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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 23.08.2000
Aktenzeichen: 3 U 229/99
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 831
BGB § 278
BGB § 831 Abs. 1 S. 2
BGB § 31
ZPO § 538 Abs. 1 Ziff. 3
ZPO § 540
Fehlbeurteilung eines Phlebographiebefundes

Es kann einen Verstoß gegen den fachradiologischen Standard darstellen, wenn die Darstellung des Beckenvenenbereiches als ungünstige Strömungsverhältnisse interpretiert und ein thrombotisches Geschehen in diesem Bereich verkannt wird.

Ist sich der befundende Radiologe in der Diagnose unsicher, hat er eine weitere Befunderhebung in Form einer erneuten Phlebographie oder eine Computertomographie durchzuführen.

Zur sachverständigen Auswertung von Phlebographien können auch Ärzte anderer medizinischer Fachrichtungen befähigt sein.


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

3 U 229/99 OLG Hamm

Verkündet am 23. August 2000

In dem Rechtsstreit

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 24. Mai 2000 durch die Richter am Oberlandesgericht Kamps, Ruthers und Lüblinghoff

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerinnen zu 1) und 2) wird - unter Zurückweisung der Berufung im übrigen - das am 12. August 1999 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Münster teilweise abgeändert.

Der Anspruch der Klägerin zu 1) gegen die Beklagte zu 2) auf Ersatz des Schadens, der ihr durch die Fehlbeurteilung des Phlebographiebefundes vom 09.03.1994 entstanden ist, ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

Der Anspruch der Klägerin zu 2) gegen die Beklagte zu 2) auf Ersatz des Schadens bis zum 31.07.1997, der ihr durch die Fehlbeurteilung des Phlebographiebefundes vom 09.03.1994 entstanden ist, ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

Es wird festgestellt, daß die Beklagte zu 2) verpflichtet ist, den Klagerinnen zu 1) und 2) sämtliche weitere materiellen Schaden, die diesen aufgrund der fehlerhaften Beurteilung des Phlebographiebefundes vom 09.03.1994 entstanden sind oder noch entstehen werden, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind.

Die weitergehende Klage bleibt abgewiesen.

Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung über die Höhe der Ansprüche sowie über die Kosten einschließlich der Kosten der Berufungsinstanz an das Landgericht zurückverwiesen.

Der Kläger zu 3) ist des Rechtsmittels der Berufung verlustig.

Tatbestand:

Der Kläger zu 3), der am 07.09.1932 geborene Paul Sch, wurde im November 1993 zur operativen Behandlung an die urologische Gemeinschaftspraxis, der u.a. auch der Beklagte zu 1) angehört, überwiesen, nachdem bei ihm ein Prostatakarzinom festgestellt worden war. Die urologische Gemeinschaftspraxis einschließlich des Beklagten zu 1) unterhält im Krankenhaus der Beklagten zu 2) eine Belegabteilung. Der Kläger zu 3) wurde am 17.02.1994 in dieser Abteilung stationär aufgenommen.

Der Beklagte zu 1) führte am 21.02.1994 eine pelvine Lymphadenektomie sowie eine radikale Prostatovesikulektomie durch. Die Verlegung des Klägers zu 3) von der Intensiv- auf die urologische Normalstation erfolgte am 23.02.1994. Ausweislich der Krankenunterlagen wurde in der Folgezeit eine Thromboseprophylaxe betrieben und Heparin sowie Thrombosestrümpfe verordnet.

Am 09.03.1994 stellte der Beklagte zu 1) ein geschwollenes rechtes Bein bei dem Kläger zu 3) fest. Der Beklagte zu 1) veranlaßte die Durchführung einer Phlebographie im Hinblick auf ein mögliches thrombotisches Geschehen, die in der radiologischen Abteilung der Beklagten zu 2) am selben Tage durchgeführt wurde. Der Befund wurde dem Beklagten zu 1) telefonisch mitgeteilt. Der schriftliche Befundbericht vom 10.03.1994 lautet wie folgt:

"Phlebographie des re. Beines 09.03.94:

Nach Anlage eines supramalleolären Staus und Punktion einer Fußrückenvene Inj. von 50 ml Ultravist 300. Abfluß des KM-haltigen Blutes, proximal über frei durchgängige Venen des tiefen Unterschenkel- und Oberschenkelvenensystems. Frische thrombotische Verschlüsse sind nicht abgrenzbar."

Der Beklagte zu I) nahm nach Mitteilung des phlebographischen Ergebnisses an, die Schwellung des rechten Beines beruhe auf einer postoperativen Lymphabflußstorung. Er verordnete eine Lymphdrainage.

Am 11.03.1994 verschlechterte sich der Zustand des Klägers zu 3). Ausweislich des Verlaufsbogens wurde an diesem Tag eine ausgeprägte Lungenembolie beidseitig basal festgestellt. Der Kläger zu 3) wurde noch am 11.03.1994 auf die Intensivstation der Beklagten zu 2) verlegt. Ihm wurden erhöhte Dosen Heparin verordnet. Vom 14.03.1994 bis zum 16.03.1994 erhielt er eine Lyse-Behandlung.

Am Abend des 20.03.1994 entwickelte sich wieder eine Schwellung des rechten Beines. In der Pflegedokumentation heißt es hierzu:

"re. Bein dicker als linkes Bein."

Die durchgeführte Phlebographie bestätigte eine tiefe Venenthrombose rechts iliacal. Es erfolgte eine erneute Lyse-Therapie mit 600.000 I.E. Urokinase. Am 22.03.1994 erfolgte eine Kontroll-Phlebographie, die eine Rekanalisierung der tiefen Venen erbrachte. Neurologisch erschien der ehemalige Kläger zu 3) unauffällig.

Am 28.03.1994 entwickelte der Kläger zu 3) eine Bewußtseinstrübung und verfiel in ein zentrales Koma. Das durchgeführte Computertomogramm ergab einen 6-10 Tage alten Mediainfarkt links mit einer stattgehabten Einblutung in das Infarktgebiet.

