Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 04.11.2003
Aktenzeichen: 3 Ss 572/03
Rechtsgebiete: StPO, GVG


Vorschriften:

StPO § 338 Nr. 1
GVG §§ 21 f
1. Eine Richterin am Amtsgericht kann nicht zur ständigen Vorsitzenden einer ordentlichen Strafkammer bestellt werden.

2. Es ist unzulässig, bei vorübergehender Verhinderung des (bisherigen) Vorsitzenden einer kleinen Strafkammer dessen Stell im (neuen) Geschäftsverteilungsplan nicht zu besetzen und statt dessen dort allein einen stellvertretenden Vorsitzenden zu bestimmen.

3. Sind mehrere Richter nach dem Geschäftsverteilungsplan zur Vertretung des Vorsitzenden berufen, so muss der Geschäftsverteilungsplan regeln, in welcher Reihenfolge dies zu geschehen hat, ansonsten ist der Grundsatz des gesetzlichen Richters nicht gewahrt.


Beschluss

Strafsache

gegen B.K:

wegen gefährlicher Körperverletzung

Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der XI. kleinen Strafkammer des Landgerichts Essen vom 2. Juni 2003 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 04. 11. 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Amtsgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch wegen der Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgerichts Gelsenkirchen - Schöffengericht - hat den Angeklagten am 13.5.2002 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Auf die hiergegen eingelegte, auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft Essen hat die XI. kleine Strafkammer des Landgerichts Essen am 2.6.2003 das Urteil des Amtsgerichts Gelsenkirchen aufgehoben und den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 10.2.2003, rechtskräftig seit dem 19.2.2003, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt.

Hiergegen wendet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.

1) Mit der erhobenen Verfahrensrüge macht der Angeklagte u.a. einen Verstoß gegen § 21 f GVG i.V.m. § 338 Nr. 1 StPO geltend.

Hierzu trägt er vor, dass gemäß § 21 f Abs. 1 GVG der Vorsitz in den Spruchkörpern bei den Landgerichten von Vorsitzenden Richtern geführt wird.

Erkennende Richterin in der Hauptverhandlung vom 2.6.2003 sei jedoch ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls und des schriftlichen Urteils Frau Richterin am Amtsgericht Dr. L. gewesen.

Der richterliche Geschäftsverteilungsplan für das Geschäftsjahr 2003 weise für den Vorsitz der XI. kleinen Strafkammer aus:

Vorsitzende: zur Zeit nicht besetzt

stellvertretende Vorsitzende: Ri'in AG Dr. L..

Da es sich um eine Berufungsstrafsache handele, sei ein Fall des § 222 a StPO nicht gegeben, so dass der Besetzungseinwand nicht gemäß § 222 b StPO geltend habe gemacht werden müssen.

In seinem Urteil vom 7.6.1983 ( BGHSt. Bd. 31, S. 389, 392) habe der 4. Strafsenat des BGH ausgeführt, dass die Vorschrift des § 21 f Abs. 1 GVG, nach der den Vorsitz in den Spruchkörpern des Landgerichts die Vorsitzenden Richter führen für Hilfsstrafkammern nicht gelte. In seinem weiteren Urteil vom 22.8.1985 ( BGHSt. Bd. 33, S. 303 ) habe der 4. Strafsenat des BGH diese Rechtsprechung insoweit eingeschränkt, dass eine Hilfsstrafkammer nur vorübergehend eingerichtet werden dürfe. Hieraus folge, dass das Präsidium des Landgerichts Essen nicht für das ganze Geschäftsjahr 2003 von vornherein den Vorsitz der XI. kleinen Strafkammer wegen des " zur Zeit nicht besetzt " -Vermerks quasi insgesamt -und nicht nur vertretungsweise - der stellvertretenden Vorsitzenden, einer Richterin am Amtsgericht, übertragen durfte.

Diese Regelung verstoße gegen § 21 f Abs. 1 GVG, so dass das Urteil gemäß § 338 Nr. 1 StPO aufzuheben sei.

2) Nach dem dem Senat vorliegenden Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts Essen für das Jahr 2003 heißt es auf Seite 32 :

XI. Strafkammer

Vorsitzende( r ): zur Zeit nicht besetzt

Vorsitzende : RinAG Dr. L. (1/2) nachrangig

außerhalb der Hauptverhandlung

SteIIv.Vors. : RLG B.

Auf den Seiten 38,39 heißt es weiter: d) kleine Strafkammern:

In der Hauptverhandlung werden vertreten die Vorsitzende der Strafkammer XI durch den Vorsitzenden der Strafkammer XIII, IV, VIII, und IX.

