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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 22.04.2008
Aktenzeichen: 3 Ss OWi 582/07
Rechtsgebiete: StPO, OWiG


Vorschriften:

StPO § 249
StPO § 267
StPO § 344
OWiG § 79
Schweigt das Hauptverhandlungsprotokoll über die Verlesung einer Urkunde (hier: Messprotokoll), so gilt diese als nicht erfolgt.

Bei der Verhängung einer relativ hohen Geldbuße, wie es jedenfalls bei der Verhängung einer Geldbuße von 750,00 € der Fall ist, ist es erforderlich, dass die Leistungsfähigkeit des Betroffenen berücksichtigt wird, da es von ihr abhängt, wie empfindlich oder nachhaltig die Geldbuße den Täter trifft.


Beschluss

Bußgeldsache

gegen T.K.

wegen Verkehrsordnungswidrigkeit.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Lübbecke vom 25.05.2007 hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 22. 04. 2008 durch die Richterin am Oberlandesgericht als Einzelrichterin gem. § 81 a Abs. 1 OWiG nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird nebst den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Lübbecke zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Der Betroffene ist durch Urteil des Amtsgerichts Lübbecke vom 25.05.2007 wegen vorsätzlicher Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße in Höhe von 750,00 € sowie zu einem Fahrverbot von 3 Monaten verurteilt worden.

Nach den Urteilsfeststellungen überschritt der Betroffene am 27.10.2006 um 19.07 Uhr mit dem von ihm geführten Kraftrad Harley-Davidson in Stemwede auf der L770/Neustadt in Richtung Westen. Die dort außerhalb geschlossener Ortschaft durch Verkehrszeichen 274 angeordnete zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h um 43 km/h (nach Abzug eines Toleranzwertes in Höhe von 5 km/h). Die Geschwindigkeitsmessung erfolgte nach den Urteilsfeststellungen mit einem bis zum 31.12.2007 geeichten Verkehrsradargerät Multanova VR 6 F.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er eine Verletzung formellen und materiellen Rechts geltend macht.

II.

Die Rechtsbeschwerde hat in der Sache vorläufig Erfolg. Sie führt zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und zu einer Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht Lübbecke.

Mit der erhobenen Verfahrensrüge, das Amtsgericht Lübbecke habe sich bei der Urteilsfindung auf Urkunden bzw. Schriftstücke gestützt, die nicht ordnungsgemäß, nämlich im Wege der §§ 249, 256 StPO noch im Wege der §§ 77 a , 78 OWiG in die Hauptverhandlung eingeführt worden seien, macht der Betroffene geltend, das Amtsgericht habe seine Überzeugung nicht allein aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft und rügte damit einen Verstoß gegen § 261 StPO i. V. m. § 249 ff. StPO, 77 a, 78 OWiG.

Die erhobene Rüge erweist sich jedenfalls insoweit als unbegründet, als mit ihr geltend gemacht wird, der Eichstand vom 07.08.2006 und die Anzeige des Ordnungswidrigkeitentatbestandes vom 22.11.2006 seien in der Hauptverhandlung nicht verlesen worden. Denn diese beiden Schriftstücke sind ausweislich der Sitzungsniederschrift des Amtsgerichts vom 25.05.2007 entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde nicht lediglich zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden. Vielmehr heißt es in dem Protokoll ausdrücklich, dass diese Schriftstücke gem. §§ 256 StPO, 46 Abs. 1 OWiG zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden seien. Da § 256 StPO den erweiterten Urkundsbeweis ausschließlich durch Verlesung der in dieser Vorschrift aufgeführten Schriftstücke regelt, ist die Verlesung des Eichstands sowie der Anzeige des Ordnungswidrigkeitentatbestands noch ausreichend durch die Sitzungsniederschrift belegt, auch wenn in der im Hauptverhandlungsprotokoll nachfolgenden Textzeile "durch verlesen" das zu dieser Zeile gehörende Kästchen nicht zusätzlich angekreuzt worden ist.

