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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 12.01.2004
Aktenzeichen: 2 Ws 326/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112
Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr ist nur gegeben, wenn das Verhalten des Beschuldigten aufgrund bestimmter Tatsachen den dringenden Tatverdacht begründet, dass er durch auf sachliche oder persönliche Beweismittel einwirken und dadurch die Ermittlung der Wahrheit erschwert wird. Bloße Vermutungen des Gerichts sind nicht ausreichend.
Beschluss

Strafsache

gegen E.N.

wegen schweren Raubes u.a. (hier: (Haft-)Beschwerde des Angeklagten.

Auf die (Haft-)Beschwerde des Angeklagten vom 22. Dezember 2003 gegen den Haftbefehl der 3. großen Strafkammer des Landgerichts Bochum vom 19. Dezember 2003 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 12. 01. 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Der Haftbefehl vom 19. Dezember 2003 wird aufgehoben.

Gründe:

I.

Dem Angeklagten wird mit der Anklage der Staatsanwaltschaft Bochum vom 22. August 2003 vorgeworfen, am 28. Mai 2003 in Herne als Heranwachsender einen schweren Raub begangen zu haben. Außerdem wird ihm mit einer Anklage vom 27. August 2003 vorgeworfen, in der Zeit vom 28. Mai 2001 bis zum 28. Mai 2003 einen Einbruchdiebstahl oder eine Hehlerei begangen zu haben. Diese Verfahren hat die Strafkammer verbunden. Die Hauptverhandlung hat am 25. November 2003 begonnen.

Der Angeklagte bestreitet die Tatvorwürfe. In der Hauptverhandlung sind inzwischen mehrere Zeugen vernommen worden. Aufgrund der Aussagen eines dieser Zeugen ist gegen den Angeklagten das Verfahren 23 Js 1297/03 StA Bochum eingeleitet worden, in dem dem Angeklagten ein weiterer Raubvorwurf gemacht wird.

Im Hauptverhandlungstermin am 17. Dezember 2003 ist der Angeklagte vorläufig festgenommen worden. Die Jugendkammer hat am selben Tag einen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen, der dem Angeklagten noch am 17. Dezember 2003 verkündet worden ist. Am 19. Dezember 2003 ist dem Angeklagten dann ein neu gefasster Haftbefehl mit dem Inhalt der Anklageschriften vom 22. und 27. August 2003 mit der Änderung durch den Eröffnungsbeschluss vom 16. Oktober 2003 verkündet worden.

Die Jugendkammer hat zum Haftgrund der Fluchtgefahr im Sinn des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ausgeführt, dass der Angeklagte nicht nur im vorliegenden Verfahren, sondern auch im Verfahren 23 Js 1297/03 StA Bochum dringend verdächtig sei, einen schweren Raub begangen zu haben. Im Fall der Verurteilung im vorliegenden und in dem weiteren Verfahren habe er mit einer mehrjährigen Freiheits- oder Jugendstrafe zu rechnen. Der Angeklagte verfüge über keine sozialen Bindungen. Er habe auch am Tattage nicht von der Polizei festgenommen werden können, weil er unbekannten Aufenthalts gewesen sei. Schließlich sei er zusammen mit einer anderen Person in Süddeutschland aufgegriffen worden, was für die Annahme spreche, dass er sich dem Verfahren durch Flucht entziehen werde.

Den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO hat die Jugendkammer darauf gestützt, dass der Angeklagte auf Zeugen eingewirkt und diese veranlasst habe, falsche Angaben vor Gericht zu machen. Diese hat sie u.a. damit begründet, dass diese dem Angeklagten, mit dem sie persönlich bekannt seien, durch ihre Aussage bewusst wahrheitswidrig ein Alibi hätten verschaffen wollen. Dies hat die Jugendkammer aus Widersprüchen in den Aussagen der Zeugen abgeleitet.

Der Angeklagten befindet sich seit seiner vorläufigen Festnahme in Untersuchungshaft. Er hat am 22. Dezember gegen den Haftbefehl der Jugendkammer vom 19. Dezember 2003 Haftbeschwerde eingelegt. Die Jugendkammer hat dieser nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel zu verwerfen.

