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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 01.09.2008
Aktenzeichen: 3 U 245/07
Rechtsgebiete: ZPO, BGB


Vorschriften:

ZPO § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
BGB § 31
BGB § 89
BGB § 253 Abs. 2
BGB § 278
BGB § 280 Abs. 1
BGB § 286 Abs. 1 Satz 1
BGB § 286 Abs. 2 Nr. 1
BGB § 288 Abs. 1
BGB § 823 Abs. 1
BGB § 831
BGB § 1922
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird - unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen - das am 25.09.2007 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 06.08.2005 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner den Klägern den entstandenen materiellen Schaden zu ersetzen, den der verstorbene T2 aus der fehlerhaften Behandlung vom 02. - 04.08.2004 bis zum 08.03.2008 erlitten hat, sofern nicht Ansprüche auf Grund gesetzlicher Vorschriften auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Kläger zu 21,6 % und die Beklagten zu 78,4 % als Gesamtschuldner, von den Kosten der Berufungsinstanz tragen die Kläger 70 %, die Beklagten tragen 30 % als Gesamtschuldner.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Den Klägern wird gestattet, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagten zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leisten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Kläger sind als Ehefrau und Kinder die Rechtsnachfolger des am 17.11.1962 geborenen und am 08.03.2008 - nach Rechtshängigkeit des zugrunde liegenden Klageverfahrens - verstorbenen T2.

Der durch langjährige Diabetes mellitus (Typ II a), chronischen Nikotinabusus, Übergewicht (178 cm, 98 kg) und Hypertonie erheblich gesundheitlich vorbelastete Herr T2 hat erstinstanzlich von den Beklagten sowohl materiellen als auch immateriellen Schadensersatz (Schmerzensgeldvorstellung: 519.000,00 Euro) verlangt wegen fehlerhafter Behandlung (Diagnose- und Behandlungsfehler) im Zusammenhang mit dem stationären Aufenthalt vom 02.08. bis 04.08.2004 im Städtischen Krankenhaus W2. Die Beklagte zu 1) ist Trägerin des Krankenhauses, der Beklagte zu 2) ist dort als Chefarzt der Inneren Abteilung tätig.

Herr T2 hat vertreten durch die jetzige Klägerin zu 1) als Betreuerin behauptet, wegen des behandlungsfehlerhaften Vorgehens der Beklagten sei es zu einem akuten Myokardinfarkt und - wegen weiterer Behandlungsfehler im Rahmen seiner Reanimation vom 04.08.2004 - letztlich zu einer akuten Sauerstoffunterversorgung mit nachfolgendem hypoxischem Hirnschaden gekommen. Bei ihm liege ein schweres hirnorganisches Psychosyndrom und eine Tetraparese vor; eine Sprachproduktion oder überhaupt irgendeine Kommunikation sei ihm nicht mehr möglich.

Herr T2 war am 10.03.2005 nach mehrmonatigem Aufenthalt aus der Frührehabilitation im Klinikum P nach Hause entlassen worden. Am 08.03.2008 ist er an den Folgen des fulminanten Vorderwandinfarkts und Herzkreiskaufstillstands vom 04.08.2004 verstorben.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil Bezug genommen.

Das Landgericht Bielefeld hat nach Einholung eines schriftlichen kardiologischen Gutachtens und Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. S mehrere grobe Behandlungsfehler festgestellt und wegen des nicht gelungenen Kausalitätsgegenbeweises der Beklagten die Klage für überwiegend begründet erachtet.

