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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 08.09.2006
Aktenzeichen: 2 Ss OWi 456/06
Rechtsgebiete: StVO


Vorschriften:

StVO § 23
StVO § 37
Zum Absehen vom Fahrverbot bei einem geringfügig Beschäftigten.
Beschluss

Bußgeldsache

gegen H.I.

wegen Verkehrsordnungswidrigkeit (fahrlässige Nichtbefolgung eines Wechsellichtzeichens sowie Nichtanlegen eines Sicherheitsgurtes).

Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Bochum gegen das Urteil des Amtsgerichts Herne vom 08. Mai 2006 hat der 2. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 08. 09. 2006 durch den Richter am Oberlandesgericht (als Einzelrichter gem. § 80 a Abs. OWiG) nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft sowie des Betroffenen bzw. seines Verteidigers beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Herne zurückverwiesen.

Gründe:

Der Oberbürgermeister der Stadt Herne hat mit Bußgeldbescheid vom 13. Januar 2006 gegen den Betroffenen wegen Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage bei länger als einer Sekunde Rotphase sowie Nichtanlegen des vorgeschriebenen Sicherheitsgurtes während der Fahrt eine Geldbuße in Höhe von 140,00 € sowie ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats mit der Maßgabe nach § 25 Abs. 2 a StVG festgesetzt, weil der Betroffene am 15. Dezember 2005 um 16.55 Uhr in Herne an der Kreuzung Bochumer Straße/Regenkamp als Führer eines PKW das schon länger als eine Sekunde dauernde Rotlicht einer Lichtzeichenanlage missachtet und während der Weiterfahrt den vorgeschriebenen Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte.

Auf den hiergegen rechtzeitig eingelegten Einspruch des Betroffenen hat das Amtsgericht ihn durch das angefochtene Urteil wegen - tateinheitlich begangener - fahrlässiger Nichtbefolgung eines Wechsellichtzeichens unter Nichtbefolgung der Gurtpflicht zu einer Geldbuße von 200,00 € verurteilt und ihm insoweit eine Ratenzahlung eingeräumt. Von der Verhängung eines Fahrverbots hat es abgesehen.

Zur Sache entsprechen die Feststellungen des angefochtenen Urteils im wesentlichen denen des Bußgeldbescheides. Ergänzend hat die Tatrichtern festgestellt, dass der Betroffene, der sich mit seinem Fahrzeug auf einem Parkplatz im Regenkamp befand, vor dem Ausparken die Grünlicht zeigende Lichtzeichenanlage bemerkt hatte, dann jedoch ohne den vorgeschriebenen Sicherheitsgurt anzulegen losgefahren sei ohne noch einmal die Ampel zu beobachten, die nunmehr bereits für seine Fahrtrichtung länger als eine Sekunde Rotlicht gezeigt habe.

Allein aufgrund der Angaben des Betroffenen, der sich zur Sache im übrigen geständig eingelassen hat, ist die Tatrichterin davon ausgegangen, dass der Betroffene Arbeitslosengeld II bezieht, zusätzlich im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung als Pizzataxi-Fahrer jedoch Einkünfte erzielt. Der nicht verheiratete und kinderlose Betroffene habe insgesamt ein Einkommen von ca. 800,00 € monatlich zur Verfügung, die Pizzataxi-Fahrten führe er zweimal wöchentlich (nach Bedarf) zwischen ca. 17.00 und ca. 22.00 Uhr durch. Ab dem Monat Juni 2006 sei jedoch eine Ausweitung des Beschäftigungsverhältnisses mit einer Verdoppelung der Arbeitszeit geplant. Ferner sei nach Eröffnung einer weiteren Filiale eine ganztägige Beschäftigung in Aussicht genommen.

Darüber hinaus soll der Betroffene verkehrsrechtlich noch nicht Erscheinung getreten sein.