Sicher begründet ist die Rüge aber, soweit mit der Rechtsbeschwerde die nicht ordnungsgemäße Einführung des Messprotokolls vom 27.10.2006 beanstandet worden ist.

Anders als bei der oben erörterten Feststellungen im Hauptverhandlungsprotokoll, folgende Schriftstücke wurden gem. §§ 256 StPO, 46 Abs. 1 OWiG zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht, enthält die Sitzungsniederschrift vom 25. Mai 2007 in Bezug auf das Messprotokoll vom 27.10.2006 den verkündeten Beschluss, dass das Messprotokoll gem. § 77 a Abs. 1 - 4 OWiG zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wird. Dieser Beschluss ist dahingehend auszulegen, dass die Verlesung des Messprotokolls gem. § 77 a OWiG angeordnet worden ist, auch wenn im Hauptverhandlungsprotokoll vorgedruckte Alternative "durch verlesen" nicht zusätzlich angekreuzt worden ist. Denn die Möglichkeit der Anordnung einer vereinfachten Beweisaufnahme gem. § 77 a Abs. 3 OWiG scheidet hier aus. Denn in diesem Falle müsste gem. § 273 Abs. 1 StPO in der Sitzungsniederschrift protokolliert sein, dass der wesentliche Inhalt einer fernmündlich eingeholten behördlichen Erklärung in der Hauptverhandlung bekanntgegeben worden ist (vgl. Senge in KK, OWiG, 3. Aufl., § 77 a Rdnr. 17). Das ist hier aber nicht der Fall. Aus dem Protokoll ergibt sich auch nicht, dass das Amtsgericht mit dem vorgenannten Beschluss die Einführung des Messprotokolls in das Verfahren gem. § 78 Abs. 1 OWiG angeordnet hat.

In Bezug auf die mit dem Beschluss angeordnete Verlesung des Messprotokolls enthält die Sitzungsniederschrift aber keine Angaben dazu, dass dieser Beschluss auch ausgeführt worden ist. Bei der Verlesung einer Urkunde in Hauptverhandlung handelt es sich jedoch um eine wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung, so dass der Nachweis hierüber nur durch das Protokoll geführt werden kann (§ 274 StPO i. V. m. § 71 OWiG). Schweigt das Hauptverhandlungsprotokoll über die Verlesung, so gilt diese als nicht erfolgt. Die - negative - Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls entfällt hier auch nicht aufgrund einer offensichtlichen Fehler- oder Lückenhaftigkeit. Lückenhaftigkeit ergibt sich nämlich nicht schon daraus, dass die Anordnung des Verlesens nicht aber das erfolgreiche Durchführen vermerkt worden ist. Denn die Anordnung des Verfahrens lässt keinen Rückschluss auf die weitere Beachtung des Verfahrens gem. § 249 Abs. 1 StPO zu (vgl. BGH NStZ 2005, 160). Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht daraus, dass sich aus einem vorgedruckten Passus in dem Hauptverhandlungsprotokoll entnehmen lässt, dass der Betroffene und sein Verteidiger dem Verlesen zugestimmt haben. Denn eine gem. § 77 a Abs. 4 OWiG mit einer vereinfachten Art der Beweisaufnahme gem. § 77 a Abs. 1 s. 3 OWiG ist Voraussetzung für die Verlesung und sieht daher in der Regel vor der Anordnung der Verlesung eingeholt, so dass die protokollierte Zustimmung mit der Verlesung nicht zwangsläufig den Rückschluss auf eine erfolgte Verlesung zulässt. Schließlich kann das Messprotokoll vom 27.10.2006 hier auch nicht prozessordnungsgemäß eingeführt worden sein. Denn ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 25.05.2007 ist in der Hauptverhandlung ein Zeuge, dem man Vorhalte hätte gemacht werden können, nicht vernommen worden, und hat sich der Betroffene selbst nicht zur Sache eingelassen.