Mit ihrer Berufung begehren die Beklagten die vollständige Klageabweisung und machen im Wesentlichen geltend:

Der Beklagte zu 2) sei nicht passivlegitimiert, denn er sei erstmals im Rahmen des Reanimationsvorgangs (04.08.2004, nach 6.15 Uhr) mit der Behandlung des Herrn T2 befasst gewesen. Diesen Behandlungsabschnitt habe der Sachverständige aber nicht als fehlerhaft beanstandet. Das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S sei unbrauchbar, weil er das Behandlungsgeschehen ausschließlich aus der Ex-post-Sicht bewertet habe. Obwohl es sich bei dem Krankenhaus W2 um ein solches der Grund- und Regelversorgung handele, sei der Sachverständige oftmals von den Maximalvoraussetzungen einer Uniklinik ausgegangen. Auf dieser Grundlage sei das Landgericht zu der unzutreffenden Bewertung gelangt, dass grobe Behandlungsfehler gegeben seien.

Die von dem Sachverständigen verlangte invasive Diagnostik und Verlegung des Patienten T2 in ein Spezialzentrum seien nicht geboten gewesen und hätten auch zu keinem anderen Ergebnis geführt. Selbst bei einem optimalen Behandlungsmanagement habe der gleiche Erfolg eintreten können. Über die Höhe des Schmerzensgeldbetrages habe das Landgericht nicht ohne die vorherige Einholung eines neurologischen Zusatzgutachtens entscheiden dürfen.

Die Beklagten beantragen,

die angefochtene Entscheidung abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass der Feststellungsausspruch nur hinsichtlich der bis zum 08.03.2008 entstandenen materiellen Schäden begehrt wird.

Die Kläger verteidigen das erstinstanzliche Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens.

Wegen der weiteren Einzelheiten des zweitinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die im Protokoll genannten Behandlungsunterlagen Bezug genommen.

Der Senat hat die Klägerin zu 1) und den Beklagten zu 2) angehört und den Sachverständigen Prof. Dr. S ergänzend vernommen. Wegen der Ergebnisse der Anhörungen und der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll und den Berichterstattervermerk zum Senatstermin vom 01.09.2008 Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten ist zum Haftungsgrund ohne Erfolg, hinsichtlich des Haftungsumfangs ist sie überwiegend begründet.

Die Kläger haben einen Anspruch gegen die Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht für die bis zum 08.03.2008 dem Patienten T2 entstandenen materiellen Schäden aus der fehlerhaften ärztlichen Behandlung in der Zeit vom 02.08. bis zum 04.08.2004 gemäß den §§ 823 Abs. 1, 831, 31, 89, 253 Abs. 2, in Verbindung mit § 1922 BGB bzw. den §§ 280 Abs. 1, 278, 253 Abs. 2, in Verbindung mit § 1922 BGB.

Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme steht fest, dass die Beklagten es aufgrund mehrerer und teilweise grober Behandlungsfehler (Diagnosefehler) versäumt haben, wegen der bei dem Patienten T2 aufgetretenen Symptome eines akuten Koronarsyndroms eine weiterführende Diagnostik durchzuführen, die zu einer vorzeitigeren Behandlung in einer kardiologischen Spezialklinik - insbesondere zu einer Herzkatheteruntersuchung - und so zu einer Vermeidung des akuten Myokardinfarktes vom 04.08.2004 und dessen Folgen geführt hätte.

1.

In der medizinischen Beurteilung des Behandlungsgeschehens folgt der Senat den sachlich fundierten Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. S. Der Sachverständige hat sich eingehend mit dem zeitlichen Ablauf der Behandlung des Patienten T2 befasst und sein Gutachten unter Einbeziehung der sonstigen Begutachtungen - insbesondere des Privatgutachtens Prof. Dr. T vom 02.05.2007 - in jeder Hinsicht fundiert und sachlich überzeugend bei seiner Vernehmung vom 01.09.2008 erläutert. Die Kompetenz und Erfahrung des Sachverständigen stehen dabei ebenso außer Zweifel wie dessen Objektivität. Der Sachverständige verfügt als langjähriger Oberarzt der Abteilung für Kadiologie und Angiologie der Medizinischen Hochschule I und jetzige Mitarbeiter im Herzzentrum C4 sowohl über ein fundiertes theoretisches Wissen als auch eine umfassende praktische Erfahrung bezüglich der hier relevanten medizinischen Probleme. Der Sachverständige hat sämtliche für die Entscheidung maßgeblichen Fragen und Gesichtspunkte nachvollziehbar und überzeugend erläutert, so dass die Einholung weiterer Gutachten nicht erforderlich war.

