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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 07.02.2001
Aktenzeichen: 20 U 117/00
Rechtsgebiete: AUB 88


Vorschriften:

AUB 88 § 11
Leitsatz:

1)

Behält sich keine Partei eine Neufestsetzung nach § 11 IV AUB vor, ist für die Bemessung der Invalidität die Jahresfrist bzw. der Zeitpunkt der Festsetzung durch den Versicherer maßgebend.

2)

Ob hinsichtlich § 11 IV AUB 88 generell eine Belehrungspflicht besteht, bleibt offen.

3)

Eine solche Hinweispflicht besteht wenigstens dann und ist verletzt, wenn der Versicherer nach § 12 III VVG belehrt, ohne auf die Möglichkeit des § 11 IV AUB 88 hinzuweisen.


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

20 U 117/00 OLG Hamm 2 O 365/99 LG Dortmund

Verkündet am 7. Februar 2001

Lammers, Justizangestellte als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts

In dem Rechtsstreit

hat der 20. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 7. Februar 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Knappmann und die Richter am Oberlandesgericht Rüther und Meißner

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten und die Anschlußberufung der Klägerin gegen das am 4. Mai 2000 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund werden zurückgewiesen.

Die Kosten der Berufungsinstanz werden zu 63 % der Klägerin und zu 37 % der Beklagten auferlegt.

Der Klägerin bleibt vorbehalten, die Zwangsvollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 3.000,00 DM abzuwenden, sofern nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Beide Parteien können Sicherheitsleistung durch Bankbürgschaft erbringen.

Tatbestand:

Die heute 56 Jahre alte Klägerin unterhält bei der Beklagten eine Unfallversicherung, der die AUB 88 zugrunde liegen. Die Versicherungssumme beläuft sich auf 239.000,00 DM. Es besteht eine Progressionsvereinbarung, die ab einer Invalidität von 25 % einsetzt und in der Spitze bis auf 300 % steigt.

Am 08.03.1997 verletzt sich die Klägerin mit einer Kettensäge, als sie einen gefällten Baum entasten wollte. Sie geriet mit der Sägekette an die Außenseite des linken Unterschenkels im Bereich des Sprunggelenks. Es kam zu einer ausgedehnten Weichteilverletzung mit Durchtrennung des nervus tibialis, der arteria tibialis posterior, des musculus flexor digitorum und ausgedehnten Unterhautfettgewebszerreißungen. Die Verletzungen sind nicht folgenlos verheilt. Der Grad der daraus resultierenden Invalidität ist zwischen den Parteien streitig.

Die Beklagte holte vorgerichtlich zwei Gutachten ein, ein neurologisches Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. R das dieser am 12.01.1999 erstattete, und ein orthopädisches Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. M vom 21.01.1999. Dr. R bewertete die dauerhafte Schädigung des nervös tibialis mit 1/3 Fußwert; Dr. M gelangte unter Berücksichtigung dieses Gutachtens zu einer Invalidität von insgesamt 2/7 Beinwert. Wegen der Einzelheiten dieser Gutachten wird auf die Ablichtungen Bl. 7-30 d.A. Bezug genommen. Die Beklagte machte sich die Beurteilung des Orthopäden Dr. M zu eigen und erbrachte an die Klägerin Leistungen in Höhe von 47.800,00 DM, entsprechend einer 20 %igen Invalidität bei einem Dauerschaden von 2/7 Beinwert.

Mit dieser Bewertung war die Klägerin nicht einverstanden. Sie hielt eine dauerhafte Beeinträchtigung von 4/7 Beinwert für gegeben. Unter Außerachtlassung der getroffenen Progressionsvereinbarung hat sie deshalb zunächst Klage auf Zahlung weiterer 47.800,-00 DM erhoben und diese - nach Vorlage eines gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachtens - auf Zahlung weiterer, über die bereits vorgerichtlich gezahlten 47.800,00 DM hinausgehender 84.367,09 DM nebst Zinsen erhöht.

Das Landgericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme der Klägerin weitere 47.800,00 DM zuerkannt und die Klage im übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Z der er sich anschließe, liege ein Dauerschaden von 3/7 Beinwert vor. Die deshalb bestehende Invalidität von 30 % führe nach der Progressionstabelle zu einem Anspruch von 40 % der Versicherungssumme. 47.800,00 DM seien bereits vorgerichtlich gezahlt. Es bestehe deshalb noch ein Restanspruch von weiteren 47.800,00 DM.

Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung, mit welcher sie abändernd Klageabweisung erstrebt. Sie ist der Ansicht, maßgebender Zeitpunkt für die Bemessung des Invaliditätsgrades sei der Zeitpunkt der Begutachtung durch den Orthopäden Dr. M, weil hier die Richtigkeit der Erstbemessung durch die Beklagte Streitgegenstand sei. Eine Neubemessung gem. § 11 IV AUB 88 liege sachlich nicht vor. Sie bestreitet, daß zu diesem maßgeblichen Zeitpunkt eine Invalidität von 30 % vorgelegen habe.