II.

Die (Haft-)Beschwerde ist gemäß § 304 StPO zulässig und hat auch Erfolg. Der Haftbefehl war aufzuheben. Dabei kann dahinstehen, ob "dringender Tatverdacht" im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO zu bejahen ist. Jedenfalls liegt ein den Haftbefehl rechtfertigender Haftgrund im Sinne des § 112 Abs. 2 StPO nicht vor.

1. Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ist nicht gegeben. Die Jugendkammer hat den Haftgrund der Fluchtgefahr im Wesentlichen mit der zu erwartenden hohen Freiheitsstrafe begründet. Dies ist jedoch nicht zutreffend. Der Senat hat in der Vergangenheit bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass allein eine hohe Straferwartung die Fluchtgefahr nicht begründen kann (vgl. dazu aus der ständigen Rechtsprechung: Senat in StV 1999, 37, 215 mit Anmerkung Hohmann StV 2000, 152; Senat in StraFo 1999, 248; Senat in NStZ-RR 2000, 188 = StraFo 2000, 203 = StV 2001, 115 mit Anmerkung Deckers; Senat in StV 2000, 320; Senat in StV 2001, 685 = StraFo 2002, 23; Senat in StraFo 2002, 177 = StV 2002, 492; Senat in StraFo 2002, 338; Senat in StV 2003, 170, 509; siehe auch die weiteren Nachweise bei Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl., 2003, Rn. 1701). Vielmehr ist die Straferwartung in der Regel nur Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Angeklagte werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten. Entscheidend ist, ob, wie sich aus dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ergibt, "bestimmte Tatsachen" vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, der Angeklagte werde dem in der - hohen - Straferwartung liegende Fluchtanreiz nachgeben und fliehen (so auch OLG Köln StV 1995, 419; Meyer-Goßner, 46. Aufl., § 112 Rn. 24 mit weiteren Nachweisen).

Danach kann vorliegend "Fluchtgefahr" im Sinn von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht bejaht werden. Dabei übersieht der Senat nicht, dass der Angeklagte im Fall der Verurteilung in diesem und in dem Verfahren 23 Js 1297/03 StA Bochum mit einer empfindlichen Freiheits- oder Jugendstrafe rechnen muss. Diese wird nach Überzeugung des Senats sicherlich drei Jahre übersteigen, so dass damit auf jeden Fall die Grenze überschritten ist, ab der nach der Rechtsprechung des Senats eine "hohe" Straferwartung anzunehmen ist (vgl. dazu die o.a. Rechtsprechung des Senats; siehe auch noch OLG Köln StV 1993, 371; 1995, 419; LG Zweibrücken StV 1997, 534).

Der in der hohen Straferwartung liegende Fluchtanreiz wird vorliegend allerdings durch andere Umstände derart gemildert, dass die Annahme, der Angeklagten werde diesem Anreiz nachgeben, nicht gerechtfertigt ist.

Der Angeklagte verfügt nach Auffassung des Senats noch über ausreichende soziale Bindungen. Der gerade 20 1/2 Jahre alte Angeklagte ist zwar arbeitslos, hat aber einen festen Wohnsitz. Er wohnt noch bei seiner Mutter. Dort hat er ein Zimmer. Dahinstehen kann, ob sich sein älterer Bruder in Strafhaft befindet. Aus diesem Umstand lässt sich für eine bei dem Angeklagten bestehende Fluchtgefahr nichts herleiten.

Es trifft zwar zu, dass der Angeklagte am Tattag, dem 28. Mai 2003, von der Polizei nicht in seiner Wohnung angetroffen worden ist. Er hat sich jedoch, was die Jugendkammer offenbar übersehen hat, noch am Tattag selbst bei der Polizei gemeldet und dann gestellt. In der Folgezeit hat er auch allen gerichtlichen Ladungen Folge geleistet und ist zu allen (Hauptverhandlungs)Terminen pünktlich erschienen. Das spricht vor allem deshalb ganz erheblich gegen die Annahme von Fluchtgefahr (vgl. dazu schon Senat in StV 2001, 685 = StraFo 2002, 23), weil der Angeklagte auch nach der Vernehmung von "Belastungszeugen" weiter an der Hauptverhandlung teilgenommen und sich nicht abgesetzt hat.