Der Kläger zu 3 leidet seit dieser Zeit an einer spastischen Hemiparese rechts mit einer kompletten Aphasie. Die neurologisch geprägte Symptomatik hat sich bis 1998 nicht verbessert. Der Patient ist voll pflegebedürftig im häuslichen Milieu untergebracht.

Die Kläger haben behauptet, der Kläger zu 3) habe bereits am 06.03.1994 über Atemnot geklagt. Bereits zu diesem Zeitpunkt sei eine Phlebographie veranlaßt gewesen. Die Verzögerung der Behandlung habe die zerebrale Verkrüppelung ausgelost. Bei der gebotenen intensiven Beobachtung sei die Atemnot bereits am 06.03.1994 auch erkennbar gewesen. Der Hirninfarkt sei Folge der fehlerhaften Behandlung. Hierdurch sei die volle Pflegebedürftigkeit des ehemaligen Klägers zu 3) bedingt.

Die Kläger haben beantragt,

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 1) 178.521,62 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit, an die Klägerin zu 2) 79.983,07 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit und an den Kläger zu 3) 258.050,41 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

an den Kläger zu 3) ein angemessenes, der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld sowie eine monatliche, der Höhe nach ebenfalls in das Ermessen des Gerichts gestellte Schmerzensgeldrente nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen, und

festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger zu 3) sämtliche weitere materiellen und immateriellen Schäden, soweit sie nach dem 31.03.1997 entstehen, sowie

den Klägerinnen zu 1) und 2) sämtliche weitere materiellen Schäden, die diesen aufgrund des Behandlungsfehlers im März 1994, soweit sie der Klägerin zu 1) nach dem 31.12.1996, der Klägerin zu 2) nach dem 30.07.1997 noch entstehen werden, zu ersetzen.

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagten haben jegliche Behandlungsfehler in Abrede gestellt. Insbesondere haben sie bestritten, daß der Hirninfarkt auf einen Behandlungsfehler beruhe.

Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, das der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung erläutert hat. Sodann hat das Landgericht die Klage mit der Begründung abgewiesen, es seien zwar grobe Behandlungsfehler feststellbar; Beweiserleichterungen könnten Nachteile der Behandlung seit lediglich dann und insoweit nach sich ziehen, als sich durch diesen Fehler das Risikospektrum für die Folgen erweitert habe. Dies könne im vorliegenden Fall nicht festgestellt werden, weshalb es dabei bleibe, daß die Kläger den Nachweis der Ursächlichkeit für den Hirninfarkt zu führen hätten. Diesen Beweis hätten sie nicht geführt.

Hiergegen wenden sich die Kläger mit der Berufung, die der Kläger zu 3) mit Schriftsatz vom 09. Dezember 1999 zurückgenommen hat.

Die Klägerinnen zu 1) und 2) wiederholen und vertiefen den erstinstanzlichen Vortrag und beantragen,

unter teilweiser Abänderung des landgerichtlichen Urteils

1.

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 1) 178.521,62 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 31.12.1997 zu zahlen;

2.

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 2) 79.983,07 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 31.12.1997 zu zahlen;

3.

festzustellen, daß die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, den Klägerinnen zu 1) und 2) sämtliche weiteren materiellen Schäden, die diesen aufgrund der Behandlung des Herrn Paul Sch, geb. am 07.09.1932, in der R Klinik in Münster im März 1994 bereits entstanden sind oder noch entstehen werden, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind;

hilfsweise Vollstreckungsnachlaß.

Die Beklagten wiederholen und vertiefen ebenfalls den erstinstanzlichen Sachvortrag.

Wegen weiterer Einzelheiten des erst- und zweitinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf die jeweils gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, das schriftliche Gutachten des Sachverständigen, das Protokoll zur mündlichen Verhandlung vor der Kammer, auf die angefochtene Entscheidung, die beigezogenen Krankenunterlagen sowie auf den Vermerk des Berichterstatters zum Senatstermin vom 24. Mai 2000 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerinnen hat nur teilweise Erfolg.

Den Klägerinnen steht ein Anspruch auf Schadensersatz dem Grunde nach und auf Feststellung aus übergegangenem Recht in Verbindung mit §§ 831 BGB bzw. wegen Schlechterfüllung des Behandlungsvertrages und § 278 BGB gegen die Beklagte zu 2) zu.

Soweit die Klägerinnen mit der Berufung auch Ansprüche gegen den Beklagten zu 1) verfolgen, bleibt das Rechtsmittel ohne Erfolg.

1.

a)

Die Behandlung des Klägers zu 3) war fehlerhaft, weil der Radiologe der Beklagten zu 2) die Phlebographieaufnahmen vom 09.03.1994 unsachgemäß befundet hat. Das Verhalten des bei ihr angestellten Arztes hat sich die Beklagte zu 2) gem. § 278 BGB bzw. § 831 BGB zu rechnen zu lassen. Den ihr obliegenden Entlastungsbeweis gem. § 831 Abs. 1 S. 2 BGB hat sie nicht geführt. Sollte wegen der täglichen Besprechungen - worauf es letztlich nicht ankommt - auch ein Behandlungsfehler des Chefarztes der Radiologie vorliegen, hat sich die Beklagte zu 2) auch dessen Verhalten gem. § 31 BGB zurechnen zu lassen. Die Durchführung diagnostischer Maßnahmen in der Radiologie und die Befundung der erstellten Aufnahmen obliegt im Rahmen des gespaltenen Krankenhausvertrages dem Belegkrankenhaus, nicht dem Belegarzt.

Diagnoseirrtümer im Sinne von Fehlinterpretationen von erhobenen Befunden bewertet die Rechtsprechung nur mit einer gewissen Zurückhaltung als Behandlungsfehler. Dem Arzt steht grundsätzlich bei der Diagnose wie bei der Therapie ein gewisser Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum zu (BGH VersR 1981 S. 1033; NJW 1988 S. 1513; Steffen/Dressler; Arzthaftungsrecht 8. Aufl. 1999 Rz. 153, 154 m.w.N.). Das bedeutet jedoch nicht, daß nur völlig unvertretbare diagnostische Fehlleistungen überhaupt zu einer Haftung führen können. Auch unter Beachtung des dem Arzt bei der Diagnose zustehenden Beurteilungsspielraums liegt dann ein Behandlungsfehler vor, wenn das diagnostische Vorgehen und die Bewertung der durch diagnostischen Hilfsmittel gewonnenen Ergebnisse für einen gewissenhaften Arzt nicht mehr vertretbar erscheinen (Steffen/Dressler; Arzthaftungsrecht 8. Aufl. 1999 Rz. 155 a).

