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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 10.05.2007
Aktenzeichen: 3 Ss 35/07
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 251
Maßgebend für eine Verlesung nach § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO ist allein, ob das Einverständnis des Verteidigers und des Angeklagten vorliegen. Auf die Motivation für ein ggf. nicht erklärtes Einverständnis kommt es nicht an.
Beschluss

Strafsache

gegen A.S.

wegen vorsätzlicher Beitragsvorenthaltung u.a..

Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der XIV. kleinen Strafkammer des Landgerichts Bielefeld vom 10.10.2006 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 10. 05. 2007 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft und des Angeklagten bzw. seines Verteidigers gemäß § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:

Tenor:

Das Urteil der XIV. kleinen Strafkammer des Landgerichts Bielefeld vom 10.10.2006 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Bielefeld zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Der Angeklagte war zunächst durch Urteil des Amtsgerichts - Schöffengericht - Bielefeld vom 04.06.2004 wegen vorsätzlicher Beitragsvorenthaltung in 33 Fällen in Tatmehrheit mit verspäteter Konkursanmeldung zu einer Gesamtgeldstrafe von 250 Tagessätzen zu je 20,- € verurteilt worden.

Auf die Berufung des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht Bielefeld unter Zurückweisung der Rechtsmittel im Übrigen das Urteil des Schöffengerichts Bielefeld vom 04.06.2004 abgeändert und den Angeklagten wegen vorsätzlicher Beitragsvorenthaltung in 13 Fällen sowie wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung zu einer Gesamtgeldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 50,- € verurteilt.

Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils hatte der Angeklagte es als Geschäftsführer der Firma "S. Verwaltungs- und Beteiligungsgesellschaft m.b.H.", die wiederum persönlich haftende Gesellschafterin der Firma S. GmbH & Co. mit Sitz in Bielefeld war, unterlassen, zum Stichtag 25.05.1999 trotz der bis dahin eingetretenen Zahlungsunfähigkeit der beiden Gesellschaften Insolvenzantrag zu stellen. Vielmehr wurde zunächst durch Beschluss der Gesellschafterversammlung vom 10.08.1999 der Firmenname sowohl der Verwaltungs-GmbH wie auch der Kommanditgesellschaft in "A.Verwaltungs- und Geschäftsführungsgesellschaft m.b.H." bzw. in "A.GmbH & Co. KG" geändert und am 23.08.1999 in das Handelsregister eingetragen.

Erst am 12.09.1999 stellte der Angeklagte mit zwei handschriftlichen Schreiben vom 11.09.1999, die er am 12.09.1999 jeweils in den Nachtbriefkasten des Amtsgerichts Bielefeld einwarf, sowohl für die Kommanditgesellschaft wie auch für die Komplemenär-GmbH Insolvenzantrag, wobei er als Insolvenzgründe "Zahlungsunfähigkeit bzw. Überschuldung" angab.

Am 13.09.1999 stellte der Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwalt und Steuerberater H.B. gegenüber dem Insolvenzgericht fest, dass nur geringe liquide Mittel oder kurzfristig liquidierbare Vermögenswerte bestünden und dass Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft zweifelsfrei gegeben sei.

Soweit das Landgericht den Angeklagten wegen vorsätzlicher Beitragsvorenthaltung in 13 Fällen verurteilt hat, hat es hierzu folgende Feststellungen getroffen:

"Der Angeklagte führte als Geschäftsführer der Firma S. Verwaltungs- und Beteiligungsgesellschaft mbH die von der Firma S. GmbH & Co geschuldeten Arbeitnehmeranteile zur Gesamtsozialversicherung für die nachfolgend aufgeführten Monate nicht ab:

a) Zum Nachteil der Techniker Krankenkasse:

1. für Oktober 1998 1.299,69 DM,

2. für November 1998 1.153,10 DM,

3. für Dezember 1998 1.174,82 DM,

4. für Januar 1999 1.425,30 DM,

5. für Februar 1999 1.428,12 DM,

6. für März 1999 1.479,02 DM,

7. für April 1999 1.455,63 DM.

