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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 01.09.1999
Aktenzeichen: 3 U 11/99
Rechtsgebiete: BGB, GSG, MPG, ZPO


Vorschriften:

BGB § 823
BGB § 823 Abs. 2
BGB § 823 Abs. 2 S. 2
BGB § 847
BGB § 276
GSG § 3 Abs. 1 S. 2
GSG § 3 Abs. 2
GSG § 3 Abs. 3
GSG § 2 Abs. 1 S. 1
GSG § 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 2
GSG § 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
GSG § 2 Abs. 2 b
MPG § 48 Abs. 2 S. 1
ZPO § 540
Warnpflicht bei Medizinprodukten

Die Warnpflicht bei Medizinprodukten erstreckt sich nicht nur auf den bestimmungsmäßigen Gebrauch des Produktes, sondern auch auf den naheliegenden Fehlgebrauch innerhalb des allgemeinen Verwendungszwecks.


OBERLANDESGERICHT HAMM

IM NAMEN DES VOLKES TEIL- UND GRUNDURTEIL

3 U 11/99 OLG Hamm 16 0 427/97 LG

Verkündet am 1. September 1999

Bäbler, Justizangestellte als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 1. September 1999 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Pelz und die Richter am Oberlandesgericht Rüthers und Lüblinghoff

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 16. September 1998 verkündete Urteil der 16. Zivilkammer des Landgerichts Münster abgeändert.

Die Klageanträge zu 1) und 2) sind dem Grunde nach gerechtfertigt.

Es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden aus dem Vorfall vom 10. Juli 1995 zu ersetzen, die materiellen jedoch nur vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs auf Dritte.

Zur Entscheidung über die Höhe der Zahlungsanträge und die Kosten des Rechtsstreits einschließlich derjenigen der Berufungsinstanz wird der Rechtsstreit an das Landgericht zurückverwiesen.

Tatbestand:

Der am geborene Kläger verlangt von der Beklagten, die medizinische Geräte vertreibt, Schadensersatz.

Am 30.06.1995 wurde der Kläger in das in eingeliefert, wo festgestellt wurde, daß er eine neue Herzklappe benötigte. Zur Durchführung der Operation erfolgte am 09.07.1997 die Verlegung in die.

Dort wurde dem Kläger am selben Tag eine neue Herzklappe eingesetzt. Nach der Operation wurde ihm auf der Intensivstation der Universitätsklinik eine Drainage angelegt, um aus dem Wundbereich Sekret abzusaugen.

Hierbei wurde eine Flaschenkombination mit entsprechenden Schlauchverbindungen verwendet, die die Universitätsklinik von der Beklagten bezogen hatte. Es handelte sich um zwei Plastikflaschen mit einem Inhaltsvolumen von je 1 l, die nebeneinander in einer Halterung aus Drahtgeflecht untergebracht waren. Jede Flasche hat oben einen Drehverschluß, aus dem jeweils zwei Plastikschläuche herausführen. Der eine Schlauch wird zum Wundbereich der Operationsstelle verlegt, der andere Schlauch ist dazu bestimmt, die Verbindung zu einem separaten Luftabsauggerät herzustellen, so daß durch den Luftabsog in der Flasche ein Vakuum erzeugt werden kann, das bewirken soll, daß das Sekret aus dem Wundbereich abgesaugt und in die Auffangflasche transportiert wird. Die Vakuumanlage ist auf bestimmten Stationen der Universitätsklinik mit einem eigenen Sicherungssystem ausgestattet, um zu verhindern, daß Sekretreste in die Schläuche gelangen, wodurch eine lebensbedrohliche Situation für den Patienten ausgelöst werden könnte. Üblicherweise ist eine Thoraxdrainage mit dem Sicherungssystem eines sogenannten Wasserschlosses versehen. Wegen des bereits vorhandenen Sicherungssystems forderte die unter dem 19.02.1991 bei der Beklagten unter der Bezeichnung "Thorax-Drainage-System 1045 Sonderanfertigung Münster" 1.500 dieser sogenannten Zwei-Flaschen-Sets an (Bl. 129 d. A.). Entsprechend lieferte die Beklagte diese Zwei-Flaschen-Sets an die Das hier im Streit stehende Zwei-Flaschen-Set wurde frühestens am 03.02.1995 von der Beklagten an die geliefert.

