Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 19.01.2000
Aktenzeichen: 3 U 14/99
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 823
BGB § 831
BGB § 847
ZPO § 91
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

3 U 14/99 OLG Hamm 4 O 329/94 LG Bielefeld

verkündet am 19. Januar 2000

Stalljohann, Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts

In Sachen

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 20. September 1999 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Pelz sowie die Richter am Oberlandesgericht Kamps und Rüthers

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Beklagten zu 1) gegen das am 13. November 1998 verkündete Grund-Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld wird zurückgewiesen.

Auf die Berufungen der Beklagten zu 2) und 3) wird dieses Urteil teilweise abgeändert:

Die gegen die Beklagten zu 2) und 3) gerichteten Klagen werden abgewiesen.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2) und 3), während die Entscheidung über die übrigen Kosten des Rechtsstreits dem Schlußurteil vorbehalten bleibt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten zu 2) und 3) durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung von jeweils 60.000,00 DM abwenden, wenn nicht der vollstreckende Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Parteien können die Sicherheitsleistung auch durch die unbedingte und unbefristete Bürgschaft eines in der als Zoll- und Steuerbürgen zugelassenen Kreditinstituts erbringen.

Tatbestand:

Die seinerzeit 20-jährige Mutter des Klägers wurde am 5. Oktober 1982 als Erstgebärende in die geburtshilfliche Abteilung des Krankenhauses dessen Träger der Beklagte zu 1) ist, eingewiesen. Als es am Morgen des 7. Oktober zu einem im CTG verzeichneten Herztonabfalls kam, wurden die Beklagten zu 2) und 3), die sich auf dem Weg zu Operationen zufällig in der Nähe des Kreißsaales aufhielten und die die Mutter der Klägerin nicht kannten, in den Kreißsaal gerufen. Sie entbanden den Kläger durch abwechselnden Einsatz der Vakuumglocke, der Zange und erneut der Vakuumglocke um 08.02 Uhr. Der Kläger ist seit seiner Geburt schwerstbehindert.

Der Kläger nimmt die Beklagten auf Zahlung von Schadensersatz in Kapital- und Rentenform, auf Zahlung eines Schmerzensgeldes und auf Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz weiterer Schäden in Anspruch. Er hat behauptet, das Vorgehen vor und während seiner Entbindung sei in mehrfacher Hinsicht fehlerhaft gewesen, wodurch seine schweren Schäden verursacht worden seien. Die Beklagten haben Behandlungsfehler und deren Ursächlichkeit für den Zustand des Klägers in Abrede gestellt. Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Parteivortrages und die in erster Instanz gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat die Klageanträge dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Dagegen wenden sich die Beklagten mit der Berufung, mit der sie beantragen,

1.

in Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen,

2.

im Unterliegensfalle den Beklagten nachzulassen, Sicherheitsleistung durch Bürgschaft einer deutschen Großbank oder Sparkasse zu erbringen.

Der Kläger beantragt,

1.

die Berufung zurückzuweisen,

2.

ihnen nachzulassen, Sicherheitsleistung auch durch unbedingte, unbefristete und selbstschuldnerische Bürgschaft einer deutschen Großbank oder öffentlichen Sparkasse erbringen zu dürfen.

Beide Parteien wiederholen und vertiefen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Wegen der Einzelheiten des Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Der Senat hat schriftliche Gutachten des Sachverständigen eingeholt, die Eltern des Klägers und den Beklagten zu 2) angehört und die Sachverständigen und zu einer mündlichen Erläuterung ihrer Gutachten veranlaßt. Insoweit wird auf die schriftlichen Gutachten von vom 28. Juni 1999, 31. August 1999 und 17. September 1999 sowie den Vermerk des Berichterstatters zum Senatstermin vom 20. September 1999 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten zu 1) gegen das landgerichtliche Urteil bleibt ohne Erfolg, während die Berufungen der Beklagten zu 2) und 3) zur Abweisung der gegen sie gerichteten Klage führen. Der Kläger hat gegen den Beklagten zu 1) dem Grunde nach Schadensersatzansprüche aus den §§ 823, 831, 847 BGB und aus einer schuldhaften Verletzung von Sorgfaltspflichten aus dem Behandlungsvertrag. Die Beklagten zu 2) und 3) haften dem Kläger unter keinem dieser Gesichtspunkte.

In der Beurteilung des Behandlungsgeschehens als fehlerhaft macht sich der Senat die Feststellungen des Sachverständigen in seinen schriftlichen Gutachten und bei seinen mündlichen Ausführungen vor dem Senat zu eigen. Danach hätten die Widersprüche in der Errechnung des Geburtstermins und die im Mutterpaß angegebenen Beckenmaße Anlaß zu einer eingehenden Untersuchung der Mutter des Klägers geben müssen. Die Möglichkeit einer Entbindung zum Termin und eines Mißverhältnisses zwischen dem kindlichen Kopf und den mütterlichen Beckenmaßen hätten in Erwägung gezogen werden müssen. Ein über alle diese Umstände unterrichteter Arzt hätte die Geburt des Klägers leiten und von einer vaginal-operativen Entwicklung von Beckeneingang absehen, stattdessen eine Entbindung durch Kaiserschnitt vornehmen müssen. Das alles gilt angesichts der Auffälligkeiten im Mutterpaß ganz unabhängig davon, welche Eintragungen aufgrund welcher Umstände im einzelnen falsch waren. Auch liegt der Schwerpunkt des Vorwerfbaren nicht in der Fehldeutung einzelner Umstände, sondern darin, dass die Möglichkeit des aufgezeigten Mißverhältnisses nicht in Erwägung gezogen worden ist und in einer Notsituation, zu der es so nicht hätte kommen dürfen, die falsche Entbindungsweise gewählt worden ist.