Als Arbeitnehmer für diese Kasse waren gemeldet: E.E., M.T. und A.L.. Es handelte sich bei diesen Arbeitnehmern nicht um geringfügig Beschäftigte. Der Beitrag zur Krankenversicherung betrug 13,2 %' zur Rentenversicherung 20,3 %' zur Arbeitslosenversicherung 6,5 % und zur Pflegeversicherung 1,7 %. Die aufgeführten Arbeitnehmerbeiträge waren jeweils zum 15. des Folgemonats fällig.

b) Zum Nachteil der Barmer Ersatzkasse:

1. für November 1998 4.774,69 DM,

2. für Dezember 1998 10.251,46 DM,

3. für Januar 1999 10.114,42 DM,

4. für Februar 1999 3.877,72 DM,

5. für März 1999 7.915,28 DM,

6. für April 1999 8.569,85 DM.

Die aufgeführten Arbeitnehmerbeiträge waren zu entrichten für die Arbeitnehmer pp. Der Beitragssatz für die Krankenversicherung betrug 13,9 %' für die Rentenversicherung 20,3 %' für die Arbeitslosenversicherung 6,5 % und für die Pflegeversicherung 1,7 %. Aufgeführten Arbeitnehmerbeiträge waren jeweils zum 15. des Folgemonats fällig. Unter der genannten Arbeitnehmer waren keine geringfügig Beschäftigten.

Die S. GmbH & Co. war auch in Anbetracht der ganz erheblichen Zahlungsschwierigkeiten bis zum letzten Fälligkeitszeitpunkt - 15. Mai 1999 - noch in der Lage, die aufgeführten Beiträge zu zahlen.

Die Gesellschaft zahlte die Gehälter der 30 Mitarbeiter bis einschließlich Juni 1999m in vollem Umfang. Das Tagesgeschäft wurde, wenn auch unter Schwierigkeiten, fortgeführt. Besonders "drängende" Verbindlichkeiten wurden zum Teil noch bezahlt.

Der Angeklagte als Geschäftsführer der Komplementär- GmbH kannte die an die Sozialkassen abzuführenden Arbeitnehmerbeiträge und Fälligkeiten. Er war durch die Sozialkassen vielfach darauf hingewiesen worden, dass er sich im Falle der Nichtzahlung strafbar machen würde."

In der Beweiswürdigung zur Nichtabführung von Arbeitnehmerbeiträgen hat die Kammer ausgeführt, dass die Lohnsumme der einzelnen Mitarbeiter in den jeweiligen Monaten nicht festgestellt werden konnte, dass die vorenthaltenen Arbeitnehmerbeiträge, soweit sie festgestellt worden seien, aber weder vorgerichtlich noch im vorliegenden Strafverfahren vom Angeklagten oder seinem Verteidiger angezweifelt worden seien.

Zum Vorwurf der Insolvenzverschleppung hat die Kammer im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, dass die Feststellungen zum Zeitpunkt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft u.a. auf der weitgehenden Verlesung des Berichts des Insolvenzverwalters B. vom 20.12.1999 beruhe. Die Verlesung des Berichts des Insolvenzverwalters sei auf Grundlage des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO erfolgt. Das Gericht habe mit den Prozessbeteiligten erörtert, ob der Insolvenzverwalter B. in einem Fortsetzungstermin als Zeuge geladen werden solle. Dies hielten weder der Angeklagte noch sein Verteidiger noch der Vertreter der Staatsanwaltschaft für erforderlich. Der Widerspruch der Verteidigung richtete sich ausdrücklich nicht gegen Verlesung als solche auf der Grundlage des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO. Dagegen hätten der Angeklagte und sein Verteidiger keine Einwände gehabt. Der Widerspruch habe sich vielmehr im Hinblick auf § 97 Abs. 1 S. 3 der Insolvenzordnung ausschließlich, aber auch generell, gegen eine Verwertung von Fakten gerichtet, die dem Insolvenzverwalter aufgrund seines Amtes bekannt geworden seien. Ein solch weitgehendes Verwertungsverbot sehe § 97 Abs. 1 S. 3 Insolvenzordnung aber, wie die Kammer dann im Einzelnen ausführt, nicht vor.