In diesem Sinn war es für einen gewissenhaften Arzt nicht mehr vertretbar, die Darstellung des Beckenvenenbereichs als ungünstige Strömungsverhältnisse zu interpretieren und zu verkennen, daß sich im Beckenvenenbereich ein thrombotisches Geschehen abspielte. Die Falschbefundung des Radiologen ist zwischen allen Beteiligten des Rechtsstreits unstreitig. Nicht nur der gerichtliche Sachverständige, sondern auch die Gutachter der Kommission haben übereinstimmend ausgeführt, daß die Phlebographieaufnahme vom 09.03.1994 fehlgedeutet wurde und sich auf dieser Aufnahme im Beckenbereich eine Kontrastaussparung im Sinne eines frei flottierenden Thrombus zeigt. Bereits mit Schriftsatz vom 15.06.1998 (Bl. 227) hat die Beklagte zu 2) nach Einsichtnahme unstreitig gestellt, daß die "nunmehr vorliegenden Aufnahmen zeigen, daß am 09.03.1994 eine Thrombose vorgelegen hat". Vor dem Senat hat der Sachverständige seine Auffassung noch einmal bekräftigt und ausgeführt, nach dem phlebographischen Befund sei die Wahrscheinlichkeit einer Thrombose im höchsten Maße gegeben gewesen. Eindrucksvoll hat dieser Sachverständige dem Senat die Aufnahmen vorgeführt und bemerkt "das sehen Sie auf der Aufnahme auch". Selbst der Beklagte zu 1) hat eingeräumt, daß nach dem Bild der Befund für eine Thrombose im höchsten Maße verdächtig gewesen sei. Bei dieser Eindeutigkeit, mit der alle begutachtenden Ärzte, die sich die in Rede stehenden Aufnahmen angesehen haben, zumindest von dem hochgradigen Verdacht einer Thrombose ausgehen, hält der Senat die vorgenommene Befundung für nicht vertretbar und deshalb für fehlerhaft. Dabei war zusätzlich zu bedenken, daß diese deutliche Fehlinterpretation einem Radiologen unterlief, dessen vornehmste Aufnahme nicht die Behandlung und Therapie des Patienten, sondern die Diagnose und Befundung bildgebender Verfahren ist.

Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen wäre selbst dann, wenn sich der befundende Radiologe in der Diagnose unsicher war - und für den Standpunkt einer klaren Befundung gab es keinerlei Anlaß - eine weitere Befunderhebung in Form einer erneuten Phlebographie oder eines Computertomogramius notwendig gewesen. In diesem Fall trifft den Radiologen der Vorwurf des Nichterhebens der erforderlichen Befunde.

Ein Widerspruch in der Begutachtung des gerichtlichen Sachverständigen, den die Berufung der Beklagten zu 2) zu sehen meint, verbleibt nicht. Der Sachverständige hat sich im Senatstermin zur Auswertung des Phlebographiebefundes klar und eindeutig geäußert. Wie schon in erster Instanz (Bl. 364) sind die Ausführungen des Sachverständigen, soweit er von einer unklaren Phlebographie spricht, so zu verstehen, daß es dann, wenn sich der Radiologe unsicher gewesen wäre, es jedenfalls der zusätzlichen Diagnostik und Abklärung bedurft hätte.

b)

Der Beweis dafür, daß das Fehlverhalten des Radiologen sich nicht ursächlich ausgewirkt hat, obliegt der Beklagten zu 2). Diesen Beweis hat sie nicht zu führen gemocht.

aa)

Die Umkehr der Beweislast folgt daraus, daß der Senat das Fehlverhalten des Radiologen als einen groben Behandlungsfehler wertet. Grob sind solche Behandlungsfehler, die sich als Verstöße gegen elementare Behandlungsregeln, gegen elementare Erkenntnisse der Medizin darstellen, wenn es sich um Fehler handelt, die aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich sind, weil sie einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen dürfen (BGH NJW 1998 S. 1782; VersR 1999 S. 231; Steffen/Dressler; Arzthaftungsrecht 8. Aufl. 1999 Rz. 522 mit weiteren Nachweisen). Soweit Fehlinterpratationen eines Befundes im vorbezeichneten Sinn unvertretbar sind, begründet dies den Behandlungsfehler; ist diese Interpretation darüber hinaus als unverständlich zu werten, rechtfertigt das die Annahme eines groben Fehlverhaltens auch bei Diagnoseirrtümern (vgl. BGH NJW 1996 S. 1589, 1590).

Zur Überzeugung des Senats rechtfertigen die Ausführungen des Sachverständigen nicht nur die Annahme eines Behandlungsfehlers überhaupt, sondern auch die weitergehende Wertung des Fehlers als unverständlich. Auch diesbezüglich zeigen die Ausführungen aller beteiligten Ärzte, daß für sie überhaupt kein Zweifel an dem Vorliegen einer Beckenvenenthrombose bestand. Besonders charakteristisch, die Eindeutigkeit und letztlich Unverständlichkeit der Befundung belegend bleibt auch für die Frage nach dem Vorliegen eines groben Fehlbefundes die Reaktion des Sachverständigen in Form seiner Bemerkung an die Mitglieder des Senats: "Das sehen Sie auf der Aufnahme auch". Der Sachverständige hat keinen Zweifel daran gelassen, daß der richtige Befund, so wie er sich auf der Phlebographieaufnahme darstellt, von einem Radiologen nicht übersehen werden durfte und ein schweres, unverständliches Versäumnis darstellt.

bb)

Selbst dann, wenn der Radiologe unsicher geblieben wäre, hätte es - wie dargestellt - der weiteren Befunderhebung bedurft. In diesem Fall rechtfertigte sich die Beweislastumkehr aus den Grundsätzen der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes.

Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat ein Verstoß gegen die ärztliche Pflicht zur medizinisch gebotenen Erhebung und Sicherung von Befunden beweiserleichternde Bedeutung für die Kausalitätsfrage, wenn ein positives Befundergebnis hinreichend wahrscheinlich ist und sich bei Durchführung der gebotenen Abklärung ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, daß sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde (etwa BGH NJW 1999 S. 1265 m.w.N.).

Nach den Ausführungen des Sachverständigen hätte eine erneute Phlebographie oder ein Computertomogramm mit mehr als hinreichender Wahrscheinlichkeit das Vorliegen des thrombotischen Geschehen gezeigt. Die Nichtreaktion hierauf wäre als ein grobes Versäumnis zu werten.

cc)

Der Einholung eines zusätzlichen radiologischen Sachverständigengutachtens bedurfte es nicht. Es ist nicht erkennbar, welche zusätzlichen Erkenntnisse ein Radiologe als Sachverständiger gewinnen könnte. Vorliegend geht es nicht um überaus spezielle Fragen aus dem radiologischen Fachgebiet, sondern um die mehr allgemeine Frage der Auswertung eines Röntgenbildes bzw. eines Phlebographiebefundes im Rahmen eines Thromboseverdachtes. Die Auswertung von solchen Befunden ist dem Radiologen nicht vorbehalten. Zur Überzeugung des Senats ist der gerichtliche Sachverständige kompetent genug, Phlebographieaufnahmen zu befunden, auszuwerten und damit das Verhalten eines anderen befundenden Arztes zu bewerten. Das zeigt schon die Sicherheit, mit der er vorliegend die Aufnahmen befundet hat. Die Richtigkeit seiner Befundung der Phlebographie steht absolut außer Streit; auch die Beklagte zu 2) selbst hat hieran keinerlei Zweifel.

Das Auswerten von Phlebographien der vorliegenden Art obliegt nicht nur dem Radiologen. Auch andere Mediziner sind von ihrer Ausbildung her hierzu befähigt. Mit Selbstverständlichkeit sind nicht nur der gerichtliche Sachverständige als Gefäßchirurg, sondern auch der Beklagte zu 1) als Urologe sowie die Gutachter der Kommission aus den Fachgebieten Urologie (Bl. 48, 49), Gefäßchirurgie (Bl. 49, 50), Anästhesiologie und Intensivtherapie (Bl. 55, 56, 63) mit dieser Fragestellung umgegangen. Ausweislich des Bescheides und der Ausführungen der Gutachter lagen dabei auch die Röntgenaufnahmen, also auch die der Phlebographie vom 09.03.1994 vor. Der gerichtliche Sachverständige hat es sogar als bedenklich bezeichnet, daß sich der Beklagte zu 1) trotz der Befundung durch einen Radiologen die Bilder nicht selbst noch einmal angeschaut hat. Bei einer Zusammenschau ist deshalb für den Senat die Aussage des gerichtlichen Sachverständigen überzeugend, daß ein Radiologe den von allen beteiligten Gutachtern und Ärzten richtig erkannten Befund erst recht hätte sehen müssen. Dem Senat ist nicht erkennbar, welche zusätzlichen oder anderen Feststellungen ein Radiologe bei dieser Sachlage zur Klärung des Sachverhaltes noch beitragen könnte.

dd)

Die Umkehr der Beweislast bezieht sich auf die gesamten folgenden Ereignisse einschließlich des Hirnschadens. Der Senat wertet diese Schäden in ihrer Gesamtheit als sogenannte Primärschäden. Primärschäden sind die Schaden, die als sog. erster Verletzungserfolg geltend gemacht werden (vgl. etwa BGH VersR 1998 S. 1153, 1154). Das sind in dem Fall, in dem wegen eines Unterlassens der gebotenen Maßnahmen etwa eine Therapie erst mit Verzögerung eingeleitet werden kann, die Schaden, die durch die Verzögerung und die hierdurch verursachten veränderten Umstände bedingt sind.

Bei sachgerechter Befundung wäre bereits am 09.03.1994 die adäquate antithrombotische Therapie eingeleitet worden. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Beklagte zu 1) nach Anordnung der Phlebographie und Erhalt des sachgerechten Ergebnisses nicht mit einer adäquaten Therapie hätte reagieren sollen. In diesem Fall hätte der Kläger zu 3) mehr als nur eine Chance gehabt, daß die nachträglich erlittene schwere Lungenembolie unterblieben wäre. Denn in etwa 95 % aller Fälle hilft die adäquate antithrombotische Behandlung, die Lungenembolie zu vermeiden.

Desweiteren wäre nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen die Thrombose am 09.03.1994 erheblich besser zu therapieren und die sich anschließende, den Patienten belastende intensivmedizinische Behandlung höchstwahrscheinlich zu vermeiden gewesen. Entscheidend ist, daß sich durch den Behandlungsfehler und die dadurch bedingte veränderte Situation, durch die so entstandene dramatische Klinik das Risikoprofil drastisch verändert und sich völlig anders als zuvor dargestellt hat. Bei Vermeidung der für den Patienten dramatischen Situation durch sachgerechte Befundung und sofortiger Einleitung der notwendigen antithrombotischen Behandlung hätte der Kläger zu 3) zumindest die Chance gehabt, daß ihm die Intensivtherapie, das Thromboserezidiv und auch der Hirninfarkt erspart worden wäre. Denn die Wahrscheinlichkeit eines Thromboserezidivs wäre nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen sehr sehr viel geringer gewesen, wäre bereits am 09.03.1994 adäquat therapiert worden. Auf eine genaue Quantifizierung, die der Sachverständige nachvollziehbar nicht vornehmen wollte (Bl. 364), kommt es nicht an.

