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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 15.03.2000
Aktenzeichen: 3 U 1/99
Rechtsgebiete: ZPO, BGB


Vorschriften:

ZPO § 711 Satz 2
ZPO § 710
ZPO § 712
ZPO § 538 Abs. 1 Ziffer 3
ZPO § 540
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 108
ZPO § 708 Nr. 10
BGB § 847
BGB § 823
BGB § 831
Durchtrennung des Hauptgallengangs (Ductus choledochus) bei der laparoskopischen Gallenblasenentfernung (Cholezystektomie)

Bei Durchtrennung des Ductus choledochus infolge der Verwechslung mit dem Ductus zysticus kann bei genügender Präparation vermieden werden. Wenn der Operationssitus ein schwieriger und die Präparation nicht möglich sein sollte, dann ist das laparoskopische Vorgehen umgehend zu beenden um der Übergang zum offenen Operationsverfahren zu wählen.


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

3 U 1/99 OLG Hamm 2 O 552/97 LG Paderborn

Verkündet am 15. März 2000

Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts

In dem Rechtsstreit

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 15. März 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht sowie die Richter am Oberlandesgericht

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird - unter Zurückweisung seines Rechtsmittels im übrigen - das am 20. Oktober 1998 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn teilweise abgeändert.

Die Beklagten zu 1) und 2) werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger ein Schmerzensgeld von 70.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 23. Dezember 1997 zu zahlen.

Der Antrag zu 1 a) der Berufungsbegründungsschrift vom 04.03.1999 (Zahlung von 10.303,83 DM nebst Zinsen) ist gegenüber den Beklagten zu 1) und 2) dem Grunde nach gerechtfertigt.

Es wird festgestellt, daß die Beklagten zu 1) und 2) verpflichtet sind, als Gesamtschuldner dem Kläger alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihm aus der versehentlichen Durchtrennung des Ductus choledochus während der Operation am 13. Juni 1996 entstanden sind und noch entstehen werden, die materiellen Schäden jedoch nur vorbehaltlich eines Anpruchsübergangs auf Sozialversicherungsträger.

Die Klage gegen die Beklagten zu 3) und 4) bleibt abgewiesen.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 3) und 4).

Zur Entscheidung über die Höhe des bezifferten materiellen Schadens Und über die Kosten des Rechtsstreits einschließlich derjenigen der Berufungsinstanz, über die noch nicht entschieden ist, wird der Rechtsstreit an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagten zu 1) und 2) können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 100.000,00 DM abwenden, falls nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet. Die Beklagten zu 1) und 2) können Sicherheit auch durch die unbedingte und unbefristete Bürgschaft einer deutschen Großbank oder öffentlichen Sparkasse erbringen.

Der Kläger kann die gegen ihn gerichtete Zwangsvollstreckung jedes der Beklagten zu 3) und 4) durch Sicherheitsleistung in Höhe von je 10.000,00 DM abwenden, falls nicht die Beklagten zu 3) und 4) zuvor Sicherheit in derselben Höhe leisten, die sie auch durch die unbedingte und unbefristete Bürgschaft einer deutschen Großbank oder öffentlichen Sparkasse erbringen können.

Tatbestand:

Der im Jahre 1967 in Italien geborene Kläger, der seit 1991 in Deutschland lebt, wurde am 11.06.1996 wegen einer Gallenblasenentzündung im Krankenhaus der Beklagten zu 1) aufgenommen. Am 13.06.1996 wurde die Gallenblase operativ entfernt. Dabei begann der Beklagte zu 2) die Operation im Verfahren der laparoskopischen Cholezystektomie, einem Vorgehen, das nicht die Öffnung der Bauchdecke erfordert. Die Operation konnte mit diesem Verfahren nicht zu Ende geführt werden, weil sich intraoperativ Komplikationen ergaben. Der Beklagte zu 2) wechselte zum sogenannten offenen Operationsverfahren und stellte dabei fest, daß er den Hauptgallengang (Ductus choledochus) durchtrennt hatte. Der Chefarzt der Abteilung, der Beklagte zu 3), wurde hinzugezogen und beendete den Eingriff, indem er unter anderem den Hauptgallengang mit einer Darmschlinge vernähte (biliodigestive Anastomose im Sinne einer Roux-Y-Choledochojejunostomie). Der am 01.07.1996 aus dem Krankenhaus entlassene Kläger war bis zum 08.12.1996 durchgängig arbeitsunfähig. In der Zeit vom 02. bis zum 14.03. und vom 25.03. bis zum 16.04.1997 war der Kläger erneut in stationärer Krankenhausbehandlung. Wegen weiterer entzündlicher Reaktionen begab sich der Kläger in die Medizinische Hochschule wo in einem Befund vom 16.07.1997 festgestellt wurde, daß es zu Rufstauungen in der Leber und zu einem erhöhten Gamma GT-Wert gekommen war.

