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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 15.09.2000
Aktenzeichen: 20 U 223/99
Rechtsgebiete: VVG, ZPO
Vorschriften:
VVG § 17 Abs. 1 | |
VVG § 16 Abs. 2 | |
VVG § 16 Abs. 1 | |
VVG § 16 Abs. 1 S. 2 | |
VVG § 16 Abs. 1 S. 3 | |
ZPO § 91 | |
ZPO § 708 Ziff. 10 | |
ZPO § 711 | |
ZPO § 713 |
OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
20 U 223/99 OLG Hamm 16 O 291/99 LG Essen
Verkündet am 15. September 2000
Spilker, Justizangestellte als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts
In dem Rechtsstreit
hat der 20. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 15. September 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Knappmann, die Richterin am Oberlandesgericht Brumberg und den Richter am Oberlandesgericht Rüther
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 18. August 1999 verkündete Urteil der 16. Zivilkammer des Landgerichts Essen abgeändert.
Es wird festgestellt, daß der Rücktritt der Beklagten von den Versicherungsverträgen mit der Klägerin, Versicherungsscheinnummern und unwirksam ist.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand und Entscheidungsgründe:
(abgekürzt nach § 543 Abs. 1 ZPO)
I.
Die Klägerin stellte am 25.04.1995 bei der Beklagten einen Antrag auf Abschluß einer Berufsunfähigkeitsversicherung mit monatlichen Rentenleistungen von 1.500,00 DM sowie einer Risikolebensversicherung mit einer Versicherungssumme von 100.000,00 DM und einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung, die bei Eintritt des Versicherungsfalles Beitragsbefreiung in der Lebensversicherung beinhaltet.
Der Antrag, wegen dessen Inhalts auf Bl. 38 d.A. verwiesen wird, wurde durch den Bruder der Klägerin, den Z W der seinerzeit Ausschließlichkeitsagent der Beklagten war, vermittelt. Die in dem Antrag enthaltenen Gesundheitsfragen sind - soweit sie beantwortet worden sind - sämtlich verneint. Die Kästchen zu den Fragen d) (stationäre Behandlungen) und g) (Gefahren im Beruf oder Sport) sind zunächst unbeantwortet geblieben. Die Beklagte sandte deshalb am 05.05.1995 den Antrag an den Z W mit der Bitte um Ergänzung und entsprechende Gegenzeichnung durch die Antragstellerin - die Klägerin - zurück. Der Antrag wurde entsprechend ergänzt, an den zu ergänzenden Stellen mit einer Paraphe - den Anfangsbuchstaben des Namens der Klägerin - versehen und der Beklagten am 22.05.1995 mit dem Bemerken zurückgeschickt, "von der VN unterschrieben". Die zunächst unbeantwortet gebliebenen Fragen sind in der Ergänzung ebenfalls verneint.
Die Klägerin ist seit Geburt auf dem rechten Auge schwachsichtig und auf dem linken Auge stark kurzsichtig. Es bestehen beiderseits Glaskörperdestruktionen. Wegen der Sehbehinderung ist eine Schwerbehinderung zu 50 % anerkannt. Die Klägerin leidet außerdem seit 1994 an Schuppenflechte. 1989 war sie wegen der Entfernung der Gebärmutter in stationärer Behandlung.
Die Beklagte nahm den Versicherungsantrag der Klägerin an und stellte die Versicherungsscheine entsprechend aus. Insoweit wird auf Bl. 3 und 4 d.A. verwiesen.
Mit Schreiben vom 06.08.1998, wegen dessen Inhalts auf Bl. 34 ff. d.A. verwiesen wird, offenbarte die Klägerin der Beklagten, daß sie "die Gesundheitsfragen nicht richtig bzw. nicht vollständig beantwortet" habe, nachdem sie die Beklagte zuvor um Übersendung von Kopien der Anträge und der Originalanträge gebeten hatte. Sie teilte der Beklagten mit, ihr Bruder habe trotz entsprechender Kenntnis der Vorerkrankungen die Anträge nicht richtig ausgefüllt, sie selbst habe die Anträge nicht kontrolliert, sondern ihrem Bruder vertraut. Dieses Schreiben ging bei der Beklagten am 17.09.1998 ein. Unter dem 06.10.1998 erklärte diese den Rücktritt gemäß den §§ 16 Abs. 2, 17 Abs. 1 VVG, weil der Versicherungsvertrag bei wahrheitsgemäßen und umfassenden Angaben über den Gesundheitszustand der Klägerin nicht bzw. nicht zu diesen Bedingungen zustandgekommen wäre.