Die Revision hat mit der erhobenen Verfahrensrüge einer Verletzung des § 338 Nr. 1 StPO Erfolg. Sie führt daher zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils im Rechtsfolgenausspruch nebst den zugrunde-liegenden Feststellungen und zu einer Zurückverweisung der Sache an das Landgericht Essen.

Der Vorsitz der XI. kleinen Strafkammer des Landgerichts Essen war zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung am 2.6.2003 nicht vorschriftsmäßig besetzt.

1. Nach § 21 f Abs. 1 GVG führen den Vorsitz in den Spruchkörpern bei den Landgerichten der Präsident und die Vorsitzenden Richter. Diese Bestimmung gilt zumindest für einen ordentlichen Spruchkörper - wie hier - ausnahmslos. Eine Richterin am Amtsgericht kann daher nicht zur ständigen Vorsitzendeneiner ordentlichen Strafkammer bestellt werden.

Entgegen der Vorschrift des § 21 f Abs. 1 GVG ist hier aber nach der Geschäftsverteilung des Landgerichts als ordentliche Vorsitzende der XI. kleinen Strafkammer, also nicht als deren Vertreterin, eine Richterin am Amtsgericht bestimmt worden. Dafür spricht zum einen der eindeutige Wortlaut des zitierten Geschäftsverteilungsplanes, der nicht von einer stellvertretenden Vorsitzenden spricht, sondern von der Vorsitzenden: RinAG Dr. L.. Stellvertretende Vorsitzende werden in dem Geschäftsverteilungsplan des LG Essen für das Jahr 2003 ausdrücklich als "stellv. Vors." aufgeführt. Weiter spricht für die Vorsitzendenfunktion der RinAG Dr. L. auch die zitierte Vertretungsregelung, nach der die Vorsitzende durch den Vorsitzenden der XIII. .. Strafkammer vertreten wird. Diese Regelung wäre aber überflüssig, wenn nicht Frau RinAG Dr. L. tatsächlich als Vorsitzende der XI. Strafkammer bestellt worden wäre.

Dem Spruchkörper fehlte es daher an einer ordnungsgemäßen Besetzung i.S.d. § 338 Nr. 1 StPO

2. Selbst wenn der Geschäftsverteilungsplan ( folgend nur noch : GVP) dahingehend auszulegen wäre, dass Frau RinAG Dr. L. stellvertretende Vorsitzende - der zur Zeit nicht vorhandenen Vorsitzenden - der XI. Strafkammer war, führt dies gleichwohl zur unwirksamen Besetzung des Spruchkörpers im Sinne des § 338 Nr. 1 StPO.

a) Der Eintritt des im GVP bestimmten Vertreters setzt zunächst die Verhinderung des Berufenen voraus. Dabei wird die Inanspruchnahme des Vorsitzenden durch andere dienstliche Tätigkeiten - wie hier durch die Tätigkeit in einem Umfangsverfahren- zwar als ein die Vertretung auslösender Fall der vorübergehenden Verhinderung des Vorsitzenden angesehen ( BGH St 18, 162, MDR 86, 600). Unzulässig ist es aber, die Stelle des Vorsitzenden im GVP - wie hier- nicht zu besetzen, denn eine Verhinderung des Berufenen setzt zwangsläufig dessen namentliche Nennung oder aber für den Fall der beabsichtigten Stellenneubesetzung das Kürzel "NN" voraus.

c) Unabhängig hiervon wäre die Besetzung der XI. Strafkammer zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Urteils aber auch bei der Annahme einer derartigen vorübergehenden Verhinderung nicht vorschriftsmäßig gewesen.

aa) Der Sinn und Zweck der in § 21 f GVG getroffenen Bestimmung, dass der Vorsitz in den Spruchkörpern bei den Landgerichten durch die Vorsitzenden Richter geführt wird, geht dahin, Güte und Einheitlichkeit der Rechtsprechung der Kammer zu gewährleisten. Der Vorsitzende muss einen richtungsweisenden Einfluss auf den Geschäftsgang und die Rechtsprechung des Spruchkörpers ausüben (BGHSt 21, 131, 133; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 21 f GVG Rn. 2; Kissel, GVG, 2. Aufl., § 21 f Rdnr. 4, Pfeiffer StPO § 21 f GVG Rn 1).

Bei der Besetzung der Spruchkörper hat das Präsidium - bei der kleinen Strafkammer gemäß § 21 e I 1 GVG ( Pfeiffer aa0 Rn 4) - jeweils einen Richter zum Vertreter zu bestellen. Dieser hat die Aufgabe, im Falle der vorübergehenden Verhinderung des Vorsitzenden dessen Funktion, nämlich einen richtungsweisenden Einfluss auf die Tätigkeit des Spruchkörpers auszuüben, zu übernehmen.