Die mit der Berufung von Beklagtenseite gegenüber dem Sachverständigen erhobenen Einwendungen sind nicht erheblich. Insbesondere hat der Sachverständige das Behandlungsgeschehen nicht aus der Ex-post-Sicht bewertet. Die hierzu kritisierte Äußerung (Bl. 225: "Auch wenn man das jetzt ex post sieht ...") spricht gerade nicht dafür. Der Sachverständige hat in seiner Bewertung auch nicht die Maximalvoraussetzungen einer Universitätsklinik zugrunde gelegt, sondern in seiner Vernehmung bekräftigt, dass der von ihm dargestellte Facharztstandard auch und gerade von einem Krankenhaus der Grundversorgung - wie hier dem Krankenhaus W2 der Beklagten zu 1) - gewährleistet sein muss, da ein Großteil der Erstversorgungen von entsprechenden Patienten in solchen Einrichtungen erfolgen würde.

2. Behandlung vom 02.08.2004

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die Haftung der Beklagten aufgrund eines nach der Bewertung des Senates schwerwiegenden Diagnosefehlers am Nachmittag des 02.08.2004 begründet, denn die behandelnden Ärzte - einschließlich des Beklagten zu 2) - haben im Vergleich des Aufnahme-EKG's von 14.12 Uhr mit dem Kontroll-EKG von 15.45 Uhr die dynamischen EKG-Veränderungen übersehen und deshalb Herrn T2 - entgegen dem Facharztstandard - nicht unverzüglich zur Herzkatheteruntersuchung in eine Spezialklinik überwiesen.

Bereits bei einem direkten Vergleich der beiden vorgenannten EKG's zeigte sich ein Rückgang der im ersten EKG bestehenden ST-Streckenveränderungen in den Ableitungen II, III und aVF. Das Vorliegen einer solchen Veränderung hat auch der Privatsachverständige Prof. Dr. T in seinem Gutachten bestätigt.

Das "Verschwinden" der ST-Streckenveränderungen hätte im direkten Vergleich beider EKG's zwingend "alarmieren" müssen und hätte sodann die anfängliche Verdachtsdiagnose einer koronaren Ursache der Beschwerden des Patienten T2 dahin bestätigt, dass sie Ausdruck einer Durchblutungsstörung des Herzens waren. Allein diese Veränderung klassifizierte Herrn T2 bereits eindeutig als Hochrisikopatienten, denn eine solche Veränderung im EKG ist ausschließlich bei Koronarpatienten zu beobachten. Herr T2 hätte deshalb unverzüglich, d.h. sofort oder spätestens am Folgetag zu einer Herzkatheteruntersuchung überwiesen werden müssen. Zumindest hätte dieses Vorgehen von den behandelnden Ärzten auf jeden Fall in Erwägung gezogen werden müssen. Es sind aber laut Prof. S bereits keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass Herr T2 insoweit überhaupt als "verdächtig" eingeschätzt worden ist.

Soweit die Beklagten bereits erstinstanzlich unter Bezugnahme auf das Gutachten Prof. Dr. T gerügt haben, es hätte lediglich eine diskrete, minimale Veränderung im EKG vorgelegen, hat Prof. Dr. S jedoch gerade diese als die "entscheidende Veränderung" bezeichnet. Dieser sog. "Gang" zwischen den beiden EKG's gilt als Indikator für ein hohes Risiko, also für ein dynamisches Krankheitsbild, bei dem jederzeit die Progredienz in einen Herzinfarkt möglich ist.