Der Kläger zu 3) hätte aber auch die Chance gehabt, keinen Hirninfarkt zu erleiden. Zwar ist letztlich die Ursache des Hirninfarkts unklar. Jedoch hat der Sachverständige dargelegt, daß die dramatische Erhöhung des Risikoprofils den Hirninfarkt ursächlich herbeigeführt haben kann. Wäre diese dramatische Klinik durch adäquate antithrombotische Therapie vermieden worden, hätte deshalb das völlig veränderte Risikoprofil nicht bestanden, hätte der Patient die Chance gehabt, daß ohne diese Situation der Hirninfarkt nicht aufgetreten wäre (Bl. 306, 307), ungeachtet dessen, daß allein aufgrund der Carotis-Stenose ein Hirninfarkt jederzeit hätte auftreten können (Bl. 366). Einen von der Berufung der Beklagten zu 2) angesprochenen Widerspruch zu den Ausführungen der Gutachter der Kommssion sieht der Senat nicht. Erst- und Zweitgutachter äußern sich zu dieser Problematik allenfalls sehr eingeschränkt (etwa Bl. 49), verhalten sich zu dem veränderten Risikoprofil jedoch überhaupt nicht. Das gilt auch für den dritten Gutachter, der seine Beurteilung ausschließlich unter dem Aspekt eines möglichen Fehlverhaltens der Chefärztin der Abteilung für Anästhesiologie vornimmt (Bl. 33, 50, 57). Der Viertgutachter beschränkt sich im Wesentlichen auf die Aussage, daß das schuldhafte Unterlassen (des Beklagten zu 1)) kausal georden sei (Bl. 66).

Eines weiteren neurologischen Gutachtens bedarf es nicht. Auch diesbezüglich ist nicht erkennbar, welche zusätzlichen Erkenntnisse ein Neurologe zur Klärung beitragen könnte. Der gerichtliche Sachverständige ist als Gefäßchirurg mit der Gefäßsituation als solche und damit sowohl mit den Folgen eines Verschlusses durch Thrombose als auch eines Aneurysmas und auch eines Infarktes nach dem Eindruck, den der Senat von ihm gewonnen hat, hinreichend vertraut.

2.

Demgegenüber bleibt die Berufung ohne Erfolg, soweit sie eine Verurteilung des Beklagten zu 1) erstrebt.

a)

Der Senat läßt im vorliegenden Fall offen, ob der Beklagte zu 1) es behandlungsfehlerhaft unterlassen hat, den Kläger zu 3) vor dem urologischen Eingriff einem Internisten oder Kardiologen im Hinblick auf dessen atypische Herzkrankheit vorzustellen.

Der Sachverständige Dr. L hat aus der Sicht des Gefäßchirurgen darauf verwiesen, daß auch im Jahr 1994 in Fällen dieser Art bei einem Hochrisikopatienten vor einem chirurgischen Eingriff dopplersonographiert hätte werden sollen. Im Vorfeld der Operation war der Kläger zu 3) bei einem Kardiologen. Die Verantwortung dafür, daß eine Dopplersonographie nicht durchgeführt und dadurch die bereits vorliegende Stenose der Halsschlagader nicht erkannt wurde, hat der Sachverständige dem Kardiologen zugewiesen. Ob deshalb dem Beklagten zu 1) als Urologen diesbezüglich überhaupt ein Versäumnis anzulasten ist, erscheint dem Senat nicht abschließend geklärt, ist für die Entscheidungsfindung aber im Ergebnis nicht erheblich.

b)

Daß der Kläger zu 3) bereits am 06.03.1994 derart über Atemnot klagte, daß weitere Maßnahmen, insbesondere eine Untersuchung der Lunge angezeigt war, ließ sich nicht feststellen. Der Senat verkennt nicht, daß die Zeugin Sch bekundet hat, ihr Gatte habe bereits am 06.03.1994 über Atemnot geklagt. Auch habe ein Mitpatient ihr mitgeteilt, daß der Kläger zu 3) in der Nacht nach dem Pflegepersonal geklingelt habe, weil er schlecht Luft bekommen habe. Dennoch steht damit nicht mit dem für eine Beweisführung erforderlichen Grad an Wahrscheinlichkeit fest, daß zu diesem Zeitpunkt - also ab dem 06.03.1994 - eine solche Atemnot bestand, die weitere Untersuchungen, insbesondere etwa ein Lungenszintigramm zur Abklärung von embolischen Geschehen erforderlich machten. Die Krankenunterlagen verzeichnen eine Atemnot nicht. Weder das Pflegepersonal noch der Beklagte selbst bzw. sein Sozius in der Praxis haben bei ihren Visiten eine Atemnot festgestellt.

Der Senat geht davon aus, daß sowohl dem Beklagten zu 1) als auch seinem Sozius als operierenden Belegärzte wie auch dem Pflegepersonal der Beklagten zu 2) die üblichen postoperativen Risiken und damit die Bedeutung einer Atemnot im Hinblick auf thrombotische und embolische Geschehen bekannt sind. Das wird etwa dadurch deutlich, daß für den 23.02. in den Krankenunterlagen "Pat. atmet schwer ! Rö Thorax?" verzeichnet ist. Das Personal der Beklagten zu 2) hat also durchaus auf die Atmung des Herrn Sch geachtet. Den Krankenunterlagen ist ferner zu entnehmen, daß der Kläger zu 3) die verordnete Medikation erhalten hat und offenbar auch Visiten stattfanden. Es spricht viel dafür, daß dann Atemnöte auch erkannt, dokumentiert und abgeklärt worden wären. Der Senat zweifelt nicht daran, daß die Zeugin Äußerungen ihres Gatten, um den sie sich sorgte, richtig wiedergegebenen hat. Damit steht aber aus den dargelegten Gründen zur Überzeugung des Senats nicht gleichzeitig fest, daß der objektive Zustand des Patienten eine Reaktion in Form weiterer Abklärungen erforderlich machte. Zudem hat der Sachverständige darauf verwiesen, daß Atemnöte auch kurzfristig erfolgen und von dem die Visite durchführenden Arzt als auch vom Pflegepersonal unbemerkt erfolgen können.

c)

Der Senat läßt ebenfalls offen, ob dem Beklagten zu 1) Versäumnisse nach Erhalt des Phlebographieergebnisses vorzuwerfen sind. Für die Entscheidung dieses Rechtsstreits kommt es im Ergebnis hierauf nicht an (vgl. nachfolgend zu e)). Deshalb bedurfte es letztlich auch nicht der Einholung eines weiteren, etwa eines urologischen Sachverständigengutachtens.

