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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 25.01.2006
Aktenzeichen: 20 U 89/05
Rechtsgebiete: AUB 94, ZPO, IV AUB 88


Vorschriften:

AUB 94 § 2 Abs. 4
AUB 94 § 7 I Nr. 1
AUB 94 § 7 I Nr. 2 a
AUB 94 § 7 I Nr. 2 c
AUB 94 § 8
ZPO § 407 a
ZPO § 520
ZPO § 531 Abs. 2
ZPO § 543 Abs. 2 Nr. 1
ZPO § 543 Abs. 2 Nr. 2
IV AUB 88 § 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Berufung des Klägers und die Anschlussberufung der Beklagten gegen das am 20.04.2005 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld werden zurückgewiesen.

Die Kosten der Berufungsinstanz werden zu 93 % dem Kläger und zu 7 % der Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Den Parteien bleibt nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des nach dem Urteil vollstreckbaren Betrages abzuwenden, sofern nicht die Gegenseite zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages erbringt.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I.

Der Kläger nimmt die Beklagte aus einer bei dieser im Jahre 1997 genommenen Unfallversicherung (Versicherungssumme 145.000,00 DM), der die D.A.S AUB 94 zugrunde liegen, auf Zahlung einer (weiteren) Invaliditätsentschädigung in Anspruch.

Am 29.09.2000 erlitt der Kläger beim Abkuppeln eines Anhängers einen Arbeitsunfall. Das nicht richtig befestigte Stützrad kippte weg, so dass der Kläger die Last des Anhängers kurzzeitig allein tragen musste. Der Kläger begab sich unmittelbar in ärztliche Behandlung. Dort wurde eine frische Kompressionsfraktur des dritten Lendenwirbelkörpers festgestellt.

Der Kläger meldete der Beklagten den Unfall und beanspruchte eine Invaliditätsentschädigung. Die Beklagte holte das fachorthopädische Gutachten des Orthopäden Dr. U vom 15.10.2001 ein. Dieser stellte eine erhebliche Vorerkrankung infolge einer erheblich herabgesetzten Knochenstabilität fest. Er schätzte den Mitwirkungsanteil durch die Vorerkrankung auf wenigstens 50 % ein. Er kam zu dem Ergebnis, dass unter Berücksichtigung der besonderen Lokalisation im mittleren Lendenbereich als Folge des Unfalles eine Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit von maximal 10 % angenommen werden könne. Als weitere Gesundheitsstörung stellte er einen "Verdacht einer neurotischen Fehlentwicklung, möglicherweise auch somatoforme Schmerzstörung" fest und führte in diesem Zusammenhang aus, dass eine solche psychische Erkrankung in der privaten Unfallversicherung nicht eingeschlossen sei (Bl. 50, 56 d.A.).

Mit Schreiben vom 06.11.2001 rechnete die Beklagte - unter Bezugnahme auf das Gutachten Dr. U - den Unfall auf der Basis eines Invaliditätsgrades von 10 % (14.500,00 DM) unter Berücksichtigung eines Mitwirkungsanteiles von 50 % mit 7.250,00 DM ab.

Der Kläger hat eine unfallbedingte Invalidität von mindestens 80 % behauptet und hierzu ausgeführt:

Eine Vorerkrankung - wie von Dr. U dargelegt - habe nicht bestanden. Vor dem Unfall habe es keine Einschränkungen und Verletzungen gegeben, insb. keine Knochenkalksalzminderung. Eine Behandlung der Lendenwirbel sei vor dem Unfall nicht erforderlich gewesen. Seit dem Unfall leide er unter anhaltenden Rückenschmerzen, die in das linke Bein ausstrahlen würden und unter Geheinschränkungen. Der Bruch sei nicht stabil verheilt. Es komme zu einem tauben Gefühl in beiden Beinen. Dies wirke sich insb. nachts aus, so dass er nur zwei bis drei Stunden täglich schlafe. Unfallbedingt leide er auch unter einer Schwäche im linken Bein sowie intermittierender Harn- und Stuhlinkontinenz. Die aufgetretenen Schmerzerkrankungen und Störungen seien nicht psychischer Natur, es handele sich dabei um neurologische, unfallbedingte Befunde.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 55.602,99 € nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 21.12.2001 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Ansicht vertreten, dass evtl. beim Kläger vorhandene weitergehende psychische Beeinträchtigungen gemäß § 2 IV AUB 94 nicht entschädigungspflichtig seien. Es handele sich um psychische Reaktionen, evtl. um eine neurotische Fehlverarbeitung.

