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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 24.10.2001
Aktenzeichen: 3 U 123/00
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 847
BGB § 823
ZPO § 91 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 713
Die Durchführung einer chirotherapeutischen Manipulation kann dann als grober Behandlungsfehler gewertet werden, wenn zuvor ein in Betracht zu ziehender Bandscheibenvorfall nicht ausgeschlossen worden ist. Daß die zum Ausschluß führenden Untersuchungen erfolgt sind, ist - aus medizinischen Gründen - zu dokumentieren.
OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

3 U 123/00 OLG Hamm

Verkündet am 24. Oktober 2001

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 24. Oktober 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Pelz sowie die Richter am Oberlandesgericht Rüthers und Lüblinghoff

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 14. April 2000 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 50.000,00 DM und einen weiteren Betrag von 1.087,57 DM, jeweils nebst 4 % Zinsen seit dem 27. Mai 1999 zu zahlen.

Es wird festgestellt, daß der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen weiteren materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihr aufgrund der fehlerhaften Behandlung durch den Beklagten am 7. Mai 1997 entstanden ist und noch entstehen wird, den materiellen Schaden jedoch nur vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte.

Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

Die im Jahr 1980 geborene Klägerin begab sich am 07.05.1997 anläßlich eines Sportunfalls in die chiropraktische Behandlung des Beklagten. Der Beklagte stellte folgenden Befund: "Geringe Seitenverkrümmung und Flachrücken, Schmerzempfindung in der LWS mit ausgeprägter Bewegungssteife, Lasegue li. pseudo positiv"; Diagnose: "Blockierung LWS links bei akuter Lumbalgie".

Der Beklagte führte daraufhin eine chirotherapeutische Behandlung durch und verordnete Krankengymnastik. Auf Grund zunehmender Schmerzen im Rücken mit Ausstrahlung in das rechte Bein suchte die Klägerin den Beklagten am 13.05.1997 nochmals auf. Dieser fertigte eine Röntgenaufnahme und stellte erneut fest, daß der Lasegue pseudo positiv sei und sich zudem keine neurologischen Ausfälle zeigten. Es folgte erneut eine chiropraktische Behandlung. Am 16.05.1997 suchte die Klägerin wiederum den Beklagten wegen ständig anhaltender Beschwerden verbunden mit einem Taubheitsgefühl im rechten Fuß auf. Der Beklagte stellte einen Ausfall des Nervus peronaeus fest. Er veranlaßte umgehend eine Überweisung an einen Facharzt für Neurologie, der folgendes feststellte: "Fußheberparese rechts, Achillessehnenflex rechts nicht vorhanden, Sensibilität im Segment L 5 rechts vermindert, starke Einschränkung der Beweglichkeit der LWS, Naffziger positiv". Nach Durchführung einer Kernspintomographie der LWS stellte dieser Arzt die Diagnose: "Akutes Wurzelkompressionssyndrom L 5 rechts bei Bandscheibenvorfall L 4/5 nach Sportverletzung". Noch am 16.05.1997 wurde die Klägerin in der Neurochirurgischen Klinik Minden operiert. Die stationäre Behandlung dauerte bis zum 23.05.1997.

Die Klägerin hat den Beklagten auf Zahlung des Schmerzensgeldes - Vorstellung: 50.000,00 DM -, Ersatz bezifferter materieller Schäden und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz weiterer Schäden in Anspruch genommen. Sie hat behauptet, daß der Beklagte bei den Behandlungen am 07. und 13.05.1997 die gebotenen Untersuchungen nicht vorgenommen habe. Bei einer regelrechten konservativen Behandlung hätten die Operation vom 16.05.1997 und die damit verbundenen Nachteile verhindert werden können. Der Beklagte hat behauptet, die gebotenen Untersuchungen vor den Behandlungen am 07. und 13.05.1997 durchgeführt zu haben und stellt jeden Behandlungsfehler in Abrede. Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Parteivorbringens und der in erster Instanz gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, daß die chiropraktischen Behandlungen am 7. und 13.05.1997 bei einer bandscheibenbedingten Ischialgie den Therapieleitlinien der Orthopädie entspreche. Etwaige Dokumentationsversäumnisse ließen nicht den Schluß zu, daß der Beklagte die gebotene und aufzeichnungspflichtige Maßnahme vor den chiropraktischen Behandlungen unterlassen habe.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin und beantragt,

unter Abänderung der angefochtenen Entscheidung des Landgerichts Bielefeld vom 14.04.2000

