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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 28.06.2006
Aktenzeichen: 3 U 215/05
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 540 Abs. 1 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Berufung der Kläger gegen das am 22.09.2005 verkündete Urteil der Zivilkammer IV des Landgerichts Detmold wird zurückgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Den Klägern wird gestattet, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Kläger zu 1) bis 4) sind Erben des am 10.09.1940 geborenen und am 11.11.1999 verstorbenen Privatdozenten Dr. C, ehemaliger Chefarzt der Unfallchirurgischen Abteilung des St.-B-Krankenhauses in I. Sie begehren von dem Beklagten als dem Nachlassverwalter des am 27.03.2000 verstorbenen Chefarztes des Instituts für Pathologie des Klinikums M-E, Prof. Dr. Günter S, Schadensersatz mit dem Vorwurf, Prof. Dr. S habe am 28.05.1998 ein Hautexzidat der Kopfhaut - das Dr. N am 26.05.1998 entnommen worden war - grob behandlungsfehlerhaft befundet und deshalb das bereits vorhandene maligne Melanom nicht erkannt. Deshalb seien die gebotenen Behandlungsmaßnahmen versäumt worden. Als das maligne Melanom im November 1998 erkannt wurde, sei der Tumor bereits so weit fortgeschritten gewesen, dass Dr. N nicht mehr habe gerettet werden können.

Wegen der näheren Einzelheiten des Behandlungsgeschehens wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Erstinstanzlich haben die Kläger einen groben Diagnosefehler gerügt, weil Prof. Dr. S die Malignität des Tumors verkannt und weitere Untersuchungen unterlassen habe. Bei richtiger Diagnose wäre die Überlebenserwartung Dr. C2 um ein Vielfaches höher gewesen.

Das Landgericht hat zwar einen groben Behandlungsfehler festgestellt, die Klage aber dennoch abgewiesen, weil der Beklagte bewiesen habe, dass der Diagnosefehler nicht ursächlich geworden sei.

Die Kläger verfolgen mit ihrer Berufung unter Wiederholung, Vertiefung und Ergänzung ihres bisherigen Vortrags ihr Begehren weiter. Sie machen im Wesentlichen geltend:

Bei richtiger Diagnose im Mai 1998 hätte Dr. N bezogen auf den 10-Jahres-Zeitraum sehr gute Überlebenschancen gehabt. Nach der Statistik hätten diese für Mai 1998 noch 47,7 %, für November 1998 aber nur noch 15,7 % betragen. Soweit der Sachverständige Prof. Dr. H die Überlebenschancen als nur noch unbeachtlich bezeichnet habe, habe er sich nicht mit den Ausführungen der vom Kläger beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. L und Dr. J auseinander gesetzt.

Nach deren Erkenntnisse bleibe offen, wann die für den Krankheitsverlauf entscheidende Metastasenaussaat bei Dr. N erfolgt sei. Der Sachverständige Prof. Dr. H habe keine konkreten Anhaltspunkte für seine Feststellung benannt, dass bereits im Mai 1998 eine Fernmetastasierung durch den am 26.05.1998 operierten Teil des Melanoms vorgelegen habe. Zudem stünde diese Feststellung im Widerspruch zu dessen eigenen Ausführungen (Bl. 233, 234 d.A.) und zu denen des Sachverständigen Prof. Dr. T (Bl. 153 d.A.).

Die Kläger beantragen,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils

1. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin zu 1) ein angemessenes vererbtes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch 200.000,00 DM (101.258,00 Euro) mit 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz, mindestens jedoch 8 %, seit dem 11.11.1999, spätestens seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

2. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihnen sämtliche vergangenen und zukünftigen materiellen Schäden, die ihnen aus dem Tod des Dr. C entstanden sind bzw. entstehen werden, zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil, wendet sich weiterhin gegen jegliche Haftung und macht im Wesentlichen geltend:

