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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 24.01.2001
Aktenzeichen: 3 U 107/00
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 847
BGB § 823
BGB § 1967
ZPO § 308
ZPO § 539
ZPO § 540
ZPO § 91 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 713
Zahnextraktionen bei Jugendlichen

Leitsatz:

Bei der Indikation von Zahnextraktionen ist zwischen der Erhaltungsfähigkeit und der Erhaltungswürdigkeit zu differenzieren.

Wird die Erhaltungswürdigkeit von erhaltungsfähigen Zähnen schon bei der ersten Behandlung eines jugendlichen Patienten ausgeschlossen, so entspricht dies nicht gutem zahnärztlichem Standard.

Trägt ein jugendlicher Patient infolge der nicht indizierten Entfernung von acht Zähnen eine herausnehmbare Oberkieferprothese, so kann dies die Zubilligung eines Schmerzensgeldes von 30.000,- DM rechtfertigen,


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

3 U 107/00 OLG Hamm 4 O 200/98 LG Bielefeld

Verkündet am 24. Januar 2001

Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts

In dem Rechtsstreit

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Pelz und die Richter am Oberlandesgericht Kamps und Lüblinghoff

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 24. März 2000 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld abgeändert.

Der Beklagte zu 2) wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 30.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 12. November 1998 zu zahlen.

Es wird festgestellt, daß die Beklagten verpflichtet sind als Gesamtschuldner dem Kläger sämtliche materiellen Schäden zu ersetzen, die Folge davon sind, daß der Beklagte zu 2) am 15.11.1995 die Zähne 11, 12, 14, 17, 2,1 und 23 im Oberkiefer sowie die Zähne 36 und 46 im Unterkiefer gezogen hat.

Es wird ferner festgestellt, daß der Beklagte zu 2) verpflichtet ist, dem Kläger sämtlichen zukünftigen immateriellen Schaden zu ersetzen, der Folge davon ist, daß der Beklagte zu 2) am 15.11.1995 die Zähne 11, 12, 14, 17, 21 und 23 im Oberkiefer sowie die Zähne 36 und 46 im Unterkiefer gezogen hat.

Der Beklagte zu 2) trägt die Kosten des Rechtsstreits, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) und 3), die diese selbst tragen.

Neben dem Beklagten zu 2) tragen die Beklagten zu 1) und 3) von den übrigen Kosten des Rechtsstreits gesamtschuldnerisch mit dem Beklagten zu 2) 1/3.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

Die Beklagten betrieben 1995 eine zahnärztliche Gemeinschaftspraxis. Dorthin begab sich am 03.11.1995 der damals 16jährige Kläger in Begleitung seiner Mutter. Der am 15.01.2001 verstorbene Beklagte zu 2) untersuchte den Kläger und fertigte eine Übersichtsaufnahme des Gebisses (OPG) an. Am 15.11.1995 zog der Beklagte zu 2) in der Praxis des Anästhesisten Dr. K dem Kläger unter Vollnarkose 10 Zähne (11, 12, 14, 15, 17, 21, 22 und 23) im Unterkiefer und zwei Zähne (36 und 46) im Unterkiefer. Der Kläger hat den Beklagten zu 2) auf Zahlung eines Schmerzensgeldes - Vorstellung: 5.000,00 DM und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz materieller und zukünftiger immaterieller Schäden in Anspruch genommen. Von den Beklagten zu 1) und 3) begehrt der Kläger die Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz materieller Schäden. Er hat behauptet, daß die Entfernung von sechs Zähnen im Oberkiefer (11, 12, 14, 17, 21, 22 und 23) und von zwei Zähnen im Unterkiefer (36 und 46) nicht indiziert gewesen sei. Am 03.11.1995 sei mir die Entfernung der Zähne 15 und 22 besprochen worden. Er leide darunter, daß er eine herausnehmbare Prothese tragen müsse und sein Gebiß bis heute nicht wiederhergestellt sei. Die Beklagten haben behauptet, daß die am 15.11.1995 gezogenen Zähne nicht mehr erhaltungswürdig gewesen seien. Nach ausführlicher Erläuterung des Gebißzustandes hätten der Kläger und dessen Mutter der Zahnextraktion zugestimmt.

Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines schriftlichen Gutachtens mit der Begründung abgewiesen, daß die entfernten Zähne nicht erhaltungswürdig gewesen seien und daß der Kläger und dessen Mutter wirksam in die Entfernung eingewilligt hätten. Dem Antrag, den Sachverständigen zur Erläuterung des schriftlichen Gutachtens zu laden, ist das Landgericht nicht nachgekommen.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der Berufung und beantragt,

1. festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm sämtliche materiellen Schäden zu ersetzen, die Folge davon sind, daß der Beklagte zu 2) am 15.11.1995 die Zähne 11, 12, 14, 17, 21 und 23 im Oberkiefer sowie die Zähne 36 und 46 im Unterkiefer gezogen hat;

2. den Beklagten zu 2) zu verurteilen, an ihn ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit;

3. festzustellen, daß der Beklagte zu 2) verpflichtet ist, ihm sämtlichen zukünftigen immateriellen Schaden zu ersetzen, der Folge davon ist, daß der Beklagte zu 2) am 15.11.1995 die Zähne 11, 12, 14, 17, 21 und 23 im Oberkiefer sowie die Zähne 36 und 46 im Unterkiefer gezogen hat.

Die Beklagten beantragen,

die gegnerische Berufung zurückzuweisen.

Die Parteien wiederholen, vertiefen und ergänzen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Wegen der Einzelheiten ihres Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze mit ihren Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat den Kläger angehört, die Mutter des Klägers und die ehemalige Arzthelferin des Beklagten zu 2) uneidlich als Zeugen vernommen sowie die Sachverständigen Prof. Dr. und Privatdozent Dr. das schriftliche Gutachten erläutern lassen. Insoweit wird auf den Vermerk des Berichterstatters zum Senatstermin vom 24. Januar 2001 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers war erfolgreich.

Der Kläger hat gegen die Erben des Beklagten zu 2) Schadensersatzansprüche aus den §§ 847, 823, 1967 BGB und gegen - alle Beklagten - die Feststellung materieller Schäden betreffend wegen Schlechterfüllung des ärztlichen Behandlungsvertrages.

Ein Behandlungsfehler ist darin zu sehen, daß am 15.11.1995 keine medizinische Indikation zur Extraktion der Zähne 11, 12, 14, 17, 21, 23 im Oberkiefer und zur Extraktion der Zähne 36 und 46 im Unterkiefer vorgelegen hat. In der Beurteilung des Behandlungsgeschehens macht sich der Senat die Feststellungen der Sachverständigen Prof. Dr. und Privatdozent Dr. die ihre Gutachten überzeugend erläutert haben, zu eigen.

Dabei kann die Frage dahinstehen, ob der damals 16-jährige Kläger und dessen Mutter der Entfernung von insgesamt 10 Zähnen zugestimmt oder diese Entfernung sogar ausdrücklich gewünscht haben. Allein die Zustimmung oder der Wunsch eines Patienten kann die Zahnextraktion grundsätzlich nicht indizieren. Dies gilt erst recht bei einem 16-jährigen Patienten, wenn dieser den - unterstellten - Wunsch auf Entfernung einer Vielzahl von Zähnen äußern sollte.

Für die Indikation von Zahnextraktionen ist zwischen der Erhaltungsfähigkeit und der Erhaltungswürdigkeit zu differenzieren.

Eine Zahnextraktion ist dann indiziert, wenn der Zahn nicht erhaltungsfähig ist. Nicht erhaltungsfähig seien, so die Sachverständigen, nur die Zähne 15 und 22 gewesen. Die Indikation zur Entfernung dieser Zähne wird vom Kläger nicht bestritten.

Dagegen ergibt sich die Erhaltungsunfähigkeit der acht weiteren, am 15.11.1995 gezogenen Zähne, weder aus dem Röntgenbefund (OPG) vom 03.11.1995 noch aus dem dokumentierten klinischen Befund. Dabei haben die Sachverständigen und - ihnen folgend - der Senat berücksichtigt, daß sich eine kariöse Erkrankung anhand von Röntgenbildern nicht in dem Umfang erschließt, wie dies bei einem klinischen Befund möglich ist. Aus diesem Grund ist der klinische Zustand in Verbindung mit der bildgebenden Diagnostik aussagekräftiger. Insoweit hat sich der Senat auch vergegenwärtigt, daß nur der behandelnde Arzt, der verstorbene Beklagte zu 2), Kenntnis von diesem aussagekräftigen Befund hatte. Aus dem dokumentierten klinischen Befund vom 03.11.1995 ergibt sich nur, daß die Zähne 11, 12, 14, 17, 21 und 23 als tief zerstört bezeichnet worden sind. Die Ausdehnung der kariösen Defekte ist nicht niedergelegt. Die Zähne 36 und 46 werden in der Dokumentation nicht erwähnt. Von der Erhaltungsfähigkeit der acht Zähne ist demnach auszugehen.