Vorliegend wäre aber nicht ein Richter als Vertreter des vorübergehend verhinderten Vorsitzenden bestellt, es wären vielmehr zwei Richter bestimmt worden: Zum einen die RinAG Dr. L. als stellvertretende Vorsitzende, zum anderen nach der allgemeinen Vertretungsregelung für den Fall der Verhinderung der Vorsitzenden der XI. Strafkammer der Vorsitzende der XIII. Strafkammer etc. Zwar kann das Präsidium für den Fall der Verhinderung des regelmäßigen Vertreters einen oder mehrere weitere Vertreter des Vorsitzenden bestellen (Kissel, GVG, 2. Aufl., § 21 f Rdnr. 9). Nicht zulässig ist hingegen die Bestellung von mehreren nebeneinander und gleichzeitig tätig werdenden Vertretern, denn bei der Bestellung von zwei " Vertretern" des Vorsitzenden kann die oben beschriebene Aufgabe des Vorsitzenden, in richtungsgebender Weise auf die Rechtsprechung des Spruchkörpers Einfluss zu nehmen, von diesen nicht wahrgenommen werden.

cc) Schließlich verstieße der Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2003 jedenfalls gegen Art. 101 Abs. 1 S.2 GG, 16 GVG, da er keinen Hinweis darauf enthält, welcher der gemäß § 21 f Abs. 1 GVG als Stellvertreter in Betracht kommenden Richter tatsächlich als Stellvertreter vorgesehen war, so dass es an der Bestimmung des gesetzlichen Richters fehlt.

Unter dem "gesetzlichen Richter" i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S.2 GG ist diejenige Gerichtsbesetzung zu verstehen, in der das erkennende Gericht nach der durch ausdrückliche gesetzliche Bestimmungen i.V.m. dem Geschäftsverteilungsplan im voraus generell festgelegten Regelung in der Sache zu verhandeln und zu entscheiden hat. Das Gebot der vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts und der Bestimmbarkeit des gesetzlichen Richters gilt nicht nur für das Gericht als organisatorische Einheit oder das erkennende Gericht als Spruchkörper, sondern auch für die im Einzelfall zur Entscheidung berufenen Richter. Die Geschäftsverteilungspläne der Kollegialgerichte, die der Bestimmung des gesetzlichen Richters dienen, müssen daher von vornherein so eindeutig wie möglich festlegen, welche Spruchkörper und welche Richter zur Entscheidung des Einzelfalls berufen sind. Ein Strafverfahren muss nach allgemein abstrakten Maßstäben - gewissermaßen "blindlings" - an den in bestimmter Weise herangezogenen und besetzten Spruchkörper gelangen. Der Geschäftsverteilungsplan darf keine vermeidbare Freiheit bei der Heranziehung der einzelnen Richter und damit keine unnötige Unbestimmtheit hinsichtlich des gesetzlichen Richters lassen (BVerfG NJW 1965, 1223; BGH St 28, 290; KK-Pikart, StPO, 5. Auf I., § 338 Rn. 18).

Der oben genannten Geschäftsverteilungsbeschluss des Landgerichts enthält keinen Hinweis darauf, welcher Richter gemäß § 21 f GVG als Stellvertreter für welche Verfahren oder in welcher Reihenfolge vorgesehen war.

Da der Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2003 bis zu seiner Änderung am 7. August 2003 gegen die Vorschriften des GVG verstieß, ist die Besetzungsrüge ohne Rücksicht darauf begründet, ob das Gesetz sorgfaltswidrig außer acht gelassen wurde oder ob die Besetzung gar auf bewusster Willkür beruhte. Da es vorliegend bereits an der Bestimmung des gesetzlichen Richters fehlte, kommt es hier nicht, wie bei der durch fehlerhafte Anwendung des Geschäftsverteilungsplanes entstandenen Richterentziehung, darauf an, ob ein willkürliches Vorgehen bei der Besetzung des Gerichts gegeben ist, d.h. ob sich die Entscheidung so weit vom Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt, dass sie nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Entscheidend ist allein die objektive Gesetzwidrigkeit (Senatsbeschluss vom 30.09.1997 - 3 Ss 847/97 - mit weiteren Nachweisen).

Das Urteil unterliegt somit schon auf Grund dieses Verfahrensverstoßes der Aufhebung, so dass der Senat offen lassen kann, ob und in welchem Umfang die übrigen geltendgemachten Verfahrensrügen ebenfalls durchgreifen könnten.

Ende der Entscheidung

Zurück