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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 16.01.2002
Aktenzeichen: 3 U 156/00
Rechtsgebiete: BGB, ZPO
Vorschriften:
BGB § 823 | |
BGB § 831 | |
BGB § 847 | |
ZPO § 711 | |
ZPO § 708 Nr. 10 |
OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
3 U 156/00 OLG Hamm
Verkündet am 16. Januar 2002
In dem Rechtsstreit
hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 24. April 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Pelz und die Richter am Oberlandesgericht Kamps und Lüblinghoff
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das am 9. Mai 2000 verkündete Urteil der 12. Zivilkammer des Landgerichts Essen wird zurückgewiesen.
Auf die Anschlußberufung des Klägers wird dieses Urteil - unter Zurückweisung des Rechtsbehelfs hinsichtlich eines Teiles der Zinsen - teilweise abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Gesamtschmerzensgeld von 500 000,00 Euro nebst 4 % Zinsen auf den gesamten Betrag seit dem 24. August 1995 zu zahlen.
Hinsichtlich des weitergehenden bezifferten Klageantrages bleibt es bei der vom Landgericht ausgesprochenen Haftung dem Grunde nach.
Es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger allen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der dem Kläger aus dem Ereignis vom 28. August 1992 entstanden ist, den materiellen Schaden nur, soweit er ab dem 28. August 1995 und soweit er nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits, auch über diejenigen des Berufungsverfahrens, bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung von 555.000,00 Euro abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Beide Parteien können die Sicherheitsleistung auch durch eine unbedingte und unbefristete Bürgschaft einer deutschen Großbank, öffentlichen Sparkasse oder Genossenschaftsbank erbringen.
Tatbestand:
Die am 29. August 1958 geborene Frau R, die mit dem Kläger schwanger war, wurde von dem sie betreuenden Arzt am 7. August 1992 in das Krankenhaus der Beklagten überwiesen. Der Schwangerschaftstermin war errechnet worden mit dem 9. August. Die Mutter des Klägers wurde im Krankenhaus der Beklagten zunächst ambulant behandelt, wobei eine Korrektor des Schwangerschaftstermins auf den 16. August erfolgte. Am 26. August wurde die Schwangere stationär aufgenommen. Am Folgetage wurde sie gegen 16 Uhr in den Kreißsaal verlegt. Dort wurde die Geburt zunächst von einem Arzt im Praktikum und einer Hebamme betreut. Gegen Mitternacht wurde der in Rufbereitschaft zuhause befindliche Oberarzt benachrichtigt. Er entband den Kläger zwischen 1.10 Uhr und 1.48 Uhr mit der Saugglocke. Um 2.10 Uhr wurde das Kind in pädiatrische Betreuung übergeben.
In der Kinderklinik zeigte der Kläger bereits am Aufnahmetag neurologische Auffälligkeiten. In den Folgetagen wurden diese durch Ultraschalluntersuchungen und ein Schädel-CT bestätigt. Der Kläger ist schwerstbehindert. Er kann sich aktiv nicht fortbewegen, ist nahezu blind, hat eine schwere Tetraspastik, kaum behandelbare cerebrale Krampfanfälle.
Er hat die Beklagte auf Zahlung eines Schmerzensgeldkapitalbetrags, Ersatz bezifferter materieller Schäden und die Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz künftiger materieller und immaterieller Schäden in Anspruch genommen. Er wirft den Bediensteten der Beklagten, die seine Geburt betreut haben, zahlreiche Behandlungsfehler vor und behauptet, darauf sei seine schwere körperliche Schädigung zurückzuführen. Die Beklagte hat beides in Abrede gestellt.
Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens in erster Instanz wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils Bezug genommen. Das Landgericht, dem gynäkologische und pädiatrische Privatgutachten vorlagen und das weitere gynäkologische Gutachten eingeholt hat, hat dem Kläger ein Schmerzensgeld von 300.000,00 DM zugesprochen, den Klageantrag auf Ersatz bezifferten materiellen Schadens dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und einen Feststellungsausspruch getroffen. Dagegen wendet sich die Beklagte mit der Berufung, mit der sie beantragt,
1. abändernd die Klage abzuweisen;
2. ihr zu gestatten, Sicherheit auch durch die Bürgschaft einer deutschen Großbank, einer Sparkasse oder Genossenschaft zu erbringen.
Der Kläger beantragt,
1. die Berufung zurückzuweisen;
2. ihm zu gestatten, Sicherheitsleistung auch durch Bürgschaft einer deutschen Großbank oder öffentlichen Sparkasse zu erbringen.
Er schließt sich dem Rechtsmittel der Beklagten an und beantragt insoweit,
1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger ein weiteres angemessenes Schmerzensgeld, und zwar mindestens weitere 50.000,00 DM zu zahlen;
2. den gesamten Schmerzensgeldbetrag mit 2 % über dem jeweiligen Diskontsatz der Deutschen Bundesbank, mindestens jedoch 4 % seit dem 24. August 1995 zu verzinsen;
3. die Einschränkung im Feststellungsurteil zu Ziffer 3 "ab dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in diesem Rechtsstreit" ersatzlos wegfallen zu lassen und auszusprechen, daß entsprechend dem Klageantrag festzustellen ist, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger allen Schaden zu ersetzen, der diesem aus dem Ereignis vom 28.08.1992 ab dem 28.08.1995 entstehen wird, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist.
Die Beklagten beantragt,
die Anschlußberufung zurückzuweisen.
Die Parteien wiederholen und vertiefen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Hinsichtlich der Einzelheiten des Berufungsvorbringens wird auf die in zweiter Instanz gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
Der Senat hat die Mutter des Klägers angehört, den Zeugen Oberarzt Dr. O vernommen, den geburtshilflichen Sachverständigen Dr. M zu einer mündlichen Erläuterung seines Gutachtens veranlaßt und ein mündliches Gutachten des pädiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. K, dem eine schriftliche Zusammenfassung vorangestellt war, eingeholt. Auf diese Zusammenfassung und den Vermerk des Berichterstatters zum Senatstermin vom 25. April 2001 wird verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten bleibt ohne Erfolg. Sie schuldet dem Kläger aus den §§ 823, 831, 847 BGB sowie aus einer schuldhaften Verletzung von Sorgfaltspflichten aus dem Behandlungsvertrag mit der Mutter des Klägers ein Schmerzensgeld und Ersatz aller übrigen Schäden, die auf der fehlerhaften Geburtsbetreuung beruhen.
In der Beurteilung des Behandlungsgeschehens macht sich der Senat die Feststellungen des Sachverständigen Dr. M, die der Sachverständige sowohl vor der Kammer als auch im Senatstermin überzeugend erläutert hat, die sich im übrigen aber auch in weiten Teilen, wenn auch nicht in allen Einzelheiten mit den Feststellungen der übrigen geburtshilflichen Gutachter decken, zu eigen. Danach ist der Beklagten zunächst als organisatorisches Verschulden zuzurechnen, daß die Geburt bis zum Eintreffen des Zeugen O von einem Arzt im Praktikum mit Unterstützung einer Hebamme geleitet wurde. Ob dies im Jahre 1992 bei der Betreuung von Geburten, die nicht mit besonderen Risiken behaftet waren, noch als ärztlichem Standard genügend angesehen werden darf, kann offen bleiben. Um einen solchen Fall handelte es sich hier nämlich nicht. Der vom betreuenden Arzt errechnete Geburtstermin war aus unerfindlichen Gründen im Krankenhaus der Beklagten zunächst auf eine Woche später bestimmt worden; auch dieser Termin war bei der schließlichen stationären Aufnahme dann um 10 Tage überschritten. Darüber hinaus waren schon vor der Aufnahme pathologische bzw. präpathologische Veränderungen in CTG-Aufzeichnungen festzustellen. Unter diesen Umständen war es nicht vertretbar, die Betreuung der Geburt über Stunden hin einem Arzt im Praktikum und einer Hebamme zu überlassen, sofern nicht mindestens ein Facharzt nicht etwa im Hintergrunddienst zu Hause, sondern im Krankenhaus anwesend war und sich von der Entwicklung des Geburtsgeschehens jederzeit und in kürzester Frist überzeugen konnte.
