlage und der Tabelle das Fahrverbot als Regelsanktion vorsieht, ausnahmslos Verhaltensweisen, die besonders gravierend und gefahrtragend sind. Bei ihrem Vorliegen kommt es auf die weiteren Einzelheiten der Verkehrssituation regelmäßig nicht an. Insbesondere kann es den Betroffenen im allgemeinen nicht entlasten, wenn die Verkehrsdichte zur Tatzeit gering war (vgl. BGH NJW 1997, 3252 f).

Schließlich rechtfertigt die weitere Begründung des Amtsgerichts zum Augenblicksversagen ein Absehen vom Fahrverbot ebenfalls nicht. Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu in ihrer Stellungnahme vom 23. Mai 2006 u. a. Folgendes ausgeführt:

"Schließlich rechtfertigt die ohne nähere Begründung getroffene Feststellung eines Augenblicksversagens ein Absehen vom Fahrverbot ebenfalls nicht, weil nach den Feststellungen des Amtsgerichts Schwerte ein Augenblicksversagen gerade nicht vorlag. Des Einsatzes eines eindringlichen Erziehungsmittels bedarf es zur Einwirkung auf einen Verkehrsteilnehmer nicht, der infolge eines Augenblicksversagens fahrlässig eine - objektiv schwerwiegende - Verkehrsordnungswidrigkeit begeht, die nicht vorkommen darf, aber erfahrungsgemäß auch dem sorgfältigen und pflichtbewussten Kraftfahrer unterläuft (vgl. BGH, NZV 97, 525, 526). Da ein Augenblicksversagen, also leichte Fahrlässigkeit, nur in Betracht kommt, wenn sich eine Geschwindigkeitsbeschränkung nach den örtlichen Gegebenheiten nicht aufdrängt (vgl. KG, DAR 2001, 413), sind bereits diese Voraussetzungen bei einer durch eine zuvor von dem Betroffenen passierte Tunneldurchfahrt und eine nahegelegene Schule gekennzeichneten Örtlichkeit nicht gegeben. Darüber hinaus kann die Verkehrsordnungswidrigkeit vor dem Hintergrund, dass sich der Vorfall nach den Feststelllungen des Amtsgerichts auf dem täglich von dem Betroffenen zurückgelegten Weg zu seiner Arbeit ereignete, nicht mehr als bloße Unaufmerksamkeit und leichte Fahrlässigkeit angesehen werden, die auch von einem sorgfältigen und pflichtbewussten Kraftfahrer nicht immer vermieden werden kann."

Diese zutreffenden Ausführungen macht sich der Senat zu eigen und zum Gegenstand seiner Entscheidung. Da nach alledem das Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes auf einer nicht tragfähigen Begründung beruht, kann das angefochtene Urteil - angesichts der Wechselwirkung zwischen Geldbuße und Fahrverbot - im gesamten Rechtsfolgenausspruch keinen Bestand haben. Eine Entscheidung des Senats gemäß § 79 Abs. 6 OWiG kommt nicht in Betracht, weil zu den Folgen des Fahrverbots für den Betroffenen weitere Feststellungen zu treffen sind.

Die Sache war daher in diesem Umfang an das Amtsgericht Schwerte zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, zurückzuverweisen.

Ende der Entscheidung

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