Der Kläger hat die Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes - Vorstellung: 30.000,00 DM -, Ersatz materieller Schäden und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz künftiger Schäden in Anspruch genommen. Er hat behauptet, nicht hinreichend über die Operationsrisiken aufgeklärt worden zu sein. Bei der Durchtrennung des Hauptgallengangs habe der Beklagte zu 2) gegen grundlegende chirurgische Regeln verstoßen. Die Beklagten haben eine ausreichende Aufklärung des Klägers behauptet. Das Aufklärungsgespräch sei von dem Beklagten zu 4) am 12.06.1996 durchgeführt worden. Die irrtümliche Durchtrennung des Hauptgallengangs durch den Beklagten zu 2) sei nicht zu vermeiden gewesen. Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Parteivorbringens und der in erster Instanz gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat nach Einholung eines Gutachtens die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, daß der Kläger hinreichend über die Operationsrisiken aufgeklärt worden sei. Bei der Durchtrennung des Hauptgallenganges durch den Beklagten zu 2) handele es sich um einen entschuldbaren Fehler.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der Berufung und beantragt,

1. an ihn

a) 10.303,83 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit;

b) ein der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

2. festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die aus dem in der Zeit vom 11.06. bis zum 01.07.1996 erfolgten Krankenhausaufenthalt des Klägers im Bereich der Beklagten zu 1) resultieren.

Die Beklagten beantragen,

1. die gegnerische Berufung zurückzuweisen;

2. in den der Revision unterliegenden Sachen zu ihren Gunsten

a) als Gläubiger es bei der Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung gemäß §§ 711 Satz 2, 710 ZPO zu belassen;

b) als Schuldner die Schutzanordnungen aus § 712 ZPO zu treffen;

hilfsweise in beiden Fällen ihnen zu gestatten, eine Sicherheitsleistung nach § 711 ZPO auch durch Bürgschaft einer Großbank oder öffentlichen Sparkasse zu erbringen.

Die Parteien wiederholen, vertiefen und ergänzen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Wegen der Einzelheiten ihres Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze mit ihren Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat ein weiteres Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. eingeholt (Blatt 329 bis 335 der Akten). Weiter hat der Senat den Kläger und die Beklagten zu 2) bis 4) angehört, die Ehefrau des Klägers uneidlich als Zeugin vernommen sowie die Sachverständigen Prof. Dr. und Prof. Dr. ihre schriftlichen Gutachten erläutern lassen. Insoweit wird auf die Vermerke des Berichterstatters zum Senatstermin vom 13.09.1999 (Blatt 275 bis 282 der Akten) und vom 15. März 2000 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers gegen die Beklagten zu 1) und 2) war erfolgreich, die gegen die Beklagten zu 3) und 4) gerichtete Berufung des Klägers blieb ohne Erfolg.

I.

Der Kläger hat gegen die Beklagten zu 1) und 2) einen Anspruch auf Ersatz der materiellen und immateriellen Schäden gemäß §§ 847, 823, 831 BGB.

1.

