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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 22.04.2008
Aktenzeichen: 3 Ss 106/08
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 21
StGB § 64
Eine Abhängigkeit von Betäubungsmitteln führt für sich allein noch nicht zu einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit. Vielmehr sind nach der Rechtsprechung solche Folgen bei einem Rauschgiftsüchtigen nur ausnahmsweise in folgenden Fallgruppen möglich, nämlich wenn:

- langjähriger Betäubungsmittelkonsum zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt hat,

- der Täter unter starken Entzugserscheinungen zum Tatzeitpunkt gelitten hat und dadurch getrieben wurde, sich mittels einer Straftat Mittel für den Drogenerwerb zu verschaffen,

- das Delikt im Zustand eines aktuellen Rausches verübt wurde oder

- bei Heroin- oder Cracksucht der Täter von der Angst vor Entzugserscheinungen, die der Täter schon als äußerst unangenehm erlebt hat und die er als nahe bevorstehend einschätzt, bei der Tat getrieben wurde.


Tenor:

1. Das angefochtene Urteil wird mit den zugehörigen Feststellungen im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben, soweit eine Unterbringung des Angeklagten in der Entziehungsanstalt unterblieben ist.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts - Strafrichter - Bielefeld zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Bielefeld hat den Angeklagten mit dem angefochtenen Urteil wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt. Nach den Feststellungen des Amtsgericht entwendete der Angeklagte am 15.09.2007 aus den Auslagen der Firma N in C 24 Pakete Tabak zu einem Gesamtverkaufswert von mehr als 112,- Euro. Mangels anderer Finanzquellen wollte er den Tabak entweder unmittelbar gegen Heroin eintauschen oder aber den Erlös aus dem Tabakverkauf zum Heroinerwerb nutzen.

Der Angeklagte konsumiert seit 2003 wieder Heroin (nachdem er zuvor 10 Jahre abstinent war) und zusätzlich auch Kokain. Der Angeklagte war am 06.09.2007 aus einer vierzehnmonatigen Strafhaft entlassen worden. Zu deren Beginn hatte er zwei Wochen lang Methadon erhalten und musste in der Folgezeit ohne weitere Hilfe ohne Heroin auskommen. Nach seiner Entlassung konsumierte er sofort wieder Heroin (2-3 Gramm/Tag). Eine zu diesem Zeitpunkt angedachte Therapie sagte er ab.

II.

Die zulässige Revision hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Im übrigen ist sie unbegründet.

1.

Die Revision ist zulässigerweise auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt worden. Das ergibt sich aus dem Antrag in der Revisionsbegründungsschrift ("das Urteil des Amtsgerichts Bielefeld vom 04.12.2007 im Strafausspruch aufzuheben"), der korrespondiert mit der Ausführung der Sachrüge, welche sich ebenfalls nur gegen die Nichterörterung der Strafmilderung nach den §§ 21, 49 StGB richtet. Demgegenüber scheint der Satz "Das angefochtene Urteil wird der allgemeinen Sachrüge insgesamt zur Nachprüfung gestellt" nicht geeignet, von einer unbeschränkten Anfechung auszugehen. Hierbei handelt es sich offenbar - angesichts der oben genannten Umstände und angesichts des Umstandes, dass dieser Satz auch unter der Überschrift "I. Verfahrensrüge", die aber gar nicht erhoben wird, steht - um ein Versehen.

Da die Feststellungen keinen Anhaltspunkt für eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten nach § 20 StGB geben, ist der Rechtsfolgenausspruch auch getrennt vom Schuldspruch überprüfbar und die Rechtsmittelbeschränkung wirksam.

2.

Das Urteil war im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben, soweit eine Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) unterblieben ist. Im übrigen weist es keine Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.

a) Ein sachlich rechtlicher Mangel liegt darin, dass das Amtsgericht nicht erkennbar geprüft hat, ob eine Maßregel nach § 64 StGB anzuordnen war. Nach den Feststellungen drängte sich eine solche Prüfung auf. Der Angeklagte war zum Tatzeitpunkt bereits langjährig und hochgradig heroinabhängig und konsumierte zudem auch Kokain. Die Tat wurde nach den amtsgerichtlichen Feststellungen zum Zwecke des späteren Erwerbs von Betäubungsmitteln begangen. Eine Therapie war bereits nach der letzten Haftentlassung geplant, aber vom Angeklagten nicht durchgeführt. Soweit der Angeklagte vorbestraft ist, beruhen seine Vortaten nach den amtsgerichtlichen Feststellungen jedenfalls zum Teil auch auf seiner Betäubungsmittelabhängigkeit.