Nachdem sich am 09.03.1994 eine Schwellung des Beins zeigte, hat der Beklagte zu 1) sachgerecht eine Phlebographie veranlaßt. Überzeugend hat der Sachverständige darauf verwiesen, daß bei einer vorangegangenen radikalen Prostatovesikulektomie und dem nachfolgenden Verdacht auf ein thrombotisches Geschehen die Phlebographie nicht nur das tiefe Beinvenensystem, sondern insbesondere auch den Beckenvenenbereich zu erfassen hat. Aus der Sicht des operierenden Urologen ist eher eine Thrombose im Beckenbereich zu vermuten, die Beckenvene also das Entscheidende. Das ist nach den Kenntnissen des Senats aus vergleichbaren Verfahren sowohl dem behandelnden Urologen als insbesondere auch dem hinzugezogenen Radiologen bewußt. Der dem Senat bekannte klinische Alltag geht denn auch dahin, daß die von dem Radiologen durchgeführte Phlebographie sich sowohl auf die Bein- als auch die Beckenvenen (wie selbstverständlich) erstreckt, selbst wenn der die Phlebographie anfordernde Urologe ggf. unscharf nur von einer Phlebographie "des Beines" gesprochen hat. Entsprechend ist der Radiologe der Beklagten zu 2) verfahren und hat mit Hilfe der Phlebographie auch das Beckenvenensystem dargestellt. Der gerichtliche Sachverständige hat diese Sicht bestätigt, wenn er ausführt, daß Phlebographie in diesem Sinne Becken- und Beinphlebographie bedeute. Das sei "eins". Der Auftrag an die Radiologie umfasse auch die Begutachtung der Beckensituation.

Dem Senat ist ebenfalls von urologischen Sachverständigen bekannt, daß die telefonische Mitteilung des Radiologen an den die Phlebographie anfordernden Arzt sich inhaltlich immer auf das komplette Venensystem erstreckt, in dem eine Thrombose zu vermuten ist. Alles andere macht auch keinen Sinn. Ist wie selbstverständlich bei einem Eingriff im urologischen Bereich an ein thrombotisches Geschehen sowohl im Bereich der Becken- als auch der Beinvenen zu denken, wird gerade deshalb die Phlebographie auf diese beiden Bereiche erstreckt, kann das Ergebnis des Radiologen vom objektiven Empfängerhorizont nur als auf den gesamten Venenbereich bezogen verstanden werden.

Bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung vor dem Senat war unstreitig, daß der Inhalt des Telefongesprächs in etwa dem schriftlichen Befundbericht vom 10.03.1994 entsprach. Dieser Bericht bezieht sich ausdrücklich nur auf das Beinvenensystem; der Beckenbereich wird nicht erwähnt, obwohl der Radiologe der Beklagten zu 2) eine Beckenübersicht gefertigt und offenbar auch befundet hat. Trotz des Wortlautes dieses Berichtes ist es nach Kenntnis des Senats im Klinischen Alltag im Zusammenspiel zwischen Urologen als Operateur und Radiologen als befundender Spezialist so, daß sich aus der Sicht des Urologen das Ergebnis im Hinblick auf einen verdächtigen thrombotischen Verschluß immer auf das gesamte Venensystem bezieht, selbst wenn der Radiologe im Alltag und der täglichen Hektik etwa entsprechend knapp formuliert "Beinvenen frei, frische thrombotische Verschlüsse sind nicht abgrenzbar". Für den bei dem Radiologen um Befundung des kritischen Venensystems nachfragenden Arzt gibt es angesichts der als selbstverständlich empfundenen Einheitlichkeit des betroffenen Venensystems grundsätzlich keinen Anlaß zu der Annahme, der Radiologe als Spezialist wollte sein Ergebnis nur auf einen Teilbereich (Beinvene) verstanden wissen. Nach den Grundsätzen der horizontalen Arbeitsteilung darf deshalb der Urologe bei einer solchen telefonischen Mitteilung grundsätzlich darauf vertrauen, daß der Radiologe - wie allgemein üblich und vorliegend auch geschehen - das gesamte in Betracht kommende (Bein- und Becken-)Venensystem befundet hat und sich das Ergebnis entsprechend auch auf dieses gesamte System bezieht. Eines weiteren Nachfragens des Urologen bedarf es dann im Normalfall nicht. Versteht man im alltäglichen klinischen Sprachgebrauch die telefonische Mitteilung inhaltlich als "alle Venen frei", scheidet ein Versäumnis des Urologen, hier des Beklagten zu 1) aus. Für diesen Fall hat auch der gerichtliche Sachverständige Dr. L den Beklagten zu 1) als exculpiert betrachtet, wäre die Situation aus Sicht des Urologen "o.k." gewesen, wie es der Sachverständige formuliert hat.

In dieser Betrachtung sieht sich der Senat in Übereinstimmung mit den urologischen Gutachtern der Gutachterkommission für ärztliche Haftpflichtfragen bei der Ärztekammer Westfalen-Lippe. Im Bescheid vom 08.11.1996 hat der urologische Erstgutachter ein Versäumnis des Beklagten zu 1) nicht gesehen. Soweit er Zusatzgutachten anregt, versteht der Senat diesen Gutachter so, daß sich diese Gutachten auf den Kausalverlauf und das Geschehen auf der Intensivabteilung beziehen sollen (Bl. 35, 40). Auch der zweite urologische Gutachter hat einen Behandlungsfehler des Beklagten zu 1) nicht gesehen. Dieser Gutachter erwähnt ausdrücklich, daß die Beckenetage in dem (schriftlichen) Befund nicht beurteilt wurde, sieht dennoch offenbar keinen Anlaß zu der Annahme, daß der Beklagte zu 1) bei dem Radiologen näher hätte nachhaken sollen bzw. müssen (Bl. 42, 48 f.). Der gegenteilige Standpunkt des gerichtlichen Sachverständigen ist nur aus der Sicht des spezialisierten Gefäßchirurgen zu erklären.