Er habe mit dem Gutachten Prof. Dr. H den Beweis erbracht, dass jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang nicht nur äußerst unwahrscheinlich, sondern vollständig ausgeschlossen sei. Die statistischen Werte hätten für die konkreten Überlebenschancen des Dr. N keine Aussagekraft. Auch bei zutreffender Diagnose habe der Krankheitsprozess nicht mehr aufgehalten und die Lebenserwartung Dr. C2 nicht verlängert werden können.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivortrags im Berufungsverfahren wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die beigezogenen Behandlungsunterlagen Bezug genommen. Der Senat hat ergänzend Beweis erhoben durch Vernehmung des Sachverständigen Prof. Dr. H. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll und den Berichterstattervermerk zum Senatstermin vom 28.06.2006 Bezug genommen.

II.

Die Berufung der Kläger bleibt ohne Erfolg.

Auch nach dem Ergebnis der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme kann nicht festgestellt werden, dass den Klägern ein Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes und auf Ersatz vergangenen und zukünftigen Unterhaltsschadens zusteht.

Bei seiner Beurteilung der medizinischen Fragen folgt der Senat den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. H. Der Sachverständige hat sein Gutachten unter Einbeziehung der sonstigen Begutachtungen - insbesondere der zahlreichen Privatgutachten - auch in zweiter Instanz in jeder Hinsicht fundiert und sachlich überzeugend begründet.

Die Kompetenz und Erfahrung des Sachverständigen steht dabei ebenso außer Zweifel wie dessen Objektivität. Als ehemaliger Direktor der Klinik für Dermatologie der Universitätsklinik F besitzt der Sachverständige sowohl ein fundiertes theoretisches Wissen als auch eine umfassende praktische Erfahrung. Die Ausführungen des Sachverständigen beruhten auf einer gründlichen Aufarbeitung der umfangreichen Unterlagen. Der Sachverständige war zudem in der Lage, sämtliche für die Entscheidung maßgeblichen Fragen des Falls zu beantworten. Der Einholung weiterer Zusatzgutachten bedurfte es daher nicht.

1.

Die Sachverständigen Prof. Dr. T und Prof. Dr. H haben in Übereinstimmung mit den von den Klägern beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. L und Dr. J festgestellt, dass der verstorbene Prof. Dr. S am 28.05.1998 einen groben Diagnosefehler begangen und deshalb weitere erforderliche Untersuchungen unterlassen hat. Diese Fehldiagnose von Mai 1998 stellt - wie das Landgericht bereits zutreffend ausgeführt hat - einen groben Behandlungsfehler dar.

2.

Der Krankheitsverlauf bei Dr. N 1998 an und sein Tod am 11.11.1999 sind jedoch nicht als Folgen dieser Fehlbehandlung anzusehen.

Weil dem verstorbenen Prof. Dr. S ein grober Behandlungsfehler anzulasten ist, trifft den Beklagten zwar die Beweislast dafür, dass dieser Fehler nicht ursächlich für die zum Tode führende Krankheitsentwicklung gewesen ist. Die aufgrund des groben Behandlungsfehlers im Grundsatz bestehende Beweislastumkehr entfällt hier aber, denn nach der Beweisaufnahme hält der Senat es für erwiesen, dass der Kausalzusammenhang gänzlich unwahrscheinlich ist (vgl. BGH NJW 2004, 2011).

Nach den schriftlichen und mündlichen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. H war die Krankheit des Dr. N im Mai 1998 schon so weit fortgeschritten, dass sie auch bei einer zutreffenden Diagnose und dem Einsatz sämtlicher bei diesem Krankheitsbild in Betracht kommender therapeutischer Möglichkeiten mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht mehr nennenswert hätte beeinflusst werden können. Bei seiner Anhörung im Senatstermin hat der Sachverständige nochmals ausdrücklich dargestellt, dass es gänzlich unwahrscheinlich ist, dass ein sofortiges Eingreifen bei unverzüglicher Diagnose am 28.05.1998 den Verlauf noch positiv beeinflusst hätte. Folgerichtig ist für den Sachverständigen eine Verschlechterung der Überlebenswahrscheinlichkeit durch die Diagnoseverzögerung nicht erkennbar.