Das Landgericht hat ein fachorthopädisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. X, welches der Sachverständige schriftlich ergänzt hat sowie ein neurologisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. I eingeholt. Es hat - unter Abweisung der Klage im Übrigen - die Beklagte zur Zahlung von 3.706,87 € verurteilt und hierzu ausgeführt:

Der Kläger habe Anspruch auf eine Invaliditätsentschädigung in Höhe von 10 % (14.500,00 DM) und dementsprechend unter Berücksichtigung bereits gezahlter 7.500,00 DM von noch 7.500,00 DM (3.706,87 €). Dies folge aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. X, der ebenso wie Dr. U diesen Invaliditätsgrad festgestellt habe. Bei dem vom Sachverständigen festgestellten Invaliditätsgrad sei der Mitwirkungsanteil bereits zum Unfallzeitpunkt vorhandener Erkrankungen berücksichtigt. Demgegenüber habe der Sachverständige Prof. Dr. I keine Unfallfolgen auf neurologischem Gebiet festgestellt.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger seinen erstinstanzlichen Antrag weiter:

Das Gericht habe sich in unzulässiger Weise auf das Parteigutachten Dr. U berufen. Das Gutachten Dr. X sei nicht verwertbar, zumindest unschlüssig und könne nicht zur Entscheidungsfindung herangezogen werden. Es werde gerügt, dass das Gutachten nicht von Dr. X erstellt worden sei. Dem Gutachten liege eine undifferenzierte Untersuchung vor. Im Gutachten werde ausgeführt, dass die Durchführung von projektionsradiographischen Aufnahmen erforderlich sei. Dieses sei aber nicht erfolgt. Das Gutachten erläutere nicht, warum ein traumatischer Ursprung für den LWK 1 und 2 ausgeschlossen werden könne und bzgl. des LWK 3 nur eine Teilursache vorliege. Der Kläger sei vor dem Unfallgeschehen im Klinikum I untersucht worden. Aus einer dort gefertigten Röntgenaufnahme sei nicht ersichtlich, dass Verletzungen an der LWS bestanden hätten. Die vom Sachverständigen festgestellte Kalksalzminderung existiere nicht.

Mit Schriftsatz vom 13.10.2005 behauptet der Kläger unter Berufung auf das - im sozialgerichtlichen Verfahren vor dem LSG NRW, Az: L 17 U 238/03 eingeholte - Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. E vom 27.09.2005, dass er an einer Somatisierungsstörung (ICD-10: F45 O), die "mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem ursächlichem Zusammenhang mit dem Unfall vom 29.09.2000" stehe, leide. Allein daraus habe sich eine MdE von 30 % ergeben. Es sei deshalb ein weiteres Gutachten einzuholen.

Der Kläger beantragt,

1.) abändernd nach seinen zuletzt gestellten Anträgen zu entscheiden, soweit die Klage abgewiesen worden ist,

2.) die Anschlussberufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

1.) die Berufung des Klägers zurückzuweisen,

2.) teilweise abändernd die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Sie hält am Klageabweisungsantrag fest und greift im Wege der (unselbständigen) Anschlussberufung das Urteil insoweit an, als das Landgericht angenommen hat, dass beim Invaliditätsgrad von 10 % der Mitwirkungsanteil von 50 % bereits enthalten sei. Der Kläger sei mit der erstmals mit der Berufung vorgetragenen Einwendung, Prof. Dr. X habe das Gutachten nicht selbst verfasst, ausgeschlossen. Der Einwand sei auch unbegründet, da der Sachverständige sich die Auswertungen seiner Mitarbeitern Dr. G zu eigen gemacht habe.