Die Klägerin will mit der Klage festgestellt wissen, daß der Rücktritt der Beklagten von den Versicherungsverträgen mit den Versicherungsnummer und unwirksam ist.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.
II.
Die gegen diese Entscheidung gerichtete Berufung der Klägerin ist begründet. Der mit Schreiben vom 06.10.1998 erklärte Rücktritt der Beklagten von den beiden mit der Klägerin abgeschlossenen Versicherungsverträgen ist unwirksam; denn die Beklagte war nicht zum Rücktritt berechtigt.
1.
Nach § 16 Abs. 2 VVG kann der Versicherer vom Vertrag zurücktreten, wenn der Versicherungsnehmer entgegen § 16 Abs. 1 VVG einen ihm bekannten gefahrerheblichen Umstand nicht angezeigt hat. Gefahrerheblich sind gem. § 16 Abs. 1 S. 2 VVG solche Umstände, die geeignet sind, auf den Entschluß des Versicherers, den Vertrag überhaupt oder mit dem vereinbarten Inhalt abzuschließen, Einfluß auszuüben. Dabei gelten Umstände, nach denen der Versicherer bei der Schließung des Vertrages ausdrücklich gefragt hat, gemäß § 16 Abs. 1 S. 3 VVG im Zweifel als gefahrerheblich. Daß vorliegend jedenfalls der Sehfehler der Klägerin in der Berufsunfähigkeitsversicherung gefahrerheblich ist, liegt auf der Hand, so daß auf die Darlegung der Risikoprüfungsgrundsätze der Beklagten hier verzichtet werden kann. Die Klägerin zieht schließlich auch selbst nicht in Zweifel, daß die Beklagte die Versicherungsanträge jedenfalls nicht mit dem vereinbarten Inhalt und zu den vereinbarten Konditionen bei Kenntnis ihres Sehfehlers und der darauf beruhenden Schwerbehinderung von 50 % angenommen hätte.
Vorliegend sind auch die diesen gefahrerheblichen Umstand betreffenden Gesundheitsfragen zu b) - leiden oder litten sie in den letzten fünf Jahren an Krankheiten, Störungen oder Beschwerden der Augen? - und f) - bestehen Körperschäden? welche? Grad der Behinderung - objektiv unrichtig mit Ankreuzen des vorgedruckten "nein" beantwortet worden. Auch das räumt die Klägerin mit der Richtigstellung in ihrem Schreiben vom 06.08.1996, wegen dessen Inhalts auf Bl. 34 f. d.A. verwiesen wird, ausdrücklich ein. Schließlich sind auch die Gesundheitsfragen zu h) und d) insoweit falsch beantwortet, als die Klägerin die bestellende Hauterkrankung "Schuppenflechte" unter b) und den Krankenhausaufenthalt im Jahre 1989 unter d) hätte angeben müssen.
2.