Zur Rechtsfolge hat das Amtsgericht folgendes ausgeführt:

"Im vorliegenden Fall sieht das Gericht ausnahmsweise von der Verhängung des Fahrverbots und Erhöhung der Geldbuße ab, da das Fahrverbot für den Betroffenen bedeuten würde, seine Arbeitsstelle und die Aussichten auf ihren Ausbau zu verlieren.

Es kann nicht Aufgabe des Bußgeldverfahrens sein, einem Betroffenen seine Erwerbstätigkeit zu erschweren oder gar zu verhindern, und zwar gerade in Zeiten, in denen Arbeitsplätze Mangelware sind.

Der Betroffene zeigt durch sein Arrangement im Hinblick auf seine Tätigkeit, dass er unbedingt arbeiten will, auch wenn sich das wegen der Besonderheiten des Sozialrechtes nicht unbedingt auszahlt. Es wäre unbillig, ihn durch ein Fahrverbot daran zu hindern, was auch letztlich wieder zu erhöhten Sozialausgaben führen würde.

Zu berücksichtigen ist des weiteren, dass der Betroffene verkehrsrechtlich noch nicht Erscheinung getreten ist und dass es sich letztlich um ein Augenblicksversagen im Straßenverkehr handelte."

Gegen dieses Urteil richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde der in der Hauptverhandlung nicht vertreten gewesenen Staatsanwaltschaft. Ihre Rechtsbeschwerde hat die Staatsanwaltschaft in zulässiger Weise auf die Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs beschränkt und sowohl mit der Sachrüge als auch mit einer Verfahrensrüge näher begründet.

Die Generalstaatsanwaltschaft, die der Rechtsbeschwerde mit ergänzenden Ausführungen beigetreten ist, hat in ihrer dem Betroffenen bekanntgegebenen Stellungnahme hierzu u. a. folgendes ausgeführt:

"Dem ausweislich seiner Begründung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft Bochum trete ich bei und schließe mich seiner Begründung an.

Ergänzend bemerke ich:

Rüge einer Verletzung formellen Rechts:

Die Rüge, das Gericht habe seiner sich aus § 244 Abs. 2 StPO ergebenden Aufklärungspflicht nicht genügt, ist in der gemäß § 79 Abs. 3 OWiG, § 344 Abs. 2 S. 2 StPO gebotenen Form ausgeführt worden und damit zulässig.

Sie ist auch begründet.

Das Amtsgericht hat es rechtsfehlerhaft unterlassen, im Rahmen der von ihm zu treffenden Rechtsfolgenentscheidung die sich aus dem Verkehrszentralregisterauszug vom 05.01.2006 ergebenden Vorbelastungen des Betroffenen zu berücksichtigen. Soweit dem Register zu entnehmen ist, dass der Betroffene durch Urteil des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 10.08.1999 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tatmehrheit mit zwei nicht registerpflichtigen Straftaten, davon in einem Fall in Tateinheit mit einer nicht registerpflichtigen Straftat, rechtskräftig seit demselben Tag, zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen und einer Sperrfrist von sechs Monaten verurteilt worden ist, läuft die Tilgungsfrist für diese Entscheidung gemäß § 29 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 StVG mit Ablauf des 10.08.2009 ab. Hinsichtlich des gegen den Betroffenen unter dem 31.10.2002 durch die Bußgeldbehörde der Stadt Herne erlassenen Bußgeldbescheides wegen einer Ordnungswidrigkeit (Geschwindigkeitsüberschreitung von 22 km/h) gemäß §§ 24 StVG, 41 Abs. 2, 49 StVO verhängten Geldbuße von 50,00 EUR, rechtskräftig seit dem 23.11.2002, beträgt die Tilgungsfrist gemäß § 29 Abs. 6 Satz 4 StVG fünf Jahre.

Rüge einer Verletzung materiellen Rechts:

Darüber hinaus deckt auch die auf die Sachrüge hin gebotene Überprüfung des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler auf, soweit das Amtsgericht von der Verhängung eines Fahrverbots gegen den Betroffenen abgesehen hat.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts liegen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. Nr. 132.2 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV vor, so dass ein Regelfall der groben Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers im Sinne von § 25 Abs. 1 StVG indiziert ist.