Am 10.07.1995 wurde der Kläger gegen 16:00 Uhr in das zurückverlegt. Während des Transports wurde das verwendete Zwei-Flaschen-Set mitgeführt, um die Drainageschläuche in dem Operationsbereich am Körper des Klägers belassen zu können. Auf der Intensivstation des, sollte das Absaugen von Wundsekret fortgesetzt werden.

Das verfügt über keine eigene Vakuumanlage. Dort wurde der Vakuumschlauch - ohne das zur Sicherung dienende Wasserschloß - an einen Ejektor angeschlossen. Infolge einer Funktionsstörung in dem Ejektor kam es dazu, daß statt der Absaugwirkung ein Pumpeffekt eintrat. Hierdurch bedingt fiel der Kläger in ein Koma, das bis heute andauert.

Der Kläger hat die Beklagte auf Zahlung eines Schmerzensgeldes - Vorstellung: 200.000,00 DM -, Ersatz materieller Schäden und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz aller materiellen und immateriellen Schäden in Anspruch genommen. Er hat behauptet, daß das mangelhaft gelieferte Zwei-Flaschen-Set die Funktionsstörung in der Ejektoranlage im verursacht habe. Das Zwei-Flaschen-Set habe entweder eine Sicherheitseinrichtung oder einen entsprechenden Warnhinweis aufweisen müssen. Die Beklagten haben bestritten, daß sie das Zwei-Flaschen-Set hergestellt hätten. Das verwendete Flaschen-Set sei voll funktionsfähig und nicht mit Fehlern behaftet. Auch die Höhe der materiellen Schadensbeträge und die tatsächlichen Bemessungsgrundlagen zum Schmerzensgeld haben die Beklagte bestritten. Wegen der Einzelheiten des erstinsitanzlichen Parteivorbringens und der in erster Instanz gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, daß der Beklagten weder eine fehlende Sicherung des Zwei-Flaschen-Sets noch das Unterlassen eines Warnhinweises angelastet werden könne.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der Berufung und beantragt,

1.

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 40.720,59 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 27.09.1997 zu zahlen;

2.

die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit dem 27.09.1997 zu zahlen;

3.

festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet sei, ihm alle materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die aus dem Vorfall vom 10.07.1995 resultieren, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte übergegangen seien bzw. übergehen würden.

Die Beklagte beantragt,

1.

die gegnerische Berufung zurückzuweisen;

2.

ihr zu gestatten, eine von ihr zu leistende Sicherheit auch durch die Bürgschaft einer Großbank, Sparkasse oder Genossenschaftsbank zu erbringen.

Die Parteien wiederholen, vertiefen und ergänzen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Wegen der Einzelheiten ihres Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze mit ihren Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens gemäß Beweisbeschluß vom 8. März 1999 (Bl. 343, 344 d. A.), den Prokuristen der Beklagten angehört und den Sachverständigen sein schriftliches Gutachten vom 28.06.1999 erläutern lassen. Insoweit wird auf das schriftliche Gutachten und auf den Vermerk des Berichterstatters zum Senatstermin vom 1. September 1999 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat in dem zuerkannten Umfang Erfolg.

I.

Der geltend gemachte materielle Schaden (Klageantrag zu 1) und der Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes (Klageantrag zu 2) bestehen dem Grunde nach gem. §§ 823, 847 BGB.

1.

Der Kläger hat gegen die Beklagte materielle und immaterielle Schadensersatzansprüche gem. §§ 823 Abs. 2 BGB, 3 Abs. 2, Abs. 3 Gerätesicherheitsgesetz (GSG), 847 BGB.

Es ist anerkannt, daß § 3 Abs. 3 GSG ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB ist (BGH VersR 1988, 635, 636; Kullmann/Pfister, Kza 2450, A I).

Dahinstehen kann, ob auch gegen ein weiteres Schutzgesetz, und zwar gegen § 3 der Medizingeräteverordnung verstoßen worden ist oder ob diese Bestimmung bei Sonderanfertigungen nicht anzuwenden ist (vgl. Nöthlichs, Sicherheitstechnik, Kza 6712).

