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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 30.01.2002
Aktenzeichen: 2 Ws 269/01
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 56 f
Zur Berücksichtigng des Vertrauensschutzes im Widerrufsverfahren.
2 Ws 241/01 2 Ws 269/01

Beschluss Strafsache gegen R.G., wegen Raubes u.a. (hier: Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung bezüglich der Strafreste in zwei Verfahren).

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 20. Juli 2001 gegen die Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum vom 18. April 2001 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 30. 01. 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

1. Die Verfahren werden zur gemeinsamen Behandlung und Entscheidung verbunden.

2. Die angefochtenen Beschlüsse werden aufgehoben.

Die Anträge der Staatsanwaltschaft Essen vom 15. Februar 2000 auf Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung werden abgelehnt.

3. Die Freiheitsstrafen aus

a) dem Urteil der IV. großen Strafkammer des Landgerichts Essen vom 26. September 1991 (18 Js 336/91) und

b) des Amtsgerichts - Schöffengerichts - in Essen vom 15. August 1990 (18 Js 187/90) werden - soweit sie noch nicht verbüßt sind - erlassen.

4. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der dem Verurteilten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe:

Der Verurteilte ist in dem Verfahren 18 Js 187/90 StA Essen durch Urteil des Amtsgerichts - Schöffengerichts - Essen vom 15. August 1990, rechtskräftig seit dem 28. August 1991, wegen eines am 19. Februar 1990 begangenen versuchten Raubes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden.

Ferner ist er in dem Verfahren 18 Js 336/91 StA Essen durch Urteil des Landgerichts Essen vom 26. September 1991, rechtskräftig seit dem 3. Januar 1992, wegen eines am 12. Juni 1991 begangenen gemeinschaftlichen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden.

Einen Teil der Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verbüßte er bis zum 15. August 1994. Im Anschluss daran erfolgten noch weitere Vollstreckungen, u.a. auch diejenige der Freiheitsstrafe von einem Jahr aus dem Urteil vom 15. August 1990, bis zum 16. Oktober 1995.

Durch Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum vom 27. September 1995, beide rechtskräftig seit dem 18. Oktober 1995, wurde die Vollstreckung der Strafreste von noch 426 Tagen bzw. 60 Tagen zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit wurde jeweils auf drei Jahre - also zunächst bis zum 17. Oktober 1998 - festgesetzt; u.a. wurde der Verurteilte der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt.

Nachdem der Verurteilte durch Urteil des Amtsgerichts Essen vom 6. November 1996, rechtskräftig seit dem 30. Oktober 1997, wegen eines am 13. April 1996 begangenen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden war, die er später auch vollständig verbüßt hat, wurde durch gleichlautende Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum vom 9. März 1998 in den beiden vorliegenden Verfahren die Bewährungszeit jeweils um zwei Jahre - also bis zum 17. Oktober 2000 - verlängert.

Durch Mitteilung des Bewährungshelfers vom 16. August 1999, welche am selben Tage per Telefax einging, erfuhr die Strafvollstreckungskammer, dass sich der Verurteilte seit dem 30. Juli (richtig: Juni) 1999 erneut wegen eines Handtaschenraubes in Untersuchungshaft befinde und Hauptverhandlung für den 20. August 1999 vor dem Amtsgericht Essen terminiert sei. Sodann teilte der Bewährungshelfer am 20. Oktober 1999 mit, dass der Verurteilte in dem neuen Verfahren 16 Js 441/99 StA Essen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden sei, sich weiterhin für jenes Verfahren in Haft befinde, gegen das Urteil jedoch Berufung eingelegt habe.

Am 13. Dezember 1999 ging bei der Strafvollstreckungskammer ein Auszug aus dem Bundeszentralregister ein, aus welchem hervorging, dass der Verurteilte durch Urteil vom 20. August 1999 wegen Raubes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist und dieses Urteil seit dem 5. November 1999 rechtskräftig ist. Eine Abschrift dieses Urteils mit Rechtskraftvermerk ging sodann am 3. Februar 2000 bei der Strafvollstreckungskammer ein.

Die Widerrufsanträge der Staatsanwaltschaft Essen vom 15. Februar 2000 gingen am 17. März 2000 mit den Bewährungsheften bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum ein. Diese versuchte zunächst durch schriftliche Anfragen bei der JVA Essen und der StA Essen den gegenwärtigen Aufenthalt des Verurteilten zu ermitteln.