1.

den Beklagten zu verurteilen, an sie 1.087,57 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

2.

den Beklagten zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Senats gestellt wird, nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

3.

festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, ihr alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr auf Grund der fehlerhaften Behandlung durch den Beklagten in der Zeit vom 07. bis zum 16.05.1997 entstanden sind oder zukünftig entstehen werden, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.

Der Beklagte beantragt,

1.

die gegnerische Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen;

2.

hilfsweise Vollstreckungsnachlaß.

Die Parteien wiederholen, vertiefen und ergänzen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Wegen der Einzelheiten ihres Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze mit ihren Anlagen Bezug genommen. Der Senat hat, nachdem sich der Sachverständige Professor Dr. W selbst für befangen erklärt hat, das Befangenheitsgesuch der Klägerin für begründet erklärt und ein weiteres Gutachten gemäß Beschluß vom 31.01.2001 (Bl. 305 der Akten) eingeholt und den Sachverständigen Dr. P sein schriftliches Gutachten erläutern lassen. Zudem sind in den Senatsterminen am 15.01. und am 24.10.2001 die Parteien angehört und die Mutter der Klägerin als Zeugin vernommen worden. Insoweit wird auf die Vermerke des Berichterstatters zu den Senatsterminen vom 15.01.2001 (Bl. 299 bis 301 der Akten) und vom 24.10.2001 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat Erfolg.

Die Klägerin hat gegen den Beklagten Schadensersatzansprüche aus den §§ 847, 823 BGB und - die materiellen Schäden betreffend - aus einer schuldhaften Verletzung von Sorgfaltspflichten des Behandlungsvertrages.

Die Behandlung der Klägerin durch den Beklagten am 07.05.1997 ist fehlerhaft erfolgt. In der Beurteilung des Behandlungsgeschehens macht sich der Senat die Feststellung des Sachverständigen Dr. P, der sein Gutachten überzeugend erläutert hat, zu eigen. Danach durfte die chirotherapeutische Manipulation am 07.05.1997 nicht durchgeführt werden, ohne den Bandscheibenvorfall auszuschließen.

Daß es am 07.05.1997 zu einer chirotherapeutischen Manipulation durch den Beklagten gekommen ist, steht zur Überzeugung des Senats fest. Die Klägerin hat von Anfang an und kontinuierlich eine schmerzhafte chirotherapeutische Behandlung für den 07.05.1997 behauptet (so bereits im anwaltlichen Schreiben vom 11.09.1997, Bl. 32 bis 34 der Akten, so die Angaben gegenüber der Gutachterkommission, Bl. 39 der Akten, so die Angaben im Senatstermin vom 15.01.2001, Bl. 299 der Akten). Auch die Angaben des Beklagten bestätigen die Durchführung einer chirotherapeutischen Manipulation.

Bereits in dem vom Beklagten unterzeichneten Bericht an den Unfallversicherungsträger vom 13.05.1997 (Bl. 27 der Akten) ist als Erstversorgung für den 07.05.1997 die "chirotherapeutische Manipulation" aufgeführt. Eine solche chirotherapeutische Manipulation ist von dem Beklagten mit der Gebührenziffer 3306 auch abgerechnet worden. Es bestand für den Senat keine Veranlassung, dem Beklagten zu dieser Abrechnungsfrage eine Schriftsatzfrist zu gewähren, weil diese Frage bereits Gegenstand des Bescheids der Gutachterkommission war, wo es auf S. 13, Bl. 48 der Akten heißt: "Dieser diagnostizierte eine Blockierung der LWS links bei akuter Lumbalgie und führte eine chirotherapeutische Behandlung, Abrechnungsziffer 3306 = chirotherapeutischer Eingriff an der Wirbelsäule durch."