Wie falsch dies war, zeigt sich an der Benachrichtigung des Zeugen O erst zwischen 23.50 Uhr und Mitternacht. Der Sachverständige hat diese Verzögerung nach 23 Uhr als objektiv unverständlich bezeichnet und erklärt: "Das geht einfach nicht".
Schließlich sind das lange Zuwarten mit der Vakuumextraktion und deren Dauer von etwa 38 Minuten unter den gegebenen Umständen als fehlerhaft zu beanstanden. Klarheit über den Zustand des Kindes hatte man sich durch - eine durchaus mögliche - Mikroblutanalyse nicht verschafft. Es waren Besonderheiten im CTG aufgetreten. Wollte man sich hier nicht sofort zur Entbindung im Wege des Kaiserschnitts entschließen, so hätte das Bemühen um eine vaginal-operative Entbindung sich jedenfalls nur über einen wesentlich kürzeren Zeitraum erstrecken dürfen.
Schließlich ist zu beanstanden, daß die Pädiater zu spät benachrichtigt wurden. Zwar hat der dem Senat als sehr erfahren und sachkundig bekannte Gutachter Prof. Dr. Sch in einem Privatgutachten ausgeführt, die unmittelbare postpartale Betreuung sei kompetent erfolgt. Es ist aber als sicher anzusehen, daß die Betreuung durch ein pädiatrisches Transportteam und dann insbesondere die möglichst baldige Betreuung in der Kinderklinik selbst einer solchen Betreuung überlegen sind.
Es ist davon auszugehen, daß die schwere Schädigung des Klägers auf diesen Fehlern beruht. Denn der Beklagten oblag der Beweis des Gegenteils, den sie nicht erbracht hat. Beweisbelastet ist die Beklagte. Denn der Senat wertet bereits zumindest einige dieser Fehler, nämlich die Neufestsetzung des Geburtstermins, die weitgehende Überlassung der Geburtsbetreuung durch einen Arzt im Praktikum und eine Hebamme und die Dauer, die vor dem Hintergrund pathologischer Auffälligkeiten im CTG und dem Unterbleiben einer Mikroblutuntersuchung, also bei Ungewissem, möglicherweise aber durchaus gefährdetem Zustand des Kindes, bis zum Abschluß der operativ vaginalen Entbindung vergangen war, als im Rechtssinne grob. Ein solches Verhalten ist unverständlich, weil es einem sorgfältig vorgehenden Arzt und einem sorgfältig organisierendem Krankenhausträger schlechterdings nicht unterlaufen darf. Erst recht gilt dies für die Summe der Fehler in einer Gesamtbetrachtung.
Auf die Anschlußberufung war dem Kläger ein deutlich höheres Schmerzensgeld zuzusprechen.
Nach ständiger Rechtsprechung besteht die Funktion des Schmerzensgeldes darin, dem Verletzten einen materiellen Ausgleich für den erlittenen materiellen Schaden und das ihm zugefügte Leid zu gewähren. Eine billige Entschädigung in Geld steht dem Geschädigten aber auch zu, wenn seine Persönlichkeit weitgehend zerstört ist, selbst wenn seine Empfindungsfähigkeit ganz oder teilweise durch das schadensstiftende Ereignis aufgehoben ist (BGH VersR 1993, 327 ff. und 585 f.).