Soweit der Sachverständige es als riskant bezeichnet hat, daß der Beklagte zu 1) sich die Phlebographieaufnahmen nicht selbst angeschaut hat, ist hieraus jedenfalls kein Behandlungsfehler zu folgern. Nach den Grundsätzen der horizontalen Arbeitsteilung durfte der Beklagte zu 1) ungeachtet der streitigen Möglichkeit der Einsichtnahme darauf vertrauen, daß der Radiologe als Spezialist die Auswertung sachgerecht und ohne Kontrollbedarf durch einen Belegarzt bewertet hat.

d)

Durfte der Beklagte zu 1) zunächst den Verdacht auf eine Thrombose als ausgeräumt betrachten, durfte er zumindest an die andere, zunächst vielleicht weniger wahrscheinlichere Möglichkeit eines Lymphstaus denken und entsprechend therapieren. Dennoch trifft ihn der Vorwurf, den Patienten nicht genügend beobachtet und die Diagnose eines thrombotischen Verschlusses fallen gelassen zu haben. Dieser Aspekt unterscheidet sich von der Frage, ob der Beklagte zu 1) das Phlebographieergebnis hinnehmen oder aber weitere Maßnahmen zu ergreifen hatte. Denn ungeachtet des aus seiner Sicht zunächst durch die Phlebographie ausgeräumten Thromboseverdachtes ist er nicht davon entbunden, das konkrete klinische Bild des Patienten im Auge zu behalten. Der vierte Gutachter der Kommission hat darauf verwiesen, daß ungeachtet des konkreten Phlebographiebefundes eine höchstbesorgte Untersuchung, Befragung nach Embolie-Symptomen und die Hinzuziehung von Fachleuten angezeigt gewesen wäre (Bl. 62). Der gerichtliche Sachverständige hat ausgeführt, dem behandelnden und die Nachsorge obliegenden Arzt sei es angesichts der Brisanz der Erkrankung nicht gestattet, die Diagnose gänzlich fallen zu lassen und den Patienten nicht zu behandeln. Zumindest wäre eine konservative Therapie etwa mit einer Erhöhung der Heparin-Gabe und einer engmaschigen klinischen Kontrolle richtig gewesen (Bl. 300). Dem ist der Beklagte zu 1) nicht nachgekommen. Soweit die Krankenunterlagen überhaupt nachvollziehbar sind, beginnt die intensivmedizinische Behandlung des Klägers zu 3) am 11.03.1994 um 21.00 Uhr. Vorab erfolgte eine Blutgas-Elektrolytekontrolle um 18.47 Uhr. Der Patient ist damit frühestens am Nachmittag des 11.03.1994 in die intensivmedizinische Behandlung übernommen und der Verpflichtung des Beklagten zu 1) zur Nachsorge entzogen worden. Für den 09.03. nach Mitteilung des Phlebographieergebnisses sowie für den 10. und 11.03.1994 finden sich in den Krankenunterlagen keinerlei Hinweise, die auf eine besondere Kontrolle des Patienten hindeuten. Der Kläger zu 3) erhielt offenbar durchgängig 3 x 5000 Einheiten Heparin. Für den 10.03. ist nur die Anordnung der Lymphdrainage sowie ein Telefonat dokumentiert, nachdem der Beklagte zu 1) am 11.03. "alles weitere" entscheiden wolle.

Für den 11.03. findet sich nur die Eintragung "Rö-Thorax-EKG". Ansonsten sind nur Pflegemaßnahmen dokumentiert. Die fehlende Dokumentation indiziert, daß weitere Maßnahmen nicht erfolgt sind. Diese Kontrollen entsprechen nicht der sachgerechten Nachsorge bei einem Patienten mit dem durch den Sachverständigen überzeugend dargelegten Krankheitsbild.

e)

Im Ergebnis hat die Berufung der Klägerinnen, soweit sie eine Verteilung des Beklagten zu 1) anstrebt, jedoch deshalb keinen Erfolg, weil die Klägerinnen den ihnen obliegenden Beweis nicht geführt haben, daß das festgestellte bzw. das ansonsten im Raum stehende Fehlverhalten des Beklagten zu 1) ursächlich zu dem geltend gemachten Schaden geführt hat.

aa)

Es steht nicht zur Überzeugung des Senats fest, daß den Klägerinnen durch das festgestellte bzw. im Raum stehende Fehlverhalten des Beklagten zu 1) kausal ein Schaden entstanden ist oder entstanden sein könnte. Es ist nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellbar, daß bei Durchführung einer dopplersonographischen Kontrolle der Halsschlagader mit vorgezogener operativen Behandlung der Stenose bzw. bei sachgerechter Kontrolle des Patienten und einer wegen des veränderten klinischen Bildes zeitlich früher eingeleiteten antithrombotischen Maßnahme sich das Krankheitsbild anders entwickelt hätte. Nach den Ausführungen des Sachverständigen tritt auch bei adäquater Antithrombosebehandlung noch in ca. 5 % der Fälle eine Lungenembolie auf. Der Sachverständige hat die Wirksamkeit der Antithrombosebehandlung so eingeschätzt, daß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Lungenembolie hätte verhindert werden können. Nach Auffassung des Senats ist jedoch bei einer Mißlingensrate von 5 % nicht ein solcher und für die Beweisführung erforderlicher brauchbarer Grad an Wahrscheinlichkeit erreicht, daß verbleibende Zweifel zu schweigen hätten.

Ebenso hätte sich der Hirninfarkt auch bei in jeder Hinsicht sachgerechter Behandlung so entwickeln können, wie er tatsächlich eingetreten ist. Nach dem Sachverständigen ist die Ursache des Hirninfarktes organischer Natur (Bl. 306). Die hier im Raum stehenden Umstände haben lediglich das Risikoprofil erhöht. Bei deren Ausbleiben könne, so der Sachverständige, postuliert werden, daß der Hirninfarkt nicht oder noch nicht aufgetreten wäre. Mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist das jedoch nicht. Selbst bei vorangegangener Ausschaltung der Carotis-Stenose hätte aufgrund des bestehenden Herzwandaneurismas ein Hirninfarkt gleichermaßen auftreten können.

bb)

Beweiserleichterungen kommen den beweispflichtigen Klägerinnen nicht zu Gute.

(1)

Das wäre nur dann der Fall, wenn das jeweilige Fehlverhalten des Beklagten zu 1) entweder jeweils für sich oder bei einer Gesamtbetrachtung als grob fehlerhaft zu werten wäre. Das ist nicht der Fall.