Diese Fehlinterpretation der EKG-Aufzeichnungen vom 02.08.2004 war eindeutig behandlungsfehlerhaft im Sinne eines Diagnosefehlers, denn die Deutung der behandelnden Ärzte der Beklagten war nicht mehr vertretbar, so dass die Diagnose nicht nur objektiv falsch, sondern auch subjektiv vorwerfbar falsch war. Nach den Ausführungen des Sachverständigen spricht vieles dafür, dass es sich zudem um einen fundamentalen Diagnoseirrtum handelt, der auch in einem Krankenhaus der Grundversorgung - wie das Krankenhaus W2 der Beklagten zu 1) - aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.

Dieser Bewertung im Sinne eines groben Diagnosefehlers liegt auch nach Ansicht des Senats nahe. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der Behandlung ist das therapeutische Vorgehen der Beklagten "in die falsche Richtung gelaufen", da der Patient als Hochrisikofall hätte behandelt werden müssen. Letztlich kann die Frage des groben Behandlungsfehlers offen bleiben, da der Behandlungsfehler der Beklagten durch eine fehlerhafte Weidumstellung bei der Versorgung nach den Ausführungen des Sachverständigen mit der erforderlichen Sicherheit für den eingetretenen Gesundheitsschaden des Verstorbenen ursächlich geworden ist.

Wäre Herr T2 am Nachmittag des 02.08.2004 als Koronarpatient erkannt worden, so wäre der gesamte weitere tatsächliche Ablauf des Behandlungsgeschehens an dieser Stelle gestoppt worden. Vielmehr wäre der Patient bei einem ordnungsgemäßen Vorgehen nach dem Facharztstandard spätestens am Folgetag in der T3-Klinik - oder einer anderen Spezialklinik - einer Herzkatheteruntersuchung unterzogen worden. Dabei wäre die vorliegende Koronarkrankheit - so der Sachverständige - auf Anhieb sogar von einem medizinischen Laien erkannt worden. Auch die beiden EKG's vom 02.08.2004 wären dann von den Spezialisten neu bewertet worden.

Der Sachverständige war ohne Zweifel, dass bei einem solchen Vorgehen der Herzinfarkt und die gesamten weiteren Folgen für den Patienten T2 vermieden worden wären (vgl. dazu auch OLG Bamberg VersR 2005, 1292, 1293).

3. Behandlung vom 03.08.2004

Die Beklagten haften weiter aufgrund eines groben Diagnosefehlers vom 03.08.2004, denn die behandelnden Ärzte haben an diesem Tag in der EKG-Aufzeichnung eindeutige pathologische Zeichen einer signifikanten Koronarinsuffizienz verkannt.

Bereits die Durchführung des Belastungs-EKG's war klar kontraindiziert. Weil die Beklagten aber die dynamischen EKG-Veränderungen vom Vortag fehlerhaft übersehen und den Patienten T2 - der zudem unter dem Einfluss von Schmerzmitteln und gerinnungshemmender Medikation beschwerdefrei war - deshalb fehlerhaft als Niedrikrisikopatienten eingestuft hatten, wurde ohne weitere Kontrolluntersuchungen (z.B. serielle EKG's, Verlauf der Troponin-Werte) ein Belastungs-EKG durchzuführen. Der Sachverständige hat dieses Vorgehen als schwerwiegenden Sorgfaltsmangel bezeichnet. Dieser Aspekt bedarf jedoch keiner weiteren Vertiefung, da jedenfalls die anschließende Auswertung des EKG eindeutig fehlerhaft gewesen ist.

Es wurden an diesem Tag die bei einer Belastung von 150 Watt aufgetretenen Veränderungen im EKG in Form von eindeutigen ST-Senkungen in den Ableitungen II, III und aVF - die bereits am Vortag ischämische Veränderungen aufgewiesen haben - erneut nicht erkannt. Auch der Privatgutachter Prof. Dr. T hat insoweit das Vorliegen eines Fehlers bestätigt. Die Bewertung des Belastungs-EKG's war eindeutig falsch im Sinne eines Diagnosefehlers, denn die Deutung des behandelnden Arztes ("keine Zeichen einer signifikanten Koronarinsuffizienz") war nicht mehr vertretbar, so dass die Diagnose nicht nur objektiv falsch, sondern auch subjektiv vorwerfbar falsch war. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. S handelt es sich zudem um einen fundamentalen Diagnoseirrtum, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.