Die entscheidenden Kriterien für die Schätzung der Überlebenswahrscheinlichkeit eines Patienten sind die Tumordicke und die Tumorausbreitung im Organismus.

Bei der Melanomkrankheit des Dr. N handelte es sich im Mai 1998 klinisch um einen erhabenen Tumor mit einem Oberflächendurchmesser von etwa 1 cm, einer Tumordicke von etwa 5 mm und einer Invasionstiefe bis in das Fettgewebe entsprechend einem "Clark-Level V".

Hinsichtlich der Tumorausbreitung hat der Sachverständige ausgeführt, dass sich im Mai 1998 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits Fernmetastasen gebildet hatten. Er hat dies damit begründet, dass der verbliebene, bei der Operation vom 26.05.1998 nicht entfernte Rest des auf die Epidermis begrenzten "melanoma in situ" schon per Definitionem keine Fernmetastasierung hervorrufen konnte, weil dieses wegen der die Epidermig von der Dermis trennenden Basalmembran keine Verbindung zu Blut- oder Lymphgefäßen hat.

Die Fernmetastasierung, die letztlich im November 1999 zum Tod des Dr. N geführt hat, muss deshalb von dem am 26.05.1998 entfernten Teil des Melanoms ausgegangen sein. Hierfür spricht, dass ein Melanom von 5 mm Dicke meist schon sehr früh mit einer Metastasierung assoziiert ist. Zudem handelte es sich hier um ein äußerst aggressives, noduläres malignes Melanom, ein sog. High-Risk-Melanom. Schließlich hat der Sachverständige Prof. Dr. H - wie auch Dr. J - dem Melanom der Kopfhaut eine Metastase hinter dem rechten Ohr zugeordnet. Dies ist zwar dem Befund Prof. Dr. S so nicht zu entnehmen, Prof. Dr. H hält es aber nicht für ungewöhnlich, dass die vom Operateur Dr. Q ertastete Vorwölbung bei der anschließenden Exzision nicht erfasst worden ist. Entscheidend ist für den Sachverständigen, dass die Lymphknotenstation hinter dem Ohr ein Prädilektionsort für Melanome von der Kopfhaut ist.

In diesem Zusammenhang kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, das im November 1998 im Krankenhaus Nord-West in G eine Metastasierung "in toto" mit Melanomen im Hals und in der Schlüsselbeingrube festgestellt wurde. Die Metastasierung kann aber nur hämatogen erfolgt sein und ist deshalb Indiz dafür, dass eine frühzeitige Aussaat erfolgt ist. Der Sachverständige hat im Ergebnis nicht den geringsten Zweifel gehabt, dass diese Fernmetastasierung schon im Mai 1998 vorgelegen hat. Dabei hat er zugrunde gelegt, dass die Erkrankung des Dr. N eine Verlaufsdauer von (mindestens) zwei Jahren von der Entstehung bis zum Tod hatte; davon entfallen allein etwa 15 bis 16 Monate auf den Zeitraum bis zur ersten klinischen Manifestation.

Damit ist hier - anders als in dem Senatsurteil vom 24.02.1999 (3 U 73/98) - der Zeitpunkt nicht offen geblieben, sondern durch sichere Erkenntnisse und Erfahrungen des Sachverständigen belegt, wann die für den Krankheitsverlauf entscheidende Metastasenaussaat bei Dr. N erfolgt ist; jedenfalls seit Mai 1998 haben Fernmetastasen vorgelegen.

Soweit demgegenüber der Sachverständige Prof. Dr. T in seinem schriftlichen Gutachten vom 30.11.2003 davon ausgegangen ist, dass mit größerer Wahrscheinlichkeit in dem verbliebenen Anteil ein invasiv wachsendes malignes Melanom vorgelegen hat, ist dies nur ein scheinbarer Widerspruch zu den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. H.