Da nicht sämtliche Informationen und Mitteilungen in beide Bewährungshefte der vorliegenden Verfahren aufgenommen worden sind, befindet sich nur in dem Bewährungsheft StVK K 1423/95 (= Verfahren 18 Js 187//90 StA Essen) ein Vermerk der Staatsanwaltschaft Essen vom 25. Mai 2000, dass der Verurteilte die Strafe aus dem Urteil vom 20. August 1999 in der JVA Wuppertal verbüße. Sodann wurde dieses Bewährungsheft mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Essen vom 6. Juni 2000 zunächst an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Wuppertal unter Wiederholung des bereits am 15. Februar 2000 gestellten Widerrufsantrags übersandt. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Wuppertal erklärte sich jedoch - zutreffend - für nicht zuständig, weil die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum bereits seit August 1999 mit der Widerrufsfrage befasst war. Am 3. Juli 2000 gelangte das Bewährungsheft StVK K 1423/95 wieder an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum zurück, während das weitere Bewährungsheft StVK K 1424/95 (= 18 Js 336/91 StA Essen) zwischenzeitlich dort verblieben, jedoch nicht weiter bearbeitet worden war.

Erst mit Verfügung vom 5. September 2000 sollte der Verurteilte zum beabsichtigten Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung in beiden Verfahren angehört werden. Diese Anschreiben, die an den Verurteilten in der JVA Wuppertal gerichtet waren, konnten diesen jedoch nicht mehr dort erreichen, weil er möglicherweise nicht nur inzwischen aus der JVA Wuppertal in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt worden war, sondern am 13. September 2000 die durch Urteil vom 20. August 1999 verhängte einjährige Freiheitsstrafe auch bereits vollständig verbüßt hatte.

Nachdem in der Folgezeit die Anschrift des Verurteilten nicht ermittelt werden konnte und auch zu seinem Bewährungshelfer kein Kontakt mehr bestand, erließ die Strafvollstreckungskammer in beiden Verfahren am 12. März 2001 einen Sicherungshaftbefehl.

Daraufhin wurde der Verurteilte am 9. April 2001 in Wuppertal festgenommen. Bis zum 18. April 2001 (10 Tage) befand er sich sodann in dem Verfahren 18 Js 187/90 in Sicherungshaft. Am 18. April 2001 wurde er durch die Strafvollstreckungskammer erstmals zur Frage des Widerrufs - mündlich - angehört. Da der Verurteilte angegeben hatte, bei seiner Verlobten in Wuppertal einen festen Wohnsitz zu haben, wurden noch am selben Tag beide Sicherungshaftbefehle aufgehoben und der Verurteilte entlassen.

Ebenfalls noch am selben Tag erließ die Strafvollstreckungskammer sodann im Hinblick auf die erneute Verurteilung durch das Amtsgericht Essen vom 20. August 1999 in beiden Verfahren die nunmehr angefochtenen Widerrufsbeschlüsse.

Da sich der Verurteilte nach seiner Entlassung am 18. April 2001 jedoch nicht mehr in Wuppertal aufgehalten hat, sondern sich nach Saarbrücken begeben hatte, konnten die Beschlüsse ihm zunächst nicht zugestellt werden. Ein Zustellversuch erfolgte sodann am 21. Mai 2001 unter der Anschrift des Diakonischen Werks in Saarbrücken; dort wurden die Beschlüsse einer Bediensteten des Diakonischen Werks übergeben.

Obwohl der Verurteilte bereits am 18. April 2001 nach Aufhebung der Sicherungshaftbefehle aus der Sicherungshaft entlassen worden war, wurde noch am 27. Juni 2001 in dem Bewährungsheft 1424/95 die Zustellung in der JVA Wuppertal verfügt, während in dem anderen Bewährungsheft 1423/95 zunächst eine Rechtskraftbescheinigung bezüglich des Widerrufsbeschlusses erteilt wurde.

Mit Schreiben vom 20. Juli 2001, welches am 24. Juli 2001 bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum einging und in dem die Aktenzeichen beider Verfahren aufgeführt sind, wendet sich der Verurteilte gegen den Widerruf in beiden Verfahren (Bl. 107 ff. BewH StVK 1424/95). Nach dem Inhalt dieses Schreibens kann davon ausgegangen werden, dass der Verurteilte zu diesem Zeitpunkt - vermutlich durch Vermittlung des Diakonischen Werks in Saarbrücken - Kenntnis von den unter der dortigen Adresse eingegangenen Beschlüssen erhalten hatte, auch wenn eine förmliche wirksame Zustellung noch nicht erfolgt war.

Es liegt damit in beiden Verfahren eine zulässige sofortige Beschwerde gegen die Widerrufsbeschlüsse vom 18. April 2001 vor.

Die später am 17. August 2001 unter der tatsächlichen Anschrift des Verurteilten durch Niederlegung erfolgte Zustellung der angefochtenen Beschlüsse ist somit ohne Bedeutung. Soweit der Verurteilte durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 21. September 2001 - zudem allein in dem Verfahren StVK K 1424/95 - sofortige Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss eingelegt und vorsorglich insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde beantragt hat, kommt es bei der gegebenen Sachlage darauf nicht mehr an. Der Wiedereinsetzungsantrag ist angesichts der rechtzeitig durch den Verurteilten selbst eingelegten sofortigen Beschwerde als gegenstandslos anzusehen.