II.

Der Angeklagte hat mit am 17.10.2006 in den Nachtbriefkasten der Bielefelder Justizbehörden eingeworfenem Schreiben seines Verteidigers gegen das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 10.10.2006 Revision eingelegt und die Revision nach der am 15.11.2006 erfolgten Urteilszustellung mit am 15.12.2006 bei den Bielefelder Justizbehörden eingegangenem weiteren Schreiben seines Verteidigers mit der später im Einzelnen ausgeführten Sachrüge sowie mit Verfahrensrügen begründet.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision des Angeklagten gemäß § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.

III.

Die zulässige Revision des Angeklagten hat mit der Verfahrensrüge der Verletzung der §§ 250, 251 StPO hinsichtlich der Verurteilung wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung sowie wegen der Sachrüge hinsichtlich des Vorwurfs der vorsätzlichen Beitragsvorenthaltung in 13 Fällen Erfolg.

1. Soweit der Angeklagte wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung gemäß § 130 b Abs. 1 i.V.m. § 31 a Abs. 1 u. Abs. 4, § 177 a HGB verurteilt worden ist, greift die Verfahrensrüge der Verletzung der §§ 250, 251 Abs. 1 StPO durch.

Aufgrund der zulässig erhobenen Verfahrensrüge ergibt sich anhand der Sitzungsniederschrift über die Hauptverhandlung vom 05.10.2006 hierzu folgender Verfahrensablauf:

"Der Vorsitzende gab bekannt, dass aus dem Bericht des Insolvenzverwalters B. vom 20.12.1999 die Seiten 1 - 12 verlesen werden sollen. Der Angeklagte und sein Verteidiger widersprachen einer Verlesung und Verwertung des Berichts des Insolvenzverwalters B. im Hinblick auf das Verwendungsverbot des § 97 Abs. 1 S. 3 Insolvenzordnung und baten um einen Gerichtsbeschluss.

Es ergeht folgender Gerichtsbeschluss:

Die genannten Seiten sollen verlesen werden. Es wird auf den eingangs verkündeten Kammerbeschluss verwiesen.

Der Beschluss wurde ausgeführt, jedoch wurden die Absätze 6 und 7 auf Seite 9 des Berichts nicht verlesen.

Der Vorsitzende gab bekannt, dass die weiteren Ausführungen auf Seite 12 des Berichts "Erläuterungen zur Vermögensübersicht § 153 Insolvenzordnung" auszugsweise verlesen werden sollen.

Der Verteidiger widersprach einer Verlesung und Verwertung des Berichts des Insolvenzverwalters im Hinblick auf das Verwendungsverbot des § 97 Abs. 1 S. 3 Insolvenzordnung und bat um einen entsprechenden Gerichtsbeschluss.

Es ergeht folgender Gerichtsbeschluss:

Die Seiten ab Seite 12 sollen auszugsweise verlesen werden. Es wird auf den eingangs verkündeten Kammerbeschluss verwiesen."

Diese Verfahrensweise des Landgerichts war fehlerhaft. Der Bericht des Insolvenzverwalters B. ist entgegen § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO verlesen worden, obwohl der Angeklagte und der Verteidiger der Verlesung widersprochen hatten. Damit war die Verlesung dieses Berichtes unzulässig. Für eine prozessordnungsgemäße Verlesung wäre vielmehr in jedem Fall das Einverständnis des Verteidigers und des Angeklagten erforderlich gewesen. Dieses Einverständnis ist aber gerade nicht erklärt worden. Darauf, ob die Motivation für die fehlende Erklärung des Einverständnisses darin lag, dass der Angeklagte und der Verteidiger der Ansicht waren, dass das Verwendungsverbot des § 97 Abs. 1 S. 3 der Insolvenzverordnung der Verlesung entgegenstehe, kommt es nicht an. Maßgebend ist allein, ob das Einverständnis des Angeklagten und seines Verteidigers gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO erklärt worden ist oder nicht. Da es an einer solchen Erklärung fehlt, durfte die Vernehmung des Insolvenzverwalters B. nicht durch die Verlesung seines Berichtes ersetzt werden. Vielmehr hätte der Insolvenzverwalter gemäß § 250 StPO als Zeuge vernommen werden müssen.