Der Kläger stand, wie der Sachverständige Prof. Dr. K ausgeführt hat, als Folge der fehlerhaften Geburtsleitung "knapp vor dem Hirntod". Er erlitt eine schwere ausgeprägte, als sogenannte malignes Hirnödem bezeichnete Hirnschwellung, mußte intubiert und beatmet werden. Einige Stunden nach seiner Geburt traten die ersten cerebralen Anfälle auf. Am zweiten Lebenstag kam es zu einer plötzlichen akuten Verschlechterung seines Gesundheitszustandes, der intensivmedizinische Maßnahmen zur Lebenserhaltung erforderlich machte. Insgesamt stellte sich nach der Geburt ein schweres neonatales neurologisches Durchgangssyndrom ein. Der derzeitige Zustand des Klägers ist durch eine sekundäre Mikrozephalie schwersten Ausmaßes gekennzeichnet. Eine aktive Fortbewegung ist nicht möglich. Es findet sich das ausgeprägte Bild einer schwersten Tetraspastik. Der Kläger ist blind; wahrscheinlich kann er hell und dunkel bei Vorhalt einer sehr hellen Taschenlampe unterscheiden. Er leidet unter einem gatrooesophagealen Reflux; es liegt ein PEG, über den die Ernährung erfolgt. Trotz antikonvulsiver Medikation treten täglich kaum zählbare tonische Anfälle auf, in denen der Kläger plötzlich die Arme auseinanderreißt und einen starren Blick bekommt. Zur Schleimlösung für die Lunge und besserer Abhustmöglichkeit ist die Gabe von Fluimuzil und verschiedener Hustensäfte erforderlich.
Insgesamt bietet der Kläger das Bild eines völlig hilflosen, blinden Kindes, mit schwersten Allgemeinveränderungen, dem Vollbild der schwersten Tetraspastik und kaum behandelbaren cerebralen Krampfanfällen. Er ist auf ständige intenisve Pflege angewiesen. Der erfahrene pädiatrische Sachverständige hat vom schlechtesten neurologischen Bild, das man sich vorstellen könne, gesprochen.
Dieser denkbar schwersten Schädigung, die zu einer weitgehenden Zerstörung der Persönlichkeit des Klägers, seiner Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit geführt hat, wird nach der Überzeugung des Senats das vom Landgericht zugesprochene Schmerzensgeld von 300.000,00 DM nicht hinreichend gerecht. Dem Kläger ist jede Möglichkeit einer körperlichen und geistigen Entwicklung genommen. Er wird nie Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter bewußt erleben und seine Persönlichkeit entwickeln können. Sein Leben ist weitgehend auf die Aufrechterhaltung der vitalen Funktionen, die Bekämpfung von Krankheiten und die Vermeidung von Schmerzen beschränkt. Der Kläger ist in der Wurzel seiner Persönlichkeit getroffen. Beeinträchtigungen derartigen Ausmaßes verlangen angesichts des hohen Wertes, den das Grundgesetz in Art. 1 und 2 der Persönlichkeit und der Würde des Menschen beimißt, eine herausragende Entschädigung (vgl. BGH VersR 1993, 329). Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß die Schädigung durch eine - wie oben ausgeführt - grob fehlerhafte Behandlung verursacht worden ist und angesichts des Bestehens einer Haftpflichtversicherung hält der Senat insgesamt ein Schmerzensgeld von 500.000,00 Euro für gerechtfertigt.
Dieser Betrag ist mit dem früheren gesetzlichen Zinssatz von 4 % zu verzinsen.
Der Ausspruch zur Feststellung konnte aufgrund der Anschlußberufung und der von den Parteien im Senatstermin abgegebenen Erklärungen klargestellt werden.
Der Ausspruch über die Haftung dem Grunde nach bezüglich des bezifferten Schadens wird von der Anschlußberufung nicht angegriffen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Das Urteil beschwert die Beklagten mit mehr als 60.000,00 DM und 31.000,00 Euro.
Ende der Entscheidung
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