Die sachlichen Einwendungen des Klägers habe der Sachverständige bereits in seiner Ergänzung vom 05.01.2004 zurückgewiesen. Eine Röntgenaufnahme könne das Ergebnis einer MR-Tomographie vom 09.11.2000 nicht in Frage stellen. Auch in C sei eine Kalksalzminderung festgestellt worden.

Auf eine (bestrittene) Somatisierungsstörung komme es nicht an, da diese behauptete Invalidität nicht innerhalb des ersten Jahres eingetreten und innerhalb weiterer drei Monate ärztlich festgestellt worden sei. Auch könne der Kläger gesundheitliche Spätschäden, die nach Ablauf von drei Jahren nach dem Unfall eingetreten seien, nicht mehr geltend machen. Im Übrigen greife die Ausschlussklausel des § 2 Abs. 4 AUB.

Der Senat hat den Sachverständigen Prof. Dr. X ergänzend angehört. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Berichterstattervermerk zum Senatstermin vom 25.01.2006 verwiesen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze und der zu den Akten gereichten Anlagen Bezug genommen.

II.

Die zulässigen Berufungen beider Parteien sind unbegründet. Das Urteil des Landgerichts erweist sich im Ergebnis als zutreffend. Die Klage ist in Höhe der zuerkannten 3.706,87 € nebst - nicht angegriffener - Zinsen begründet. Dem Kläger steht gemäß §§ 7 I Nr. 1, Nr. 2 c AUB 94 in Verbindung mit dem Versicherungsvertrag ein Anspruch auf Zahlung einer Invaliditätsentschädigung in dieser Höhe zu. Die Invaliditätsentschädigung bemisst sich nach einem unfallbedingten Invaliditätsgrad des Klägers von 10 %. Bei einer vereinbarten Versicherungssumme von 145.000,00 DM entspricht das einem Betrag von 14.500,00 DM. Unter Berücksichtigung der von der Beklagten bereits gezahlten 7.250,00 DM verbleibt noch ein Anspruch in Höhe von 7.250,00 DM (= 3.706,87 €), den das auch Landgericht ausgeurteilt hat. Die von beiden Parteien mit ihren Rechtsmitteln hiergegen vorgebrachten Einwendungen erweisen sich als unbegründet.

1.) Gem. §§ 7 I Nr. 1 AUB 94 steht dem Kläger ein Anspruch auf Invaliditätsleistung zum Ausgleich der aufgrund des Unfalls vom 29.09.2000 erlittenen dauernden Beeinträchtigungen seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit zu. Dessen Höhe richtet sich nach dem Grad der Invalidität (§ 7 I Nr. 2 AUB 94). Dabei legt die in § 7 I Nr. 2 a AUB 94 vereinbarte Gliedertaxe nach einem abstrakten und generellen Maßstab feste Invaliditätsgrade bei Verlust oder dem Verlust gleichgestellter Funktionsfähigkeit der in ihr benannten Glieder fest. Für den Fall, dass durch den Unfall Körperteile oder Sinnensorgane betroffen sind, die in der Gliedertaxe nicht aufgeführt sind, ist es maßgebend, inwieweit die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit bei medizinischer Betrachtungsweise beeinträchtigt ist (§ 7 I Nr. 2 c AUB 94).

a) Die unfallbedingte für die Bemessung der Invaliditätsentschädigung relevante Invalidität des Klägers auf orthopädischem Fachgebiet beträgt 10 % (§ 7 I Nr. 2 c, § 8 AUB).

aa) Zwischen den Parteien ist nicht im Streit, dass der Kläger durch den Unfall und die dadurch eingetretene Fraktur des LWK3 einen zu entschädigenden - orthopädischen - Dauerschaden erlitten hat. Die Höhe der Invaliditätsentschädigung bemisst sich nach § 7 I Nr. 2 c AUB 94, da die Gliedertaxe bei einem Dauerschaden an der Wirbelsäule nicht anwendbar ist.