Die Beklagten haben zwar die Gültigkeit der vom Sachverständigen - angelegten - Maßstäbe für das Entbindungsjahr 1982 in Abrede gestellt und einzelne Feststellungen des Gutachters angegriffen. Der Sachverständige hat diese Einwände indessen in seinem in erster Instanz erstatteten schriftlichen Ergänzungsgutachten und bei seiner mündlichen Anhörung durch den Senat überzeugend widerlegt. Dabei hat stets die für den Senat einleuchtende Feststellung im Mittelpunkt gestanden, daß die Möglichkeit eines Mißverhältnisses zwischen kindlichem Kopf und mütterlichem Becken hätte ins Auge gefaßt und dass diese Erwägung einen in vollem Umfang über die Voraussetzungen informierten Arzt angesichts der Situation bei Beginn der Extraktionsversuche hätte veranlassen müssen, von einer vaginal-operativen Entbindung zugunsten einer solchen durch Kaiserschnitt Abstand zu nehmen. In diesem Zusammenhang macht sich der Senat auch die Feststellung des Sachverständigen, die Entbindung des Klägers sei von Beckeneingang und nicht Beckenmitte erfolgt, zu eigen. Dem Senat leuchten die wiederholten Feststellungen des Sachverständigen, daß nur eine solche Ausgangssituation den Ablauf der Entbindung erkläre, ein.

Der Beklagte zu 1) muß dafür einstellen, dass die Möglichkeit eines Mißverhältnisses nicht in Erwägung gezogen, die Entbindung des Klägers nicht durch einen in vollem Umfang informierten Arzt geleitet und deshalb die falsche Entbindungsmethode gewählt worden ist. Das gilt unabhängig davon, ob dein Beklagten zu 2) und 3) ihre Entscheidung zugunsten einer vaginal-operativen Entbindung in einer Notsituation, in die sie gleichsam zufällig hineingeraten sind, vorzuwerfen ist. Zu einer solchen Situation hätte es nicht kommen dürfen. Die Wahl der Entbindungsart hätte vielmehr von eitlem umfassend informierten, die Möglichkeit eines Mißverhältnisses zwischen Kopf und Becken erwägenden Arztes, dann aber zugunsten des Kaiserschnitts als der schonenderen Entbindungsart getroffen werden müssen.

Die Möglichkeit einer solchen Entbindung - sei es auch als alternatives Vorgehen unter bestimmten Voraussetzungen - hätte mit der Mutter des Klägers besprochen werden können und müssen. Der Senat glaubt der Mutter, dass sie sich mit einer Schnittentbindung jedenfalls für den Fall, daß dies die medizinisch richtige Entscheidung war, einverstanden erklärt hätte.

Der Beklagte zu 1) hat nicht bewiesen, dass die vaginal-operative Entbindung die gesundheitlichen Schäden des Klägers nicht verursacht hat. Der Sachverständige an dessen Sachkunde und Erfahrung keine Zweifel bestehen, hat eine geburtsassoziiert, hypoxisch-ischämische Schädigung bejaht. Einen ursächlichen Zusammenhang mit einer traumatisierenden Einwirkung auf den kindlichere Kopf und einer darauf beruhenden intrakraniellen Drucksteigerung hat er als wahrscheinlich, oder gut möglich bezeichnet. Das führt zur Haftung des Beklagten zu 1), weil er beweisen muß, dass die fehlerhafte Geburtsleitung nicht für die Schäden des Klägers ursächlich ist. Denn es ist als ein im Rechtssinne grobes Versäumnis zu werten, dass die Geburt nicht von einem umfassend informierten Geburtshelfer geleitet worden ist. Hätte ein solcher Geburtshelfer die gebotenen differenzial-diagnostischen Erwägungen unterlassen oder sich trotz solcher Erwägungen zur vaginal-operativen Entbindung entschlossen, so mußte auch dies als im Rechtssinne grob fehlerhaft gewertet werden. Insoweit befindet sich der Senat in Übereinstimmung mit der Beurteilung des Sachverständigen.

Die Ansprüche des Klägers sind nicht verjährt, da Kenntnis der Eltern nicht schon bei Einleitung des Verfahrens vor der Gutachterkommission, sondern erst mit Erhalt des für sie günstigen Gutachtens anzunehmen ist.

Die Beklagten zu 2) und 3) haften dem Kläger nicht. Ob ihnen überhaupt vorzuwerfen ist, dass sie sich in der von ihnen vorgefunden Notsituation zu einer vaginal-operativen Entbindung entschlossen haben, kann dahinstehen. Immerhin hat der Sachverständige dazu ausgeführt, dass das Vorgehen der Beklagten bei ihrem Kenntnisstand wohl vertretbar gewesen sei und daß ihm "das Wohl auch passiert" wäre. Jedenfalls oblag aber den Beklagten zu 2) und 3), denen kein grobes Fehlverhalten anzulasten ist, nicht, die Ursächlichkeit der Entbindungsmethode für die Gesundheitsschädigung des Klägers auszuschließen. Vielmehr wäre es Sache des Klägers gewesen, sie zu beweisen. Dieser Beweis ist nicht erbracht, wie der Sachverständige unmißverständlich und überzeugend ausgeführt hat.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2) und 3) beruht auf § 91 ZPO. Das Urteil belastet den Kläger und den Beklagten zu 1) mit mehr als 60.000,00 DM.

Ende der Entscheidung

Zurück