Besonderheiten, die gemäß § 4 Abs. 4 BKatV Anlass geben könnten, von der daher regelmäßig gebotenen Anordnung eines Fahrverbotes in vorliegendem Fall abzusehen, sind den Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht zu entnehmen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn der festgestellte Lebenssachverhalt zugunsten des Betroffenen so erhebliche Abweichungen vom Normalfall aufweist, dass die Annahme eines Ausnahmefalls gerechtfertigt ist und die Verhängung eines Fahrverbots trotz der groben bzw. beharrlichen Pflichtverletzung unangemessen wäre, wobei das Vorliegen erheblicher Härten oder einer Vielzahl für sich genommen gewöhnlicher oder durchschnittlicher Umstände ausreicht. Einen solchen Ausnahmefall kann zwar insbesondere der drohende Verlust des Arbeitsplatzes oder der Verlust der sonstigen wirtschaftlichen Existenzgrundlage begründen (zu vgl. Senatsbeschluss vom 06.02.2006 - 2 Ss OWi 31/06 - m. w. N.). Der Tatrichter hat dann jedoch im Rahmen der von ihm insoweit zu treffenden Entscheidung die Gefährdung des Arbeitsplatzes oder der wirtschaftlichen Existenzgrundlage des Betroffenen positiv festzustellen und die seiner Einschätzung zugrundeliegenden Tatsachen in den Urteilsgründen eingehend darzulegen (zu vgl. OLG Hamm, Beschlüsse vom 22.08.2002 - 3 Ss OWi 620/02 - und vom 20.09.2005 - 3 Ss OWi 610/05 - m. w. N.).

Diesen Anforderungen genügen die Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht. Es wird diesbezüglich nicht deutlich, aus welchen Umständen oder Tatsachen der Tatrichter seine Überzeugung herleitet, der Betroffene werde im Falle der Verhängung eines Fahrverbots seinen Arbeitsplatz verliegen. Auch wird nicht dargelegt, aus welchen Gründen ein anderweitiger Einsatz des Betroffenen im Unternehmen ausscheiden soll oder der Betroffene nicht in der Lage sein sollte, die beruflichen Auswirkungen des Fahrverbots dadurch abzumildern, dass es entsprechend der ihm gemäß § 25 Abs. 2 a StVG einzuräumenden Vier-Monats-Frist während des Jahresurlaubs vollstreckt wird.

Die aufgezeigten Begründungsmängel gebieten die Aufhebung des Urteils im gesamten Rechtsfolgenausspruch, da zwischen der verhängten Geldbuße und dem Fahrverbot eine Wechselwirkung besteht. Da insoweit weitere Feststellungen zu treffen sind, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Herne zurückzuverweisen. Eine Entscheidung des Senats gemäß § 79 Abs. 6 OWiG kommt nicht in Betracht."

Diesen zutreffenden Ausführungen tritt der Senat bei und verweist ergänzend u. a. auf seine Entscheidungen vom 27. April 2006 in 2 Ss OWi 160/06 und vom 20. Mai 2005 in 2 SsOWi 108/05.

Zudem ist nicht ersichtlich, worin nach den getroffenen Feststellungen ein Augenblicksversagen im Sinne der obergerichtlichen Rechtsprechung liegen könnte. Weder ein sogenannter Mitzieheffekt noch sonstige den Betroffenen entlastende Umstände sind festgestellt. Vielmehr lässt seine Fahrweise ein erhöhtes Maß an Unaufmerksamkeit erkennen.

Nach alledem war das Urteil hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs aufzuheben und die Sache insoweit an das Amtsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, zurückzuverweisen.

Die Ausführungen im Schriftsatz des Verteidigers vom 1. September 2006 geben zu einer anderen Entscheidung keinen Anlass, zumal die dortigen Darlegungen allein durch den Tatrichter zu prüfen und festzustellen sind.

Ende der Entscheidung

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