bb) Nach dem Ergebnis der ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme beträgt die durch den Unfall eingetretene Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit des Klägers im Ausgangswert 20 %. Dies folgt aus den widerspruchsfreien, von zutreffenden tatsächlichen Feststellungen ausgehenden, nachvollziehbaren und deshalb überzeugenden gutachterlichen Ausführungen und Schlussfolgerungen des Sachverständigen Prof. Dr. X, der dem Senat als besonders sachkundig bekannt ist, im schriftlichen Gutachten vom 11.09.2003, der Ergänzung vom 05.01.2004 in Verbindung mit seinen Ausführungen im Senatstermin vom 25.01.2006. Der Sachverständige hat - unter ergänzender Bezugnahme auf sein schriftliches Gutachten - ausgeführt, dass bei der Bemessung der Leistungsminderung des Klägers auf orthopädischem Fachgebiet unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere auch der Schmerzsymptomatik, von einem Grad von 20 % ausgehen ist. Dem schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an.

cc) Dieser Invaliditätsgrad ist jedoch gemäß § 8 AUB 94 zu kürzen, da bei der Gesundheitsbeschädigung und deren Folgen Krankheiten (regelwidriger Zustand, der ärztliche Behandlung bedarf) oder Gebrechen (dauernder abnormer Gesundheitszustand, der eine einwandfreie Ausübung normaler Körperfunktionen - teilweise nicht mehr zulässt) mitgewirkt haben.

(1) Nach den gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. X bestanden bei dem Kläger bereits vor dem Unfall Wirbelkörperveränderungen. Es handelte sich dabei nicht um einen normalen, altersbedingten Verschleiß (der nicht unter § 8 AUB 94 fallen und eine Kürzung nicht rechtfertigen würde). Der Umstand, dass der Kläger vor dem Unfall - nach eigenen Angaben - symptomlos gelebt hat, spricht nicht gegen diese Bewertung. Zum einen ist eine evtl. Symptomlosigkeit aus gutachterlicher Sicht nicht entscheidend. Zum anderen hat der Sachverständige die krankhaften Veränderungen nach Auswertung der vorhandenen Aufnahmen (insb. der zeitnahen MR-Tomographie der Wirbelsäule vom 09.11.2000) festgestellt. Diese haben neben dem - frischen - Bruch auch ältere Veränderungen gezeigt. Der Sachverständige hat die - unfallunabhängigen - Wirbelkörperveränderungen und den - unfallbedingten - Bruch des LWK 3 insb. auf eine beim Kläger bereits vor dem Unfall vorhandene Knochenkalksalzminderung und auf die hierauf beruhende verminderte Stabilität der Wirbelkörper zurückgeführt. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang einwendet, dass bei einer - nach dem Unfall - in einer Klinik in C durchgeführten Untersuchung eine Kalksalzminderung nicht festgestellt worden sei, so ist dies unzutreffend. Ausweislich des Arztbriefes von Prof. Dr. N vom 23.09.2003, der im Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. I Erwähnung findet (Bl. 216 d.A.), ist in der Klinik in C eine Osteoporose festgestellt worden. Im Gutachten von Prof. Dr. E vom 27.09.2005 wird in einer Diagnose vom 29.11.2000 ebenfalls eine Osteoporose beschrieben (Bl. 340 d.A.). Bei einer Osteoporose handelt es sich um eine Knochenkalksalzminderung.

(2) Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. X, dem der Senat folgt, tragen beide Ursachenketten in vergleichbarer Weise zur Invalidität des Klägers bei. Der Mitwirkungsanteil der Vorerkrankung an der Gesundheitsbeschädigung kann deshalb mit 50 % eingeschätzt werden. Der Anteil beträgt somit mehr als 25 % (vgl. § 8 AUB 94), so dass der Ausgangsinvaliditätsgrad entsprechend, also um 50 %, zu kürzen ist. Die zu entschädigende Invalidität des Klägers auf orthopädischem Fachgebiet beträgt somit 10 %.

dd) Die von dem Kläger gegen das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. X bzw. gegen den Sachverständigen selbst vorgebrachten - weiteren - Einwendungen verfangen nicht.