Streitig ist zwischen den Parteien, ob die acht Zähne erhaltungswürdig waren. Die Frage der Erhaltungswürdigkeit wurde von dem verstorbenen Beklagten zu 2) allein aufgrund des Behandlungstermins vom 03.11.1995 verneint und damit zugleich die Indikation zur Extraktion bejaht. Diese Indikationsstellung war fehlerhaft, weil der verstorbene Beklagte zu 2) damit von dem hier zu fordernden zahnmedizinischen Standard abgewichen ist.

Beide Sachverständige haben im Senatstermin überzeugend dargelegt, daß die Motivierbarkeit eines Patienten zur Mund- und Zahnhygiene für die erhaltungsfähigen Zähne grundsätzlich nicht aufgrund nur eines Behandlungstermins hätte ausgeschlossen und die sofortige Extraktion nicht hätte durchgeführt werden dürfen. Auch wenn diese Vorgehensweise in der Praxis zum Teil üblich sei, so entspreche sie nicht gutem zahnärztlichen Standard. Die Erhaltungswürdigkeit der in Rede stehenden acht Zähne ist von dem verstorbenen Beklagten zu 2) ohne die gebotene Abklärung verneint worden. Die Abklärung der Motivierbarkeit eines Patienten zur Mund- und Zahnhygiene ist deshalb geboten, weil der Zahnarzt, so der Sachverständige Privatdozent Dr. Entscheidungskriterien für die Frage der Erhaltungswürdigkeit haben will und dringend braucht. Es mag zwar Patienten geben, so der Sachverständige Prof. Dr. im Senatstermin, bei denen die Erhaltungswürdigkeit von erhaltungsfähigen Zähnen schon bei der ersten Behandlung - ausnahmsweise - sicher ausgeschlossen werden kann. Eine solche Ausnahme aber liegt bei einem 16-jährigen Patienten erkennbar nicht vor. Vielmehr hätte der behandelnde Zahnarzt zumindest versuchen müssen, das Verständnis dieses jugendlichen Patienten zur Mund- und Zahnhygiene zu entwickeln. An einem solchen Versuch fehlt es.

Für die nicht indizierte Entfernung von sechs Zähnen im Oberkiefer und zwei Zähnen im Unterkiefer hält der Senat unter besonderer Berücksichtigung des jugendlichen Alters des Klägers ein Schmerzensgeld von 30.000,00 DM für angemessen und ausreichend. Dabei weist der Senat darauf hin, daß die Gerichte nicht gemäß § 308 ZPO an die Begehrensvorstellung der klagenden Partei gebunden sind, sondern diese bei einem unbezifferten Schmerzensgeldantrag auch deutlich überschreiten dürfen (BGHZ 132, 341 = NJW 1996,2425; von Gerlach, Die prozessuale Behandlung von Schmerzensgeldansprüchen, VersR 2000, 525, Senat, Urteil v. 23.4.1997 - 3 U 99/96 -).

Der Senat ist aufgrund des persönlichen Eindrucks, den der Kläger im Senatstermin gemacht hat, davon überzeugt, daß er psychisch stark unter dem Gebißzustand - herausnahmbare Oberkieferprothese - leidet.

Als Mitglieder der Gemeinschaftspraxis haften die Beklagten zu 1) und 3) dem Kläger - neben den Erben des Beklagten zu 2) für die materiellen Schäden, weil anzunehmen ist, daß der Kläger damals - vertreten durch seine Mutter - zu allen Praxisinhabern in vertragliche Beziehung treten wollte (vgl. BGHZ 142, 126 = NJW 1999, 2731; 2000, 2737).

Der Senat hat, obwohl ein wesentlicher Verfahrensfehler im Sinne des § 539 ZPO darin zu sehen ist, daß der gerichtlich bestellte Gutachter Prof. Dr. trotz rechtzeitigen Antrags vom 20.01.2000 (Bl. 81 d.A.) nicht zum Kammertermin geladen worden ist (vgl. Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 8. Aufl., Rdn. 589 ff. m.w.N.), von einer Zurückverweisung abgesehen und es gemäß § 540 ZPO für sachdienlich gehalten, in der Sache selbst zu entscheiden.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO. Die Beschwer der Beklagten übersteigt nicht 60.000,00 DM.

Ende der Entscheidung

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