Soweit sie zunächst bestritten hat, daß die vom Landgericht zugrundegelegte Progressionsstaffel zwischen den Parteien vereinbart gewesen sei, hat sie dieses Bestreiten im Senatstermin nicht mehr aufrechterhalten.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Nachdem sie im Wege der Anschlußberufung zunächst die Zahlung weiterer 95.500,00 DM begehrt hatte, hatte sie diesen Antrag im Senatstermin teilweise zurückgenommen und beantragt nunmehr, unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin über den erstinstanzlich ausgeurteilten Betrag hinaus weitere 71.700,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 05.03.1999 zu zahlen.

Sie wiederholt und vertieft ihr Vorbringen zum Grad der Invalidität, den sie weiterhin mit 4/7 bewertet und daraus nach der Progressionstabelle einen Gesamtanspruch in Höhe von 167.300,00 DM errechnet.

Die Beklagte beantragt,

die Anschlußberufung der Klägerin zurückzuweisen.

Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die in der Akte befindlichen Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch ergänzende Anhörung des Sachverständigen Prüf. Dr. Z. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Berichterstattervermerk verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I. Berufung der Beklagten

1.

Im Senatstermin ist unstreitig geworden, daß dem hier zugrunde liegenden Versicherungsvertrag eine Progressionsvereinbarung nach Modell II. - 300 % - zugrundegelegen hat.

2.

Die Beklagte ist der Ansicht, das Landgericht habe hinsichtlich des maßgeblichen Zeitpunkts für die Bemessung der Invalidität auf denjenigen der Begutachtung durch den gerichtlich hinzugezogenen Sachverständigen Prof. Dr. Z und damit auf den falschen Zeitpunkt abgestellt. Hier gehe es um die Überprüfung der Erstbemessung. Maßgeblich sei deshalb derjenige Zeitpunkt der Begutachtung durch denjenigen Sachverständigen, auf dessen Ausführungen die Beklagte als Versicherer ihre Erstbemessungsentscheidung gestützt habe. Mit dieser Auffassung befinde sich die Beklagte in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats (VersR 1998, 1273). In dieser Entscheidung hatte der Senat ausgeführt und begründet, daß es bei einer Erstbemessung für die Überprüfung der Entscheidung des Versicherers in der Regel nur auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung ankommt, wenn sich - wie vorliegend - keine der Parteien die Neufestsetzung der Invalidität gem. § 11 IV AUB 88 vorbehalten hat.

Es ist der Beklagten im konkreten Fall aber nach den Grundsätzen, sich so zu verhalten, wie Treu und Glauben und Rücksicht auf die Verkehrssitte es gebieten (§ 242 BGB), verwehrt, sich auf diesen Grundsatz zu berufen. Daraus folgt, daß im Ergebnis für die Beurteilung des Grades der Invalidität derjenige Zustand maßgebend ist, der sich am Ende der Dreijahresfrist des § 11 IV AUB 88 darstellt. Denn die Beklagte hat die Klägerin am Ende ihres Abrechnungsschreibens vom 05.03.1999 mit welchem sie ihre Erstfestsetzung der Klägerin dargelegt und diese begründet hat, falsch über die Möglichkeit eines Nachprüfungsverfahrens gem. § 11 IV AUB 88 belehrt. Am Ende dieses Schreibens findet sich ein Absatz mit der Überschrift "Besondere Hinweise über Rechtsbehelfe und deren Folgen". Darin heißt es:

"Das Verfahren bei Meinungsverschiedenheiten regeln die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB). Danach sind die ordentliche Gerichte zuständig.

Sie können also Ihren vermeintlichen Anspruch nur noch innerhalb einer Frist von 6 Monaten gerichtlich geltend machen. Die Frist beginnt an dem Tag, an dem Sie unsere Erklärung über Ihren Leistungsanspruch erhalten haben. Wenn Sie diese Frist versäumen, verlieren Sie allein aus diesem Grund endgültig Ihren Versicherungsanspruch. Das bedeutet: Sie büßen nicht nur die gerichtliche Einspruchsmöglichkeit ein, sondern haben auch keinen Versicherungsanspruch über diesen Schadenfall mehr."