(1) Das Gutachten ist nicht entgegen § 407 a ZPO erstellt worden. Der Sachverständige hat durch die Erklärung "Einverstanden aufgrund eigener Urteilsbildung" (Bl. 114 d. A.) volle Verantwortung für das Gutachten übernommen (vgl. hierzu OLG Frankfurt VersR 2004, 1121).

(2) Das Landgericht hat sich - entgegen der Auffassung des Klägers - nicht auf das von der Beklagten in Auftrag gegebene Gutachten von Dr. U vom 15.10.2001, sondern auf das Gutachten von Prof. Dr. X gestützt. Aus dem Umstand, dass Prof. Dr. X die gutachterliche Einschätzung von Dr. U teilt, kann der Kläger nichts Gegenteiliges herleiten.

(3) Zu dem - bereits erstinstanzlich erhoben - Einwand des Klägers, der Sachverständige habe eine von ihm für erforderlich gehaltene Untersuchung nicht durchgeführt, hat der Sachverständige bereits in seiner Ergänzung vom 05.01.2004 (Bl. 145 d.A.) nachvollziehbar und erschöpfend Stellung genommen. Der Senat nimmt hierauf Bezug.

b) Demnach hat die Beklagte auf orthopädischem Fachgebiet einen Invaliditätsgrad von 10 % zu entschädigen.

2.) Eine unfallbedingte Invalidität auf neurologischem Fachgebiet besteht beim Kläger nicht. Das hat das Landgericht unter Berufung auf das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. I vom 13.12.2004 (Bl. 202 ff. d.A.) ausführlich und nachvollziehbar begründet. Der Kläger greift diese Feststellungen nicht an (§§ 529 Abs. 1 Nr. 1, 520 Abs. 3 ZPO).

3.) Bei der Bemessung der dem Kläger zustehenden Invaliditätsentschädigung sind unfallbedingte - Beeinträchtigungen der geistigen oder körperlichen Leistungsfähigkeit, die auf psychischen bzw. psychiatrischen Fachgebiet bestehen, nicht zu berücksichtigen.

a) Der Kläger beruft sich zur Begründung seines Anspruches in der Berufungsinstanz (auch) auf das im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholte Sachverständigengutachten von Prof. Dr. E vom 27.09.2005 (Bl. 339 ff. d.A.). Er macht in diesem Zusammenhang geltend, dass die von ihm vorgetragenen dauerhaften Gefühlsstörungen und Schwächezustände am linken Bein sowie die Blasen- und Mastdarmentleerungsstörungen (Inkontinenz) und die damit verbundenen Durchschlafstörungen auf eine unfallbedingte Somatisierungstörung (ICD-10: F45.0) beruhten und daher von der Beklagten zu entschädigen seien.

b) Auf der Grundlage der im Gutachten enthaltenen Feststellungen, die sich der Kläger zu eigen macht, hat die Beklagte evtl. im Zusammenhang mit einer Somatisierungsstörung stehende Dauerfolgen (Gefühlsstörungen, Inkontinenz etc, s.o.) nicht zu entschädigen. Denn diese Folgen fallen nicht unter den Versicherungsschutz.

aa) Entgegen der Auffassung der Beklagten kann dem Kläger allerdings nicht gemäß §§ 531 Abs. 2, 520 ZPO entgegengehalten werden, dass er sich bereits erstinstanzlich auf das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. E bzw. auf die entsprechenden Feststellungen hätte berufen müssen. Das Sachverständigengutachten datiert vom 27.09.2005, so dass es dem Kläger nicht möglich war, dessen Inhalt bereits erstinstanzlich vorzutragen (§ 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Auch innerhalb der bis zum 25.07.2005 laufenden - verlängerten - Berufungsbegründungsfrist war dies dem Kläger nicht möglich.

bb) Der Senat kann letztlich offen lassen, ob sämtliche formellen Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Invaliditätsentschädigung auf psychischem bzw. psychiatrischem Fachgebiet vorliegen.