Angesichts dieser Feststellungen liegt es nahe, dass der Angeklagte den in § 64 Abs. 1 StGB beschriebenen Hang aufweist. Hierunter fällt nicht nur eine chronische, auf körperlicher Sucht beruhende Abhängigkeit, sondern es genügt eine eingewurzelte, aufgrund psychischer Disposition bestehende oder durch Übung erworbene intensive Neigung, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, ohne dass dieses den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss (vgl. BGH Beschluss vom 18.07.2007 - 5 StR 279/07; Senatsurteil vom 12.02.2008 - 3 Ss 548/07). Die von dem Angeklagten aufgrund seines Hangs zu erwartenden Taten sind auch erheblich. Bereits die Anlasstat ist eine solche, die über eine bloße soziale Lästigkeit hinausgeht und es sind vom Angeklagten aufgrund seiner Drogensucht eine Vielzahl solcher Taten zu erwarten, die jedenfalls in der Summe durchaus erheblich sind. Seine Gefährlichkeit hat der Angeklagte auch bereits in der Vergangenheit unter Beweis gestellt. So wurde er u.a. wegen Diebstahls mit Waffen und versuchten Raubes, wegen schweren Raubes und wegen gewerbsmäßigen Diebstahls zu empfindlichen vollstreckbaren Freiheitsstrafen verurteilt. Bei der vom Angeklagten zu erwartenden Beschaffungskriminalität ist es zudem häufig nur Zufällen zu verdanken, dass ein Ladendiebstahl nicht in einen räuberischen Diebstahl ausartet.

Dass eine solche Neigung - wie sie bei dem festgestellten Heroinkonsum und dem Zweck der Tat außerordentlich nahe liegt - zur Anordnung der Maßregel des § 64 StGB ausreichen kann, hat das Amtsgericht nicht ersichtlich bedacht. Auch ergibt sich aus den bisherigen Feststellungen nicht, dass eine stationäre Therapie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 64 S. 2 StGB n. F.). Dagegen könnte zwar sprechen, dass der Angeklagte eine geplante Therapie nach der letzten Haftentlassung nicht angetreten hat und er in der Hauptverhandlung meinte, er ginge lieber ins Gefängnis als in eine Therapie, die er sowieso abbrechen würde. Jedoch steht das Fehlen der Therapiewilligkeit einer Maßregelanordnung nach § 64 StGB nicht zwingend entgegen, kann doch gerade eine entsprechende Motivation noch im Maßregelvollzug geweckt werden (vgl. Fischer StGB 50. Aufl. § 64 Rdn. 20 m.w.N.). Der neue Tatrichter wird festzustellen haben, ob dies bei dem Angeklagten noch möglich ist. Der Senat weist in diesem Zusammenhang auf die Regelung des § 246a S. 1 StPO hin.

Die vom Amtsgericht unterlassene Prüfung erweist sich auch nicht deshalb als entbehrlich, weil nach § 64 Abs. 1 StGB n.F. die Maßregel nicht mehr zwingend angeordnet werden muss. Denn das Gericht "soll" die Unterbringung anordnen, wenn die Voraussetzungen des § 64 StGB vorliegen. Lediglich in besonderen Ausnahmefällen darf es von der Unterbringungsanordnung absehen (vgl. BGH Beschl. v. 13.11.2007 - 3 StR 452/07; Senatsbeschluss vom 06.12.2007 - 3 Ss 492/07).

Die Tatsache, dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht einer etwaigen Nachholung der Unterbringung nicht entgegen (OLG Hamm Beschl. v. 13.05.2003 - 4 Ss 316/03; Senatsurteil vom 12.02.2008 - 3 Ss 548/07).

b) Entgegen der in der Revisionsbegründung und (zunächst) in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 18.03.2008 geäußerten Ansicht, liegt im Hinblick auf eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) kein auf die Sachrüge hin zu beachtender Erörterungsmangel vor. Bei der sachlich-rechtlichen Prüfung, ob ein Erörterungsmangel vorliegt, ist allein die Urteilsurkunde Beurteilungsgrundlage (vgl. BGH NStZ-RR 2001, 174, 175; BGH NStZ-RR 2006, 50). Ein Erörterungsmangel ist dann gegeben - dies lässt sich als Ergebnis der Auswertung der höchstrichterlichen Rechtsprechung entnehmen -, wenn im Hinblick auf die Umstände des Falles die Erörterung einer bestimmten Problematik zu erwarten gewesen wäre (BGH NStZ 2001, 475, 476), nahe gelegen hätte (BGH NStZ 2001, 591, 592 f.) bzw. sich aufgedrängt hätte (BGH NStZ-RR 2006, 50), diese aber nicht vorgenommen wurde.