Diese Belehrung, die erkennbar nur auf die Rechtsfolgen des § 12 Abs. 3 VVG zugeschnitten ist, enthält keinen Hinweis auf die Möglichkeit eins Nachprüfungsverfahrens gem. § 11 IV AUB 88, sondern schließt ihrem Wortlaut nach die Möglichkeit eines solchen Nachprüfungsverfahrens geradezu aus. Nach dieser Belehrung besteht nämlich "nur" die Möglichkeit eines Klageverfahrens zur Überprüfung der Erstentscheidung. Eine solche Belehrung ist falsch, weil unvollständig. Zwar verkennt der Senat nicht, daß nach seiner eigenen Rechtsprechung (VersR 90, 965, so auch Grimm, Unfallversicherung, Rn. 25 zu § 11 AUB 88 m.w.N.) der Versicherer nicht verpflichtet ist, einen Versicherungsnehmer über die Möglichkeit eines Nachprüfungsverfahrens gem. § 11 IV AUB 88 zu belehren. Das gilt aber jedenfalls dann nicht, wenn sich der Versicherer überhaupt entschließt, den Versicherungsnehmer zu belehren. Denn eine Falschbelehrung ist durch diese Rechtsprechung nicht sanktioniert. Nimmt ein Versicherer - wie hier - dem Versicherungsnehmer durch die Wahl des Wortlauts seiner Belehrung die Möglichkeit, ein Nachprüfungsverfahren gem. § 11 IV AUB 88 anzustrengen bzw. sich binnen eines Monats nach der Erstbemessung durch den Versicherer vorzubehalten, dann darf sich der Versicherer später nicht darauf berufen, daß dieser Vorbehalt tatsächlich nicht erfolgt ist. Das hat zur Folge, daß dem Versicherer im konkreten Fall der Einwand verwehrt ist, daß der Zeitpunkt der Erstbemessung maßgebend ist, und daß dadurch praktisch der Zeitpunkt von 3 Jahren nach dem Unfall maßgebend ist, wie ihn § 11 IV AUB 88 bestimmt.

3.

Der zugrunde liegende Unfall hat sich am 08.03.1997 ereignet.

Maßgeblich ist deshalb nach den Ausführungen zu vorstehend 2. der Zustand, der sich am 08.03.2000 darstellte. Der gerichtlich hinzugezogene Sachverständige, der vom Senat ergänzend angehörte Chirurg Prof. Dr. Z hat die Klägerin zeitnah, nämlich am 09.03.2000, untersucht. Er hat überzeugend dargelegt, saß die Klägerin sich eine recht komplexe Verletzung zugezogen habe, hinsichtlich derer aus seiner Sicht im Jahre 1999 noch kein Endzustand prognostizierbar gewesen sei, deren weiterer Verlauf aber auch nicht absehbar gewesen sein. Eine Verschlechterung sei allerdings wahrscheinlicher als eine Verbesserung gewesen. Es sei bei der Verletzung zu einer Durchtrennung des nervus tibalis gekommen. Dieser innerviere die Muskeln, was insgesamt drei Komponenten habe, nämlich vegetative, motorische und sensorische Funktionen. So sei etwa die Ausbildung der Krallenzehen eine folgt der Tatsache, daß die Zwischenzehenmuskeln nicht mehr innerviert würden. Die Taubheits- und Schmerzempfindungen seien demgegenüber Folge der vegetativen Funktionen des nervus tibialis. Es sei durchaus vorstellbar, daß die Schmerzempfindungen nicht nur das Bein erfaßten, sondern in den gesamten Körper ausstrahlten. Bei alledem lägen Bewegungseinschränkungen im oberen und unteren Sprunggelenk vor und es habe sich ein Senk-Platt Spreizfuß ausgebildet. Auf biologisch-medizinisch-funktionaler Seite sei nicht nur der Fuß, sondern das gesamte Bein betroffen und deshalb auch bei der Beurteilung des Grades der Invalidität auf das gesamte Bein abzustellen. Er halte daran fest, daß aus seiner Sicht eine Dauerschädigung von 3/7 Beinwert vorliege. Der Senat teilt diese Einschätzung, die auch mit der Schilderung der Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen durch die Klägerin, die sie zuvor im Senatstermin abgegeben hatte, in Einklang zu bringen sind.

Nach der vereinbarten Progressionsstaffel ergibt sich bei einer Invalidität von 3/7 Beinwert = 30 % ein Anspruch auf Auszahlung von 40 % der Versicherungssumme, wie es auch das Landgericht seiner Entscheidung zugrundegelegt hat. Die Berufung der Beklagten, die abändernd einen niedrigeren Grad der Invalidität festgestellt haben wollte, konnte deshalb keinen Erfolg haben.

II. Berufung der Klägerin

Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß auch da Rechtsmittel der Klägerin, die einen höheren Grad der Invalidität festgestellt haben wollte, keinen Erfolg haben konnte.

III.

Beide Rechtsmittel waren deshalb mit den sich aus §§ 97, 708 Nr. 10 ZPO ergebenden Nebenfolgen zurückzuweisen.

Die Beschwere der Klägerin übersteigt 60.000,00 DM.

Ende der Entscheidung

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