In der Beurteilung des Behandlungsgeschehens macht sich der Senat die Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. der sein Gutachten überzeugend erläutert hat und dem Senat als erfahren und sachkundig bekannt ist, zu eigen. Danach hat der Beklagte zu 2) bei der Operation am 13.06.1996 den Ductus choledochus - behandlungsfehlerhaft - geclippt und durchtrennt, ohne zuvor eine genügend sorgfältige Präparation vorgenommen zu haben. Darin liegt ein Verstoß gegen die chirurgische Regel, daß erst dann durchtrennt werden darf, wenn der Organsitus genau analysiert und Organe differenziert werden können.

Das nicht der Ductus zysticus - wie im Operationsbericht beschrieben -, sondern der Ductus choledochus durchtrennt worden ist, ist zwischen den Parteien nicht im Streit und steht auf Grund der Auffassung sämtlicher 5 Gutachter (3 Gutachter der Gutachterkommession und der gerichtlich bestellten Gutachter Prof. Dr. W und Prof. Dr.) fest. Diese Durchtrennung hätte bei sorgfältiger Präparation vermieden werden können. Der im Operationsbericht beschriebenen Durchtrennung des "vermeintlichen" Ductus zysticus (tatsächlich des Ductus choledochus) ging keine genügende Präparation voraus. Neben der zirkulären Freilegung des Ductus zysticus seien, so Prof. Dr., die Darstellung der Mündungsstelle des Ductus zysticus in den Ductus choledochus und die Darstellung der Abgangsstelle des Ductus zysticus aus der Gallenblase geboten. Die Darstellung der Mündungsstelle erlaube eine Differenzierung zwischen den beiden Gallengängen, die Darstellung der zuvor genannten Abgangsstelle lasse eine weitere Identifizierung zu. Beide erforderlichen Darstellungsarten seien für den Zeitraum vor der Durchtrennung nicht beschrieben. Auch Prof. Dr. hat im Senatstermin vom 13. September 1999 bestätigt, daß eine "sichere Identifikation nicht gemacht worden" ist (Blatt 280 der Akten). Daß nicht sorgfältig genug präpariert worden ist, läßt sich bereits dem weiteren - im Operationsbericht beschriebenen - Ablauf entnehmen. Erst nachdem das laparoskopische Verfahren beendet und zum offenen Operationsverfahren übergegangen wurde, ist die "weitere Präparation zum Gallenblasenhals hin" erfolgt. Gerade dieser Schritt aber hätte, so Prof. Dr. vor der Durchtrennung erfolgen müssen, selbst wenn man von der - im Operationsbericht nicht beschriebenen - Prämisse ausgehen würde, daß ein sehr kurzer Ductus zysticus vorgelegen hätte. Auch dann hätte die Darstellung des Gallenblasenhalses die notwendige Orientierung gegeben.

Es bestehen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, daß der Operationssitus die erforderliche Präparation verhindert hätte. Allein die Erwähnung im Operationsbericht, daß die Gallenblase "schwartig verdickt" gewesen sei, läßt nicht den Rückschluß auf ein unübersichtliches Operationsgebiet zu. Dagegen spricht bereits der Inhalt des histologischen Befundes der untersuchten Gallenblase.

Wenn aber der Situs entgegen der Dokumentation ein schwieriger gewesen und die Präparation nicht möglich gewesen sein sollte, dann hätte das laparoskopische Vorgehen umgehend beendet und der Übergang zum offenen Verfahren gewählt werden müssen, bei dem - wie dem Operationsbericht zu entnehmen ist - eine Präparation des Gallenblasenhalses möglich war. Gleiches gilt für den Fall, daß es bei den beschriebenen "längerfristigen Manipulationen" zu einer "weiteren" Verletzung des Ductus choledochus gekommen sein sollte.

2.

Der Senat hält ein Schmerzensgeld von 70.000,00 DM für angemessen.