Die sofortige Beschwerde hat auch in beiden Verfahren Erfolg.

Zwar liegen die Voraussetzungen des § 56 f Abs. 1 Nr. 1 StGB (i.V.m. § 57 Abs. 3 S. 1 StGB) grundsätzlich vor. Der Verurteilte hat nämlich in der - verlängerten - Bewährungszeit am 30. Juni 1999 eine einschlägige Straftat begangen und dadurch gezeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung in den vorliegenden Verfahren zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat.

Der Umstand, dass die Bewährungszeit bereits am 17. Oktober 2000 abgelaufen ist, steht dem Widerruf der Strafaussetzung für sich allein auch nicht entgegen, da eine Höchstfrist, nach deren Ablauf der Widerruf nicht mehr erfolgen darf, im Gesetz nicht vorgesehen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Mai 1998 in 2 Ws 167/98 = NStZ 1998, 478).

Die angefochtenen Beschlüsse können jedoch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes des Verurteilten gleichwohl keinen Bestand haben. Sie wurden zu einem Zeitpunkt erlassen, als das Widerrufsverfahren eine ungewöhnlich lange Verzögerung erfahren hatte und inzwischen Ereignisse eingetreten waren, aufgrund derer der Verurteilte darauf vertrauen konnte, die Aussetzung der Strafreste in den vorliegenden Verfahren werde nicht mehr widerrufen werden (vgl. Beschluss des hiesigen 4. Strafsenats vom 7. September 1987 in 4 Ws 458/87 m.w.N.).

Die Strafvollstreckungskammer hatte bereits am 16. August 1999 Kenntnis von der erneuten Straftat des Verurteilten und seiner Inhaftierung erlangt. Spätestens am 13. Dezember 1999 war ihr bekannt, dass das Urteil des Amtsgerichts Essen vom 20. August 1999 seit dem 5. November 1999 rechtskräftig war. Der Verurteilte befand sich zu diesem Zeitpunkt und noch weitere neun Monate in einer Justizvollzugsanstalt des Landes Nordrhein-Westfalen. In diesem Zeitraum hätte es möglich sein müssen, ihn zumindest zum beabsichtigten Widerruf der Strafaussetzung in den vorliegenden Verfahren anzuhören. Nachdem er sich aber vom 5. November 1999 an für weitere mehr als 10 Monate in Strafhaft befand, konnte er davon ausgehen, dass zumindest in diesem Zeitraum eine Anhörung zum Widerruf der Strafaussetzung oder der Widerruf selbst erfolgte, falls dieser beabsichtigt war. Dieser Vertrauensschutz wurde auch noch dadurch verstärkt, dass sich im Laufe des Jahres 2000 wiederum ein Gericht, nämlich die Strafvollstreckungskammer in Wuppertal in der neuen Sache, mit ihm befasste und über eine vorzeitige Entlassung negativ befand. Auch unter diesem Gesichtspunkt konnte er erwarten, dass in den vorliegenden Sachen - auch wenn hierfür die Strafvollstreckungskammer in Wuppertal nicht zuständig war - ein Widerruf nicht mehr erfolgen würde.

An diesem Ergebnis ändert auch die Tatsache nichts, dass nach seiner Entlassung aus der Strafhaft im September 2000 sein Aufenthalt vorübergehend unbekannt war, da dieser Zeitraum bereits bis auf wenige Wochen nach Ablauf der Bewährungszeiten liegt.

Dass der Verurteilte dann erst am 18. April 2001 erstmals zur Frage des Widerrufs angehört worden ist, beseitigt den einmal entstandenen Vertrauensschutz ebenfalls nicht, zumal er an diesem Tag auch wieder aus der seit 10 Tagen andauernden Sicherungshaft entlassen worden ist.

Da die Straftat vom 30. Juni 1999 somit nicht - mehr - zur Begründung des Widerrufs in den vorliegenden Verfahren herangezogen werden kann, waren die angefochtenen Beschlüsse aufzuheben und die Widerrufsanträge der Staatsanwaltschaft abzulehnen.

Bei der vorliegenden Sachlage konnte der Senat auch - ausnahmsweise - eine Sachentscheidung in Form des Straferlasses in beiden Verfahren treffen, da auch andere Gründe, die zum Widerruf der Strafaussetzung führen könnten, nicht vorliegen. Seit dem Ende der - verlängerten - Bewährungszeit sind inzwischen nahezu eineinhalb Jahre vergangen. Selbst im Falle einer nachträglichen Verlängerung der Bewährungszeit könnte diese Zeit nicht mehr überschritten werden und auch Straftaten, die nach dem 17. Oktober 2000 begangen worden wären, könnten nicht zur Grundlage eines Widerrufs gemacht werden (vgl. OLG Düsseldorf StV 1994, 482).

Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung der §§ 473, 467 StPO.

Ende der Entscheidung

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