Die Durchführung dieser chirotherapeutisehen Manipulation war fehlerhaft, weil der Beklagte den in Betracht zu ziehenden Bandscheibenvorfall zuvor nicht ausgeschlossen hatte. Hierzu hätte es einer gründlichen neurologischen Untersuchung bedurft. Eine solche ist der Dokumentation nicht zu entnehmen, obwohl diese Untersuchung - aus medizinischen Gründen -, so der Sachverständige Dr. P, so der zweite Gutachter der Gutachterkommission (S. 15 des Bescheides vom 14.12.1998, Bl. 50 der Akten), und so auch der Beklagte im Senatstermin vom 24.10.2001, zu dokumentieren ist. Dadurch, daß diese aus medizinischen Gründen aufzeichnungspflichtige "neurologische Untersuchung nicht dokumentiert worden ist, ist indiziell anzunehmen, daß diese gebotene Untersuchung nicht durchgeführt worden ist.

Der Senat wertet die Durchführung der chirotherapeutischen Manipulation ohne die vorherige gebotene Untersuchung als einen groben Behandlungsfehler.

Die Annahme eines groben Behandlungsfehlers setzt die Feststellung voraus, daß der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (BGHZ 138, 1 = NJW 1998, 1780 = VersR 1998, 457, 458 m.w.N.; Senat, Urteil vom 04.04.2001 - 3 U 155/00 -). Bei der Beurteilung, ob ein Behandlungsfehler als grob einzuordnen ist, handelt es sich um eine durch den Senat vorzunehmende juristische Wertung. Diese wertende Entscheidung hat auf tatsächlichen Anhaltspunkten zu beruhen, die sich in der Regel aus der medizinischen Wertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen ergeben (BGH a.a.O.).

Nach diesen Maßstäben liegt in der chirotherapeutischen Manipulation am 07.05.1997 ein schweres Versäumnis, das aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint. Der Sachverständige Dr. P hat hierzu ausgeführt, daß ein im Hintergrund stehender Bandscheibenvorfall hätte ausgeschlossen werden müssen. Dieses Unterlassen sei ein schwerer Fehler, weil damit gegen das sogenannte "Dickgedruckte" oder das sogenannte "Eingekästelte" verstoßen werde.

Das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers führt grundsätzlich zur Umkehr der Beweislast. Nur ausnahmsweise kann auch bei Annahme eines groben Behandlungsfehlers eine Beweislastumkehr ausgeschlossen sein, wenn es gänzlich unwahrscheinlich ist, daß der Fehler zum Schadenseintritt beigetragen hat (BGHZ 138, 1 = NJW 1998, 1780 = VersR 1998, 457). Beweiserleichterungen bis zum Umkehr der Beweislast sind erst dann ausgeschlossen, wenn ein jeglicher Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (BGH NJW 1997, 796 = VersR 1997, 362).

Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. P ist es weder ausgeschlossen noch äußerst unwahrscheinlich, daß der - ex-ante in Betracht zu ziehende und ex-post anzunehmende - Bandscheibenvorfall durch die chirotherapeutische Manipulation verschlimmert und so die Möglichkeit einer rein konservativen Behandlung ausgeschlossen worden ist. Die am 07.05.1997 vorgenommene Manipulation sei generell geeignet gewesen, daß sich das aus dem Faserring austretende Gewebe weiter fortbewegt und daß sich diese Entwicklung auch noch nach Tagen fortgesetzt haben kann.

Durch das Vorgehen des Beklagten ist der Klägerin die Möglichkeit einer zu 80 % erfolgreichen rein konservativen Behandlung genommen worden. Unter Berücksichtigung der Operation und deren Folgen, die die Klägerin in ihrem jugendlichen Alter hat erleiden müssen und unter Berücksichtigung des heutigen - den Umständen entsprechenden recht günstigen - Beschwerdebildes hält der Senat das zuerkannte Schmerzensgeld von 50.000,00 DM für angemessen und ausreichend.

Auch der materiell geltend gemachte bezifferte Schaden von insgesamt 1.087,57 DM (S. 25 der Klageschrift, Bl. 25 der Akten) ist ebenso wie der zuerkannte Feststellungsantrag begründet.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO. Das Urteil beschwert den Beklagten mit weniger als 60.000,00 DM.

Ende der Entscheidung

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