Soweit die Jugendkammer schließlich darauf abgestellt hat, dass der Angeklagte bei Dritten zu Besuch in Süddeutschland war und auf dem Heimweg schlafend im Pkw aufgegriffen worden ist, ist anzumerken, dass allein aus dem Besuch bei Verwandten oder Freunden kaum geschlossen werden kann, dass sich der Angeklagte dem Verfahren entziehen wollte. Der Angeklagte war durch keinerlei Auflagen an einem solchen Besuch gehindert.

Nach allem sieht der Senat keine Gründe, die die Annahme rechtfertigen würden, der Angeklagte würde sich, wenn er auf freien Fuß käme, dem Verfahren eher entziehen als sich ihm - wie bis zu seiner Verhaftung - zur Verfügung halten. Das gilt insbesondere auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Angeklagte kaum über die finanziellen Mittel verfügen dürfte, um sich durch eine erfolgreiche Flucht dem Verfahren dauerhaft zu entziehen.

2. Auch der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist nicht gegeben. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (StV 2002, 149 (Ls.) = wistra 2001, 238 = StraFo 2002, 140; PStR 2002, 76 = StV 2002, 205 = wistra 2002, 236) besteht der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, wenn das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Tatverdacht begründet, dass er durch bestimmte Handlungen auf sachliche oder persönliche Beweismittel einwirken und dadurch die Ermittlung der Wahrheit erschwert wird (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 112 Rn. 27; Löwe-Rosenberg-Hilger, StPO, 25. Aufl., § 112 Rdnr. 44; KK-Boujong, § 112 Rdnr. 23). Der Verdacht muss durch bestimmte Tatsachen aus dem Verhalten, aus Beziehungen und den Lebensumständen der Beschuldigten begründet sein (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 112 Rdnr. 28; KK-Boujong, § 112 Rn. 27 mit weiteren Nachweisen). Dabei muss das Einwirken des Beschuldigten aktiv erfolgen (OLG Köln StV 1997, 37), das bloße Bestreiten oder das Verweigern einer Einlassung reicht nicht aus. Die bestimmten Tatsachen müssen zwar nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststehen, die bloße Möglichkeit verdunkelnder Handlungen genügt andererseits nicht (OLG Hamm StV 1985, 114; OLG Köln, a.a.O.).

Derartige eine "Verdunkelungsgefahr" begründende Umstände liegen nicht vor. Es lässt sich der Akte nicht entnehmen, dass der Angeklagte aktiv auf die Zeugen, die zu seinen Gunsten ausgesagt haben, eingewirkt oder andere Beweismittel manipuliert hat. Dabei kann dahinstehen, ob diese Zeugen tatsächlich, wie die Jugendkammer meint, "bewusst wahrheitswidrig" ausgesagt haben. Denn ein aktives Einwirken des Angeklagten auf die Zeugen mit dem Ziel, dass diese zu seinen Gunsten falsch aussagen, lässt sich nicht feststellen. Die - gegenteilige - Annahme der Jugendkammer beruht lediglich auf einer nicht durch Tatsachen belegten Vermutung. Aus dem Umstand, dass die Zeugen möglicherweise falsch ausgesagt haben, lässt sich ebenso wenig etwas anderes herleiten wie aus den Widersprüchen, in die sie sich nach Überzeugung der Jugendkammer verwickelt haben sollen, wie schließlich daraus, dass der Angeklagte mit den Zeugen persönlich bekannt ist. Entscheidend ist ein aktives Einwirken des Angeklagten auf die Zeugen. Das wird durch diese Umstände aber nicht belegt.

Nach allem war damit der Haftbefehl der Jugendkammer vom 19. Dezember 2003 aufzuheben.

Ende der Entscheidung

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