Der gerichtliche Sachverständige hat bei seiner Anhörung vor dem Landgericht das Unterlassen der weiteren Abklärung eines thrombotischen Geschehens in der Beckeneteage durch den Beklagten zu 1) als grob fehlerhaft bewertet. Eine nähere Begründung für diese Einschätzung ist dem Protokoll des Landgerichts nicht zu entnehmen. Deshalb hat der Senat mit dem Sachverständigen die Frage des Fehlverhaltens des Beklagten zu 1) noch einmal eingehend erörtert. Aufgrund dieser eingehenden Erörterung hat der Sachverständige seinen Standpunkt noch einmal überdacht und überzeugend ausgeführt, er bewerte das Versäumnis des Beklagten zu 1), den Zustand des Patienten nicht weiter abgeklärt zu haben, nicht als unverständlich und deshalb nur als einen einfachen Fehler. Die mangelnde Überwachung des Patienten nach Erhalt des Phlebographieergebnisses steht letztlich mit dem Ergebnis der Phlebographie in einem inneren Zusammenhang. Die nach Erhalt des Phlebographieergebnisses gewonnene Einschätzung des Beklagten zu 1), es läge keine Thrombose vor, war offensichtlich Grundlage der zu oberflächlichen und deshalb unsachgerechten weiteren Nachsorge. Wenn schon nach Auffassung des Sachverständigen die unterbliebene weitere Abklärung nicht unverständlich war, dann ist dies auch nicht die hiermit gedanklich und inhaltlich verbundene mangelnde klinische Kontrolle des Klägers zu 3). Deshalb wertet der Senat weder eine evtl. unterbliebene weitere Abklärung des Geschehens durch gezielte Nachfrage bei dem Radiologen noch die unsachgemäße Nachsorge jeweils für sich oder in der Gesamtheit als grob fehlerhaft. Auch die ggf. fehlerhaft unterbliebene präoperative Diagnostik bezüglich der Carotis-Stenose hat der Sachverständige nicht als unverständlich bezeichnet (Bl. 362). Nach Auffassung des Senats sind trotz des im gewissen Grade vorhandenen Zusammenhangs zwischen evtl. mangelnder Vor- und Nachsorge die allenfalls festzustellenden Versäumnisse nicht so gravierend, daß in der Gesamtheit ungeachtet der in diesem Einzelfall fatalen Folgen von einem unverständlichen und grob fehlerhaften ärztlichen Management des Beklagten zu 1) ausgegangen werden kann.

(2)

Eine Beweislastumkehr ergibt sich auch nicht nach den Grundsätzen der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

Die gebotenen Befunde hat der Beklagte zu 1) in Form der Phlebographie vom 09.03.1994 erhoben bzw. veranlaßt. Soweit der vierte Gutachter der Gutachterkommission darauf verwiesen hat, der Beklagte zu 1) hätte weitere Ärzte hinzuziehen müssen, mag dies im Sinne einer unterbliebenen Befunderhebung zu werten sei. Dieser Gutachter hat jedoch seine Auffassung nicht begründet. Wenn er von dem Beklagten allgemeinmedizinische Kenntnisse zur Thromboseprophylaxe und zur entsprechenden Diagnose verlangt, ist nicht erkennbar, welche klinischen Diagnosen aufgrund welcher Methoden andere Ärzte in der damaligen Situation hätten treffen können.

Über die erwähnte unzulängliche Beobachtung des klinischen Verlaufs hinaus ist dem Beklagten zu 1) das Unterlassen eigener Befunderhebung, etwa durch Rückfrage bei dem Radiologen oder den Einsatz anderer bildgebender Verfahren, nicht vorzuwerfen. Es liegt nahe, daß der Radiologe als Ergebnis seiner Befundung das mitgeteilt hätte, was er auch schriftlich befundet hat. Der Viertgutachter hält zwar die Phlebographie - ohne Angabe von Gründen und ohne zu sagen, was ansonsten an diagnostischen Maßnahmen zu veranlassen gewesen wäre - nicht für die diagnostische Maßnahme (Bl. 62). Der gerichtliche Sachverständige hat jedoch überzeugend darauf verwiesen, daß der Beklagte zu 1) mit der Anforderung einer Phlebographie konsequent eine bildgebende Diagnostik der Venen des rechten Beins veranlaßt (Bl. 297) habe. Mit der Veranlassung der Phlebographie habe der Beklagte zu 1) das richtige Verfahren zum Nachweis einer vaskulären Erkrankungsursache für das Anschwellen des rechten Beins gewählt (Bl. 298, 299). Nichts anderes ist dem Senat aus einer Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten bekannt, bei denen es um Thrombosierungen des Venensystems ging. Ist aber die Phlebographie das diagnostische Mittel der Wahl und darf der Belegarzt nach den Grundsätzen der horizontalen Arbeitsteilung den Befundungen des radiologischen Spezialisten vertrauen, obliegt ihm keine Pflicht zu einer weitergehenden Befunderhebung etwa in Form der Anforderung eines Computertomogramms.

3.

Eine abschließende Entscheidung ist dem Senat zur Zeit nicht möglich, weil der den Klägerinnen entstandene Schaden zur Höhe streitig ist und es deshalb einer ergänzenden Beweisaufnahme bedarf. Der Senat hat deshalb gem. § 538 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO die Sache zur Entscheidung über die Höhe an das Landgericht zurückverwiesen. Von einer eigenen Entscheidung in der Sache gem. § 540 ZPO sieht der Senat ab, weil er dies nicht für sachdienlich hält. Das Landgericht hat von seinem Standpunkt aus konsequent die Beweisaufnahme nicht auf die Höhe des Schadens erstreckt. Durch die Beweisaufnahme zur Höhe vor dem Senat würde einer Partei eine Tatsacheninstanz genommen, was in dem konkreten Rechtsstreit im Sinne der Sachdienlichkeit nicht angezeigt erscheint.

4.

Das Urteil beschwert die Klägerinnen und die Beklagte zu 2) jeweils mit mehr als 60.000,00 DM.

Ende der Entscheidung

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