Die Beklagte hat jedoch nicht zu beweisen vermocht, daß der Klägerin die Gesundheitsfragen "zur Kenntnis gelangt" sind, und die Behauptung der Klägerin nicht widerlegt, sie habe anläßlich der Antragsaufnahme auf die bestehenden und später im Schreiben vom 06.08.1998 erwähnten Vorerkrankungen ausdrücklich hingewiesen. Die Klägerin behauptet insoweit, ihr Bruder, der Z W habe bei Aufnahme der Anträge die Fragen nicht wörtlich vorgelesen, sondern nur allgemein mit ihr im Beisein der Z R und St über ihren Gesundheitszustand gesprochen, zumal ihm ihre Vorerkrankungen ja bekannt gewesen seien. In diesem Gespräch habe sie ihm alles erzählt und auch die Sehbehinderung und die Uterusentfernung erwähnt, sowie auf die Schuppenflechte hingewiesen. Auch ihr Zigarettenkonsum sei zur Sprache gebracht worden. Ihr Bruder habe jedoch aus Zeitmangel die Anträge nicht in ihrem Beisein ausgefüllt, sondern nur von ihr blanko unterschreiben lassen und erklärt, er werde die Kreuzchen schon setzen. Diesen Vortrag haben die Z R und St ebenso wie der W bei ihrer Vernehmung vor dem Senat übereinstimmend bestätigt. Es ist für den Senat zwar nicht nachvollziehbar, daß der Z W der seit 20 Jahren im Versicherungsgeschäft tätig war, den Augenfehler der Klägerin nicht als Krankheit und Behinderung verstanden und deshalb nicht bei den Gesundheitsfragen angegeben haben will. Das fehlerhafte Verhalten ihres Agenten ist jedoch der Beklagten und nicht der Klägerin anzulasten, auch wenn es sich bei dem Agenten um den Bruder der Klägerin gehandelt hat. Er ist bei Aufnahme des Antrags nicht für die Klägerin, sondern für die Beklagte in seiner Eigenschaft als deren Agent tätig geworden.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß die Klägerin im Zusammenhang mit der Ergänzung des Antrags davon Kenntnis erlangt hat, daß die Gesundheitsfragen von ihrem Bruder falsch beantwortet worden waren, und daß sie zumindest stillschweigend damit einverstanden war, daß der Beklagten diese gefahrerheblichen Umstände nicht offenbart wurden. Die Beklagte hat nämlich nicht zu beweisen vermocht, daß die Klägerin den überwiegend bereits ausgefüllten Antrag gesellen und die offengebliebenen Fragen selbst ergänzt und mit ihrem Namenszug versehen hat. Die Klägerin hat dazu geltend gemacht, kurz nach der Antragsaufnahme habe ihr Bruder sie angerufen und mitgeteilt, die Beklagte habe die Anträge mit der Bitte um Vervollständigung zurückgesandt. Da sie kurz vor Antritt eurer Urlaubsreise gestanden habe, habe er ihr angeboten, die Ergänzung der Anträge für sie zu erledigen. So sei es dann auch geschehen, und ihr Bruder, und nicht sie selbst habe die Paraphe hinter die Antworten auf dem Antragsformular gesetzt. Auch diesen Vortrag der Klägerin hat der Z W bei seiner Vernehmung vor dem Senat bestätigt.
Soweit die Beklagte den Vortrag der Klägerin und die Aussage des Z W für unrichtig hält und demgegenüber behauptet, die Klägerin habe die Paraphe selbst geschrieben, hat sie diesen Vortrag auch mit Hilfe eines graphologischen Gutachtens nicht erbringen können. Der Schriftsachverständige Dipl.-Ing. H hat in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, die Frage, ob die auf dem Antrag befindlichen beiden Paraphen von der Klägerin stammen, sei auf graphischem Weg nicht mit hinreichender Sicherheit beantwortbar. Er hat dazu in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erläutert, die zu überprüfende Schreibleistung biete keine sichere Grundlage für eine halbwegs verläßliche Aussage.
Da demnach nicht festgestellt werden kann, daß die Klägerin ihr zur Kenntnis gebrachte Gesundheitsfragen falsch beantwortet oder zumindest stillschweigend geduldet hat, daß der Beklagten ein Versicherungsantrag mit unrichtig beantworteten Gesundheitsfragen zugeleitet wurde, war die Beklagte nicht zum Rücktritt von den Versicherungsverträgen berechtigt.
Unter Abänderung der angefochtenen Entscheidung war dem Feststellungsantrag der Klägerin daher stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708 Ziff. 10, 711 und 713 ZPO.
Die Beschwer der Beklagten liegt unter 60.000,00 DM.
Ende der Entscheidung
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