Denn Prof. Dr. T hat denselben Tumor begutachtet wie Prof. Dr. S, aber aufgrund der in Scheiben zugeschnittenen Aufbereitung des Exzidats einen unterschiedlichen Anteil davon. Während Prof. Dr. S am 28.05.1998 den zentralen, invasiv wachsenden Anteil des Melanoms begutachtet und dabei auch exakt ein High-Risk-Melanom mit kritischer Prognose beschrieben hat - aber mit anschließend krasser Fehlbeurteilung -, hat Prof. Dr. T in den ihm zur Verfügung gestellten Schnittpräparaten nur ein melanoma in situ erkannt. Wenn ein solches Melanom scheibchenweise zerlegt wird, dann sind in den einzelnen Scheiben unterschiedliche Invasisonstiefen des Melanoms erfasst; in den gelb-braunen Anteilen zum Teil ein melanoma in situ, in den dunkelbraun-schwarzen Anteilen eher ein invasiv wachsendes Melanom.

Auch der Umstand, dass Prof. Dr. H in seinem schriftlichen Gutachten (Bl. 233 d.A.) das maligne Melanom des Dr. N entsprechend der AJCC-Version für Mai 1998 mit "Mo: keine Fernmetastasierung" klassifiziert hat, steht nicht im Widerspruch zu seiner Feststellung, dass bereits im Mai 1998 Fernmetastasen vorgelegen haben. Denn die Klassifizierung eines sichtbaren klinischen Kriteriums diente lediglich dem Zweck, Statistiken für Überlebenswahrscheinlichkeiten zu kommentieren.

Zwar ist es zutreffend, dass nach dieser internationalen Klassifizierung die Überlebenschancen des Dr. N im Mai 1998 - bezogen auf den 10-Jahres-Zeitraum - noch 47,7 % und im November 1989 nur noch 15,7 % betragen haben.

Diese Klassifizierung richtet sich jedoch nur nach dem sichtbaren klinischen Befund. Danach ist das Melanom nach der seit dem Jahr 2000 maßgeblichen AJCC-Version für den Mai 1998 als "Stadium III B" zu klassifizieren (d.h. keine Fernmetastase), während für den November 1998 ein "Stadium IV" vorgelegen hat (d.h. Fernmetastasen in Haut, Subkutis, Lymphknoten). Ausschlaggebend für die Überlebenschancen sind jedoch die individuellen biologischen Gegebenheiten des jeweiligen Patienten, bei denen auch die - noch okkulte - Fernmetastasierung zu berücksichtigen ist. Diese Gesamtbetrachtung führt hier deshalb zu dem Ergebnis, dass sich die Überlebenschancen des Dr. N zwischen Mai 1998 und November 1998 tatsächlich nicht in nennenswerter Weise verändert haben. Denn nach Prof. Dr. H war hier eine Fernmetastasierung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon im Mai 1998 "unterwegs" und durch therapeutische Maßnahmen nicht mehr aufzuhalten. Die rein statistischen Werte haben demnach für die Überlebenschancen des Dr. N keine Aussagekraft.

Fernmetastasen in Form von Mikrometastasen sind in der Regel nicht frühzeitig fassbar, so dass derartige okkulte Befunde auch nicht in die statistische Analyse eingehen können.

Soweit Prof. Dr. L und Dr. J davon ausgehen, dass durch den frühzeitigen Einsatz therapeutischer Maßnahmen eine Prognoseverbesserung erfolgt wäre, rechtfertigt nach Prof. Dr. H die wissenschaftliche Datenlage diese Aussage nicht. Demnach steht beim malignen Melanom derzeit (2004) keine systemische medikamentöse Therapie zur Verfügung, für die eine Lebensverlängerung gesichert ist. Der Sachverständige Prof. Dr. H gelangt zu dem Ergebnis, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Verschlechterung der Überlebensprognose des Dr. N allein krankheits- und fallspezifisch war.

Die prozessualen Nebenentscheidungen resultieren aus den §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen.

Die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung.

Die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht.

Das Urteil beschwert die Kläger mit jeweils mehr als 20.000,00 Euro.

Ende der Entscheidung

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