(a) Zwar dürfte die Somatierungstörung insbesondere innerhalb eines Jahres nach dem Unfall vom 29.09.2000 eingetreten und innerhalb von 15 Monaten ärztlich festgestellt worden sein (§ 7 I Nr. 1 Satz 3 AUB 94).

Entsprechende Feststellungen finden sich bereits im - auf Veranlassung der Beklagten - vom Sachverständigen Dr. U erstatteten Gutachten vom 15.10.2001. Dr. U hat - auch auf der Grundlage der vom Kläger bereits zum damaligen Zeitpunkt beschriebenen Taubheitsgefühle und Inkontinenzbeschwerden, Bl. 41 d.A. - insb. folgende Feststelllungen getroffen

""Heute finden sich folgende Gesundheitsstörungen:

....................

Verdacht einer neurotischen Fehlentwicklung, möglicherweise auch somatoformen Schmerzstörung" (Bl. 50 d.A.):.

"Entscheidend tritt aber auch eine offensichtliche neurotische Fehlentwicklung hinzu, möglicherweise auch im Sinne einer somatoformen Schmerzstörung zu deuten" (Bl. 56 d.A.).

Nach Auffassung des Senats impliziert die Verwendung des Ausdrucks "neurotische Fehlentwicklung" die Unfallbedingtheit und die Dauerhaftigkeit der Erkrankung.

Soweit der Sachverständige weiter ausführt, dass "eine solche psychische Erkrankung grundsätzlich in der privaten Unfallversicherung nicht eingeschlossen" sei (Bl. 56 d.A.), so wird hierdurch die Richtigkeit der vorangegangen Aussage in Bezug auf die Unfallbedingtheit nicht in Zweifel gezogen. Denn es handelt sich bei dieser Aussage nicht um eine tatsächliche Feststellung in medizinischer Hinsicht, zu der der Sachverständige berufen ist, sondern um eine rechtliche Bewertung, die dem Sachverständigen weder obliegt noch zusteht.

(b) Dem Kläger dürfte auch nicht vorgeworfen werden können, die auf die Somatisierungsstörung zurückzuführende Invalidität nicht fristgerecht (15 Monate nach dem Unfall) geltend gemacht zu haben. Zwar ist nicht ersichtlich, dass sich der Kläger innerhalb dieser Frist der Beklagten gegenüber (auch) auf die durch die Somatisierungsstörung ausgelösten Gefühlsstörungen im Bein und auf die Inkontinenz etc. berufen hat. Dies ist jedoch unschädlich. Denn der Kläger beruft sich (auch) darauf, dass es sich bei den geklagten Beschwerden um Folgen der unstreitig fristgerecht geltend gemachten Invalidität aufgrund der Kompressionsfraktur des LWK mit der Folge eines höheren Invaliditätsgrades handelt. Das reicht aus.

Entgegen der Auffassung der Beklagten (vgl. Schriftsatz vom 19.10.2005, Bl. 358) sind diese Schäden nicht nach Ablauf von drei Jahren nach dem Unfall eingetreten.

Dies folgt aus den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. E, der seinen Feststellungen im Gutachten vom 27.09.2005 u.a. Befunde aus dem Jahr 2002 zugrunde gelegt hat (vgl. Bl. 340/341 d.A.).

cc) Letztlich braucht der Senat zur Frage des Vorliegens der formellen Anspruchsvoraussetzungen nicht abschließend Stellung zu nehmen. Denn mögliche unfallbedingte Dauerfolgen des Klägers, die auf einer Somatisierungsstörung beruhen, sind nach § 2 IV AUB 94 vom Unfallversicherungsschutz ausgeschlossen. Bei den vom Kläger dargelegten Folgen der Somatisierungsstörung handelt sich um krankhafte Störungen infolge psychischer Reaktionen im Sinne dieser Klausel.