Die Rüge der Verletzung der §§ 250, 251 Abs. 1 StPO ist auch nicht deshalb in unzulässiger Weise erhoben worden, weil der genaue Inhalt des verlesenen Berichts des Insolvenzverwalters nicht mitgeteilt worden ist. Der Senat kann sich dieser von der Generalstaatsanwaltschaft vertretenen Ansicht nicht anschließen. Die Mitteilung des Inhalts der fraglichen Urkunde im Rahmen der Verfahrensrüge der Verletzung des §§ 250, 251 Abs. 1 StPO muss nur deshalb erfolgen, damit das Revisionsgericht prüfen kann, ob die Verlesung nicht nach §§ 249, 256 StPO zulässig war (BGH MDR 1978, 989 (H); BGH, StV 1999, 197 L; Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., § 250 Rdnr. 15). Die Verlesung des Berichts des Insolvenzverwalters gemäß § 249 StPO oder gemäß § 256 StPO schied hier aber von vornherein aus, da es sich bei dem Bericht eines Insolvenzverwalters von vornherein nicht um eine Urkunde im Sinne der beiden genannten Vorschriften handeln kann, ohne dass es noch auf die genaue Kenntnis vom Inhalt dieses Berichts ankäme.

2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen vorsätzlicher Beitragsvorenthaltung in 13 Fällen hält der Überprüfung auf die Sachrüge hin nicht Stand. Die Berechnungsdarstellung der verkürzten Beiträge zur Sozialversicherung in den Urteilsgründen genügt nämlich nicht den Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Danach sind bei der Feststellung der monatlichen Beiträge für jeden Fälligkeitszeitpunkt gesondert die genaue Anzahl der Arbeitnehmer, die Beschäftigungszeiten und Löhne sowie die Höhe des Beitragssatzes der örtlich zuständigen Sozialversicherungsträger festzustellen (BGH, Beschluss vom 28.02.2007 - 5 StR 544/06 -, beckRS 2007, 04403; BGHR StGB § 266 a Sozialabgaben 4 und 5; BGH wistra 2006, 425, 426; 17, 18; NJW 2002, 2480, 2483, jeweils m.w.N.), weil sich die Höhe der geschuldeten Beiträge auf der Grundlage des Arbeitsentgelts nach den Beitragssätzen der jeweiligen Krankenkasse bestimmt. Lediglich dann, wenn etwa mangels entsprechender Buchführung die genannten Feststellungen nicht getroffen werden können, kann der Tatrichter auf der Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisse die Höhe der Löhne schätzen und daraus die Höhe der jeweils vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge berechnen (BGH, Beschluss vom 28.02.2005, a.a.O., m.w.N.).

Das Landgericht hätte hier daher für jeden Arbeitnehmer die Beschäftigungszeiten und Löhne feststellen müssen, was es jedoch unterlassen hat. Damit ist die Berechnung der vorenthaltenen Arbeitnehmeranteile zur Gesamtsozialversicherung, wie sie die Kammer vorgenommen hat, für den Senat nicht nachvollziehbar. Darauf, dass die vorenthaltenen Arbeitnehmerbeiträge bei dem Angeklagten oder seinem Verteidiger nicht angezweifelt worden sind, kommt es bereits deshalb nicht an, weil die fehlenden Feststellungen dazu erforderlich sind, die Feststellungen des Tatrichters für das Revisionsgericht nachvollziehbar und nachprüfbar zu machen. Selbst ein entsprechendes Geständnis des Angeklagten würde daran nichts ändern, weil auch dann die Zuverlässigkeit und Richtigkeit des Geständnisses anhand der hier nicht festgestellten Angaben überprüft werden müsste. Die Kammer hat auch nicht ausgeführt, dass die fehlenden Feststellungen von ihr nicht hätten getroffen werden können. Dies hat sie jedenfalls nicht nachvollziehbar dargelegt. Das angefochtene Urteil unterlag daher auch insoweit der Aufhebung.

Ende der Entscheidung

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