Die Anwendung des GSG ist jedenfalls nicht, und zwar auch nicht durch § 48 Abs. 2 S. 1 Medizinproduktegesetz (MPG) ausgeschlossen, weil das Zwei-Flaschen-Set nicht nach den Vorschriften des Medizinproduktegesetzes erstmalig in Verkehr gebracht worden ist.

Bei dem Zwei-Flaschen-Set handelt es sich um ein technisches Arbeitsmittel im Sinne von § 2 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 2, Nr. 3, Abs. 2 b GSG. Die Beklagte hat gegen das Schutzgesetz des § 3 Abs. 3 GSG verstoßen. Die in § 3 Abs. 3 GSG enthaltene Schutzbestimmung ist nicht gem. § 3 Abs. 2 GSG dadurch ausgeschlossen worden, daß das Zwei-Flaschen-Set hier nach den schriftlichen Angaben des Verwenders - der Medizinischen Einrichtungen der vom 19.02.1991 (Bl. 129 d. A.) - als "Sonderanfertigung Münster" hergestellt und geliefert werden sollte. § 3 Abs. 2 GSG bestimmt nur, daß die Schutzbestimmungen des § 3 Abs. 1 S. 2 GSG nicht gelten. Diese Regelung beruht auf dem Gedanken, daß derjenige, der ein technisches Arbeitsmittel in den Verkehr bringt, nicht in die Pflicht genommen werden soll, wenn er auf die sicherheitstechnischen Ausführungen der Geräte keinen Einfluß hatte. Mit der ausdrücklichen Regelung in § 3 Abs. 2 GSG ist deutlich zum Ausdruck gebracht worden, daß nur die Schutzbestimmungen des § 3 Abs. 1 S. 2 GSG nicht gelten, dagegen ist § 3 Abs. 3 GSG auf die darin bezeichnete Sonderanfertigung von technischen Arbeitsmitteln anzuwenden (vgl. Kullmann/Pfister, Kza 2450 B. III 4 e).

Die in § 3 Abs. 3 GSG bestimmte Instruktionspflicht, insbesondere zur Verhinderung von Gefahren bei der Verwendung des Zwei-Flaschen-Sets hat die Beklagte nicht erfüllt. Allein die Angabe auf der Verpackung, daß es sich um eine Sonderanfertigung handelt, genügt den Anforderungen an diese Instruktionspflicht nicht. Die Instruktions- und Warnpflichten können zwar deutlich herabgesetzt sein, wenn das Produkt - wie hier - an Fachpersonal in Verkehr gebracht wird, sind aber keineswegs schon allgemein deshalb ausgeschlossen, weil das betroffene Produkt von Fachpersonal gehandhabt wird (BGH NJW 1996, 2224, 2226). Je gewichtiger die Gefahr für Gesundheit und Leben ist, desto höhere Anforderungen sind an die Gestaltung der Warnhinweise zu stellen (vgl. Bundesverfassungsgericht NJW 1997, 249). Die insoweit erforderlichen Warnhinweise fehlten hier völlig. Es hätte nahegelegen einen deutlichen Hinweis, zum Beispiel des Inhalts auf den Flaschen anzubringen: Sonderanfertigung, darf nur auf Stationen ... der verwendet werden, sonst droht Lebensgefahr.

Die Warnpflicht erstreckt sich nicht nur auf den bestimmungsgemäßen Gebrauch des Produktes, sondern auch auf den naheliegenden Fehlgebrauch innerhalb des allgemeinen Verwendungszwecks (BGH MDR 1989, 534; 1999, 936, 937). Der Sachverständige hat hierzu ausgeführt, daß das Pflegepersonal für die Intensivmedizin hätte wissen müssen, daß solche Flaschen-Sets nicht ohne Wasserschloß zur Anwendung kommen dürfen. Gleichwohl lag der Fehlgebrauch hier deshalb nahe, weil - so der Sachverständige - die Erfahrung in der Praxis lehre, daß sich das Personal bei Verlegungen nicht hinreichend um das Problem von Sonderanfertigungen kümmere.