Ein solcher Rechtsfehler liegt hier nicht vor. Nach ständiger höchstrichterlicher und obergerichtlicher Rechtsprechung führt eine Abhängigkeit von Betäubungsmitteln, wie sie das Amtsgericht beim Angeklagten für das Betäubungsmittel Heroin festgestellt hat, für sich allein noch nicht zu einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit (BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 12; Senatsbeschluss vom 30.03.2000 - 3 Ss 101/00; OLG Hamm Beschl. v. 29.04.2002 - 2 Ss 81/02). Vielmehr sind nach der Rechtsprechung solche Folgen bei einem Rauschgiftsüchtigen nur ausnahmsweise in folgenden Fallgruppen möglich (vgl.: Senatsurteil vom 12.02.2008 - 3 Ss 548/07 und Weber BtMG 2. Aufl., Vor § 29 Rdn. 336 ff.), nämlich wenn

- langjähriger Betäubungsmittelkonsum zu schwersten Persönlichkeitsveränderungen geführt hat (BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 12; BayObLG NJW 1999, 1794, 1795),

- der Täter unter starken Entzugserscheinungen zum Tatzeitpunkt gelitten hat und dadurch getrieben wurde, sich mittels einer Straftat Mittel für den Drogenerwerb zu verschaffen (BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 12, 5 und 2),

- das Delikt im Zustand eines aktuellen Rausches verübt wurde (BGH NJW 1981, 1221; BGH NStZ 1989, 17) oder

- bei Heroin- oder Cracksucht der Täter von der Angst vor Entzugserscheinungen, die der Täter schon als äußerst unangenehm erlebt hat und die er als nahe bevorstehend einschätzt, bei der Tat getrieben wurde (BGH NStZ 2006, 151; Senatsbeschluss vom 30.03.2000 - 3 Ss 101/00).

Die Urteilsgründe geben keinerlei Anlass zu einer näheren Erörterung einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit, da Anhaltspunkte für das Vorliegen einer der o.g. Fallgruppen aus ihnen nicht zu entnehmen ist. Der Angeklagte ist zwar langjährig drogenabhängig, von einer schwersten Persönlichkeitsveränderung (vgl. zu diesen Weber a.a.O. Vor § 29 Rdn. 353 ff.) wird aber nichts mitgeteilt. Von starken Entzugserscheinungen oder einem Handeln unter starkem Suchtdruck berichten die Urteilsgründe ebenfalls nichts. Allein der Umstand, dass die Taten der Beschaffung von wirtschaftlichen Mitteln für den Drogenerwerb dienten, lässt auf solche nicht schließen. Von einem aktuellen Rausch bei Tatbegehung ist ebenso wenig etwas bekannt wie davon, dass der Angeklagte aus Angst vor als nahe bevorstehend eingeschätzten, als äußerst unangenehm empfundenden Entzugserscheinungen handelte.

Die von der Revision angeführten Umstände, dass der Angeklagte offenbart habe, dass er sein gesamtes Verhalten danach ausrichte, sich den nächsten "Stoff" zu beschaffen und dass sein Leben in weiten Teilen von seiner Sucht diktiert sei, sind - ungeachtet der Frage, ob dies schon für einen Erörterungsmangel reichen würde - urteilsfremd und daher für das Revisionsgericht unbeachtlich.

c) Auch die Strafzumessung im übrigen sowie die Begründung der Ablehnung der Strafaussetzung zur Bewährung sind frei Rechtsfehlern. Insbesondere hat sich die verhängte Freiheitsstrafe von 8 Monaten angesichts der zahlreichen Vorstrafen, angesichts des Umstandes, dass die vorliegende Tat nur kurz nach der letzten Haftentlassung begangen wurde und angesichts des Umstandes, dass es sich nicht um eine geringwertige Sache handelte, nicht von ihrer Bestimmung eines gerechten Schuldausgleichs gelöst.

Ende der Entscheidung

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