(1) Die Klausel des § 2 IV AUB 88 - identisch mit dem hier relevanten § 2 IV AUB 94 - ist nach der Rechtsprechung des BGH, die vom Senat geteilt wird, wirksam (vgl. BGH, Urteil vom 23.06.2004, Az: IV ZR 130/03, BGHZ 159, 360 = VersR 2004, 1039; Urteil vom 29.09.2004, Az: IV ZR 233/03, NJW-RR 2005, 32).

(2) Der Bundesgerichtshof hat in den vorgenannten Urteilen weiter ausgesprochen, dass der Ausschluss nicht greife "[f]ür den gesamten Bereich physisch vermittelter Unfallschädigungen" (BGHZ 159, 360 unter II 2 b aa letzter Absatz, vgl. auch ebd. unter II 2 b cc: "durch den Unfall körperlich/organisch betroffen sein muss"; VersR 2004, 1449 unter 2 a (2) letzter Absatz) und auch nicht "für organische Schädigungen, die ihrerseits zu einem psychischen Leiden führen" (VersR 2004, 1449 unter 2 b (2)). Er hat diese Aussage freilich zugleich wieder eingeschränkt und u.a. dahin formuliert, dass Beeinträchtigungen nicht versichert seien, die allein durch ihre psychogene Natur erklärt werden können (BGHZ 159, 360 unter II 1 b; VersR 2004, 1449 unter 2 a (1)). In welchem Umfang psychische Folgen eines unfallbedingten Körperschadens versichert sind, erscheint hiernach noch nicht abschließend geklärt. Nach Auffassung des erkennenden Senats ist der letztgenannte Punkt entscheidend: Von den Folgen eines unfallbedingten Körperschadens sind diejenigen versichert, die etwa in Anbetracht der Schwere des Unfalls oder der eingetretenen Körperschäden gleichsam verständlich oder nachvollziehbar sind und deshalb nicht allein durch ihre psychogene Natur erklärt werden können. Auch bei (mittelbaren) Folgen eines unfallbedingten Körperschadens greift der Ausschluss aber dann, wenn eine Beeinträchtigung nur durch ihre psychogene Natur erklärt werden kann. Letzteres wird insbesondere regelmäßig anzunehmen sein, wenn der Unfall und seine physischen Folgen nur Auslöser einer (evtl. auch latent schon vorhandenen) psychischen Erkrankung sind.

dd) Bei der im Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. E festgestellten Somatisierungsstörung handelt es sich um eine psychische Reaktion im Sinne der vorangegangenen Ausführungen, so dass evtl. darauf beruhende krankhafte Störungen (Inkontinenz etc.) vom Unfallversicherungsschutz ausgeschlossen sind. Denn nach den Ausführungen des Sachverständigen sind die weitergehenden Folgen nicht durch den Bruch des LWK3 (unfallbedingte organische Schädigung unmittelbar) physisch verursacht, sondern sind psychogenen Ursprungs und beruhen auf einer beim Kläger vorhandenen Somatisierungsstörung.

(1) Der Sachverständige Prof. Dr. E hat in diesem Zusammenhang im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

"Bei Herrn L liegt aus psychosomatisch-psychotherapeutischer Sicht eine Somatisierungsstörung (ICD: F45.0) vor. Die Störung steht mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall vom 29.09.2000. Für diesen Zusammenhang spricht die Tatsache, dass Herr L zuvor in seinem Leben niemals psychisch krank und beruflich leistungsfähig war. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass, wäre der Arbeitsunfall nicht eingetreten, früher oder später ein anderes Unfallereignis eine ähnliche Entwicklung ausgelöst hätte. Dies wäre insbesondere dann denkbar, wenn Herr L am Arbeitsplatz weitere Kränkungen und Enttäuschungen hinzunehmen gehabt hätte.

Gemäß den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht wird folgende Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit durch die Somatisierungsstörung gegeben: 30 %. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit hat seit dem Unfallereignis am 29.09.2000 bestanden" (Bl. 349R/350 d.A.).