Die Durchtrennung des Ductus choledochus hatte zur Folge, daß sich die Dauer des Krankenhausaufenthaltes (bis zum 01.07.1996) und der Arbeitsunfähigkeit (bis zum 08.12.1996) verlängerte. Nach Auftreten von entzündlichen Reaktionen wurden vom 02. bis zum 14.03. und vom 25.03. bis zum 16.04.1997 weitere stationäre Behandlungen erforderlich. Zur Vermeidung entzündlicher Veränderungen muß der Kläger seitdem ständig Antibiotika zu sich nehmen. Als besonders gravierend hat der Senat die psychischen Belastungen des Klägers bewertet. Auf der Grundlage des Befundes der Medizinischen Hochschule vom 16.07.1997 (Blatt 15 der Akten) steht fest, daß es, so die Sachverständigen Profes. Dres. und, zu einer Aufstauung in der Leber kommt. Dies begründe die Gefahr, so Prof. Dr., daß sich bei dem Kläger eine Leberzirrhose entwickeln könne.

3.

Das Feststellungsbegehren des Klägers ist auf Grund der umfassenden Haftung der Beklagten zu 1) und 2) sowohl wegen der materiellen als auch wegen der immateriellen Schäden begründet, die nicht bereits von den Klageanträgen zu 1a und 1b erfaßt werden.

4.

Der geltend gemachte bezifferte materielle Schadensersatzanspruch (Klageantrag zu 1a) besteht gegenüber den Beklagten zu 1) und 2) dem Grunde nach. Wegen der Höhe des geltend gemachten Zahlungsanspruches (Zahlung von 10.303,83 DM nebst Zinsen) war die nicht entscheidungsreife Sache gemäß § 538 Abs. 1 Ziffer 3 ZPO an das Landgericht zurückzuverweisen, das den nach Grund und Höhe streitigen Anspruch des Klägers als unbegründet abgewiesen hat. Eine eigene Sachentscheidung im Sinne von § 540 ZPO hält der Senat nicht für sachdienlich. Die Beweisaufnahme auch zur Schadenshöhe vor dem Senat durchzuführen, erschien weder zweckmäßig noch liegt dies hier im Interesse der Parteien an der Wahrnehmung der Sachaufklärungsmöglichkeit von zwei Instanzen.

II.

Dagegen hat der Kläger gegen die Beklagten zu 3) und 4) keine Schadensersatzansprüche aus den §§ 847, 823 BGB. Eine schuldhafte Verletzung von Sorgfaltspflichten aus dem Behandlungsvertrag ist schon deshalb abzulehnen, weil zwischen dem gesetzlich krankenversicherten Kläger und den Beklagten keine vertraglichen Beziehungen bestanden. Fehler der Beklagten zu 3) und 4) bei der Behandlung des Klägers lassen sich nicht feststellen. Die Beklagte zu 4) haftet dem Kläger auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Aufklärungsverschuldens.

Der Beklagte zu 3) ist erst nach der Durchtrennung des Ductus choledochus in das operative Geschehen eingebunden worden. Ein Organisations- oder Kontrollfehler ist dem Beklagten zu 3) für die Durchtrennung des Ductus choledochus nicht anzulasten. Er hat den Beklagten zu 2) selbst in die laparoskopische Operationstechnik eingewiesen. Die 25 selbständig durchgeführten und 15 assistierten Operationen des Beklagten 2), so Prof. Dr. genügen für ein selbständiges Tätigwerden des Beklagten zu 2).

Die Voraussetzungen für eine Haftung des Beklagten zu 4), der den Kläger über Art und Risiken der Operation aufgeklärt hat, liegen nicht vor, weil das am 12. Juni 1996 durchgeführte Aufklärungsgespräch nicht defizitär war. Der Kläger ist über Art und Schwere der Operation aufgeklärt worden und konnte sich ein allgemeines Bild von der Schwere und Richtung des konkreten Risikospektrums machen. Der Senat ist auch der Auffassung, daß der seit 1991 in Deutschland lebende Kläger das Wesentliche dieses Aufklärungsgesprächs verstanden hat. Über das Risiko einer fehlerhaften Behandlung war dagegen nicht aufzuklären, weil der Patient hinreichend durch die Verpflichtung des Arztes zur fehlerfreien Behandlung geschützt ist (Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 8. Aufl. 1999, Rdn. 374 m.w.N.).

III.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97 Abs. 1, 108, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Das Urteil beschwert sowohl den Kläger als auch die Beklagten zu 1) und 2) jeweils mit mehr als 60.000,00 DM.

Ende der Entscheidung

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