Das angefochtene Urteil beruht auch auf dem Verfahrensfehler. Denn das Amtsgericht hatte das Messprotokoll zum Beweis einer zum Tatzeitpunkt von dem Betroffenen gefahrenen Geschwindigkeit von 148 km/h verwertet. Das Amtsgericht hat daher nicht ausschließlich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gebildet, so dass das angefochtene Urteil der Aufhebung unterliegt.

Da bereits die oben erörterte Verfahrensrüge zur Aufhebung des Urteils insgesamt führt, bedarf es keines weiteren Eingehens auf die außerdem geltend gemachte Verfahrensrüge einer Verletzung des § 77 Abs. 1 OWiG durch die Ablehnung eines gestellten Beweisantrages sowie auf die außerdem erhobene Sachrüge.

Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:

1.

Soweit in dem angefochtenen Urteil die Identifizierung des Betroffenen als Führer des gemessenen Kraftrades darauf gestützt wird, dass die Anzeige des Ordnungswidrigkeiten-Tatbestandes vom 24.11.2006 die zutreffenden Personalien des Betroffenen enthält, ist diese Beweisführung ohne nähere Ausführungen dazu, auf welche Weise die die Messung durchführenden Beamten die Personalien des Betroffenen ermittelt haben, nicht ohne weiteres nachvollziehbar.

2.

Eine vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung setzt sowohl Kenntnis von der Geschwindigkeitsbeschränkung als auch deren bewusstes und gewolltes Überschreiten voraus. Soweit es um eine Überschreitung der gesetzlich, nämlich in § 3 Abs. 3 Nr. 2 StVO bestimmten absoluten Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h geht, ist die Kenntnis dieser Beschränkung regelmäßig vorauszusetzen und bedarf keiner zusätzlichen Erörterungen. Soll darüber hinaus auch der Vorwurf einer vorsätzlichen Überschreitung einer durch Verkehrszeichen 274 angeordneten Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit erhoben werden, muss sich das Urteil damit befassen, ob der Betroffene diese Beschränkung wahrgenommen hat. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang aber, dass, wenn es auch keine genauen, durch wissenschaftliche Erhebungen gesicherten Erkenntnisse geben mag, davon ausgegangen werden darf, dass (ordnungsgemäß aufgestellte) Vorschriftzeichen von Verkehrsteilnehmern in aller Regel wahrgenommen werden (vgl. BGHSt 43, 241). Diesen Regelfall dürfen die Bußgeldstellen und Gerichte regelmäßig zugrundelegen. Die Möglichkeit, dass der Betroffene dass die Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit anordnende Vorschriftzeichen übersehen hat, brauchen sie nur dann in Rechnung zu stellen, wenn der Betroffene sich darauf beruft, oder sich hierfür sonstige Anhaltspunkte ergeben (vgl. BGH a.a.O.).

3.

Bei der Verhängung einer relativ hohen Geldbuße, wie es jedenfalls bei der Verhängung einer Geldbuße von 750,00 € der Fall ist, ist nach allgemeiner Ansicht in Rechtsprechung und Lehre erforderlich, dass die Leistungsfähigkeit des Betroffenen berücksichtigt wird, da es von ihr abhängt, wie empfindlich oder nachhaltig die Geldbuße den Täter trifft (vgl. Göhler, OWiG, 14. Aufl., § 17 Rdr. 22 n. w. N.). Zu den wirtschaftlichen Verhältnissen rechnen alle Umstände, von denen die Fähigkeit des Betroffenen abhängt, eine bestimmte Geldbuße zu bezahlen. Hierzu gehören insbesondere sein Einkommen, etwaige Schulden und Verpflichtungen, das Bestehen etwaige Unterhaltsverpflichtungen sowie gegebenenfalls das Einkommen des Ehepartners. Auch das Eigentums- und Wertverhältnis zu dem bei der Tat benutzten Kraftfahrzeug kann ein Faktor darstellen, der Rückschlüsse auf die finanzielle Leistungsfähigkeit des Betroffenen zulässt.

Ende der Entscheidung

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