Daß der Vorfall und der Schaden am 10.07.1995 durch die Verwendung des streitgegenständlichen Flaschen-Sets verursacht worden ist, hat der Sachverständige bestätigt. Das Thorax-Drainage-Set hätte - ohne Wasserschloß - nicht an den im vorhandenen Ejektor angeschlossen werden dürfen. Ein entsprechender Warnhinweis hätte den Anschluß an den dortigen Ejektor verhindert. Dafür, daß ein solcher Warnhinweis beachtet worden wäre, spricht eine tatsächliche Vermutung (vgl. BGH NJW 1992, 560; 1994, 3349;). Diese Vermutung hat die Beklagte nicht widerlegt.

Die Beklagte haftet der Klägerin für die in Rede stehenden Ansprüche. Dabei kann dahinstehen, ob die Beklagte als Herstellerin oder Einführerin - nur diese waren Normadressaten der bis Ende 1992 geltenden Fassung des GSG - anzusehen ist. Jedenfalls hat die Beklagte die Flaschen-Sets als Lieferantin in den Verkehr gebracht. Seit Anfang des Jahres 1993 zählen auch diejenigen zu den Normadressaten des § 3 GSG, die das technische Arbeitsmittel in Verkehr gebracht haben. Das hier im Streit stehende Flaschen-Set ist frühestens am 03.02.1995 geliefert worden.

Das Verhalten der Beklagten wertet der Senat schon deshalb als schuldhaft gem. § 823 Abs. 2 S. 2, 276 BGB, weil sie die sich aufdrängende Instruktionspflicht nicht beachtet und den naheliegenden Fehlgebrauch des nicht gesicherten Zwei-Flaschen-Sets hätte voraussehen können.

2.

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen weiteren Anspruch gem. §§ 823 Abs. 1, 847 BGB.

Die Beklagte hat bei der Inverkehrgabe der Zwei-Flaschen-Sets durch Unterlassen eines gebotenen Warnhinweises gegen die ihr obliegende Verkehrssicherungspflicht verstoßen und dadurch die Verletzung des Klägers verursacht. Die Beklagte hätte den naheliegenden Fehlgebrauch des Thorax-Drainage-Sets erkennen und davor deutlich warnen müssen. Dies gilt auch für den Fall, wenn man der Auffassung sein sollte, daß es sich bei dem Zwei-Flaschen-Set nicht um ein technisches Arbeitsmittel handelt und deshalb die Vorschriften des GSG nicht einschläglich sein sollten. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, daß sich die allgemeine Verkehrssicherungspflicht nicht auf die Einhaltung von normierten sicherheitstechnischen Regeln beschränkt, weil solche Vorschriften lediglich entsprechende Sorgfaltspflichten konkretisieren, dagegen keine abschließende Festlegung der Verantwortlichkeit darstellen (zuletzt BGH MDR 1999, 936, 937). Ist wie hier die naheliegende Möglichkeit einer nicht sicherheitsgerechten Anwendung vorhersehbar, muß davor gewarnt werden. Das hat die Beklagte nicht getan.

II.

Das Feststellungsbegehren des Klägers ist aufgrund der umfassenden Haftung des Beklagten sowohl wegen der materiellen als auch wegen der immateriellen Schäden begründet, die nicht bereits von den Klageanträgen zu 1) und 2) erfaßt werden.

III.

Bezüglich der Höhe der geltend gemachten Zahlungsansprüche war die nicht entscheidungsreife Sache gem. § 538 Abs. 1 Ziff. 3) an das Landgericht zurückzuverweisen, das die nach Grund und Höhe streitigen Ansprüche des Klägers als unbegründet abgewiesen hat. Eine eigene Sachentscheidung im Sinne von §§ 540 ZPO hielt der Senat nicht für sachdienlich. Die Beweisaufnahme auch zur Schadenshöhe vor dem Senat durchzuführen, erschien weder zweckmäßig noch liegt dies hier im Interesse der Parteien an der Wahrnehmung der Sachaufklärungsmöglichkeiten von zwei Instanzen, zumal der Kläger die Zurückverweisung insoweit ausdrücklich in der Berufungsbegründung angeregt hat (Bl. 318 d. A.).

IV.

Das Urteil beschwert die Beklagte mit mehr als 60.000,00 DM.

Ende der Entscheidung

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