"Die internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10, Weltgesundheitsorganisation, 200) definiert diese Störungen wie folgt: Charakteristisch sind multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die meist bereits seit einige Jahren bestanden haben, bevor der Patient zum Psychiater überwiesen wird. Die meisten haben in der Primärversorgung und in spezialisierten medizinischen Einrichtungen eine lange und komplizierte Patientenkarriere hinter sich, mit vielen Untersuchungen und ergebnislosen Operationen. Die Symptome können sich auf jeden Köperteil oder jedes Körpersystem beziehen (...)" (Bl. 348 R d.A.)

"Es handelt sich bei Herrn L um die folgenden Symptome, die meines Erachtens im Rahmen der Somatisierungsstörung zu verstehen sind:

- Schmerzen in den Beinen,

- Schwächegefühl in den Beinen,

-Verminderte Empfindungsfähigkeit in den Beinen,

- Stuhl- und Harninkontinenz,

- Sexuelle Funktionsstörung (Erektionsstörung)" (Bl. 348 R/349 d.A.)

"Herr L ist fest davon überzeugt, dass seine Beschwerden eine körperliche Ursache haben, die nur deshalb nicht gefunden wurde, weil Ärzte und Gutachter ihn nicht gründlich genug untersucht haben...Alle Symptome gemeinsam haben den "unbewussten Sinn", Herrn L vor weiteren narzisstischen Kränkungen zu schützen und sein Selbstwertgefühl zu stabilisieren" (Bl. 349 d.A.)

" Bei der Somatisierungsstörung handelt es sich dagegen um multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die sich auf mehrere Körperteile oder Körpersysteme beziehen. In beiden Fällen sind die Betroffenen üblicherweise davon überzeugt, dass für die Symptome eine körperliche Ursache vorliegt. Das fluktuierende Auftreten von Schmerz, Schwächegefühl und Sensibilitätsstörung in den Beinen sowie die Harn- und Stuhlinkontinenz ohne organische Ursache haben mich zu der Diagnose einer Somatisierungsstörung bewogen" (Bl. 350 R/351 d.A.).

(2) Diesen Feststellungen ist zu entnehmen, dass die Störungen, auf welche der Kläger die weitergehende Invalidität stützt, keine unmittelbare organische Ursache haben. Sie werden nicht unmittelbar durch den - unfallbedingten - Bruch des LWK3 oder die daraus resultierenden Beschwerden hervorgerufen. Bei den geklagten Beschwerden handelt es sich um Symptome einer bestehenden psychischen Erkrankung in der Form der Somatisierungsstörung. Diese steht zwar höchstwahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Unfall vom 29.09.2000, ist also dadurch ausgelöst worden, hätte aber auch durch ein anderes Ereignis auftreten können. Insoweit hat sich durch das Unfallereignis lediglich eine beim Kläger aufgrund seiner narzisstischen Persönlichkeitsstruktur latent bestehende "Veranlagung" manifestiert. Der Unfall ist als auslösendes Moment einer bereits vor dem Unfall bestehenden Vulnerabilität zu bewerten (vgl. Bl. 346/347 d.A.). Durch die Beschwerden "schützt" sich der Kläger - unbewusst - vor weiteren narzisstischen Kränkungen; sie "helfen" ihm, sein Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Der Kläger reagiert damit psychisch auf die in seinem Leben aufgetretenen Probleme (Familie, Arbeitsplatz, vgl. Bl. 344 ff. d.A.), die er bislang nicht hinreichend aufgearbeitet hat.

4.) Ist von einer unfallbedingten Gesamtinvalidität des Klägers von 10 % auszugehen, steht ihm - wie vom Landgericht ausgeführt - lediglich eine Invaliditätsentschädigung von insgesamt 14.500,00 DM zu, so dass sowohl die Berufung des Klägers als auch die Berufung der Beklagten unbegründet sind.

III.

Der Senat hat die Revision nach § 543 ZPO Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 zugelassen. Die Zulassung bezieht sich auf den Inhalt und die Reichweite der in § 2 IV AUB 94 aufgenommenen "Psychoklausel", die durch die genannten Urteile des BGH nicht abschließend geklärt worden ist.

IV.

Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Ende der Entscheidung

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