Denn - so der Sachverständige - bei dem behandelnden Oberarzt (Dr. W) hätten sogar "zwei rote Alarmlampen angehen" müssen, weil es in dem Belastungs-EKG in zwei Bereichen der peripheren Ableitungen des Herzens zu entsprechenden Abweichungen gekommen war. Der Sachverständige hat dazu wörtlich ausgeführt: "So eindeutig wie hier habe ich selten ein verdächtiges EKG gesehen". Angesichts dieser klaren Äußerungen des Sachverständigen zur Bewertung der Gewichtigkeit des Fehlers hat der Senat keinen Zweifel, dass die Verkennung der Veränderungen im Belastungs-EKG als grober Diagnosefehler zu bewerten ist.

Aufgrund dieses groben Diagnosefehlers und der damit verbundenen Umkehr der Beweislast haften die Beklagten für die infolge des akuten Myokardinfarktes des Patienten T2 vom 04.08.2004 eingetretenen Folgen. Den entsprechenden Gegenbeweis, dass der Eintritt des Schadens trotz des Fehlverhaltens der Beklagten gänzlich unwahrscheinlich ist, haben die Beklagten nicht erbracht. Die Beklagten haben auch nicht bewiesen, dass selbst bei einem optimalen Behandlungsmanagement der gleiche Erfolg eingetreten wäre. Vielmehr ist nach den Ausführungen des Sachverständigen davon auszugehen, dass bei ordnungsgemäßem Vorgehen noch am 03.08.2004 eine Herzkatheteruntersuchung durchgeführt und so mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Ursache der Durchblutungsstörung beseitigt und das gesamte nachfolgende Geschehen verhindert worden wäre.

Die abweichende Auffassung des Privatgutachters Prof. Dr. T vermag nicht zu überzeugen. Zwar bestätigt auch er die Anwendbarkeit der Leitlinie "Akutes Koronarsyndrom" der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie aus dem Jahr 2004, er sieht jedoch keines der für eine sog. "frühe invasive Therapie" zusätzlich - zu den Angina-Pectoris-Beschwerden - erforderlichen Merkmale als erfüllt an. Unstreitig erfüllte Herr T2 aber das weitere Risikomerkmal eines Diabetes mellitus. Für diesen Fall wird eine invasive Diagnostik spätestens innerhalb von 48 Stunden empfohlen. Letztlich hat insoweit auch Prof. Dr. T bestätigt, dass "die einzig sinnvolle Maßnahme die rasche Herzkatheteruntersuchung" gewesen wäre.

Auf die wiederholt behauptete Einhaltung der "48-Stunden-Grenze" können sich die Beklagten nicht berufen. Denn aus den Behandlungsunterlagen ist bereits nicht ersichtlich, dass der Patient T2 überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt als ein "Risikopatient" eingestuft wurde, bei dem die "dringende" Anmeldung zu einer Herzkatheteruntersuchung in die Überlegungen einbezogen worden wäre. Zudem ergibt sich insoweit aus der zitierten Leitlinie, dass ohnehin eine frühestmögliche Behandlungspflicht gilt, d.h. die invasive Diagnostik und ggf. erforderliche operative Intervention sollten spätestens innerhalb von 48 Stunden erfolgt, also tatsächlich ausgeführt sein.

Prof. Dr. S hat in seiner Vernehmung bekräftigt, dass hier aufgrund der Veränderungen in zwei Bereichen der peripheren Ableitungen ein Notfall vorlag, so dass bei Herrn T2 zwingend noch an demselben Tag eine Herzkatheteruntersuchung durchzuführen war. In einem solchen Fall, der - so der Sachverständige - "ganz heiß" ist, muss diese Untersuchung auf jeden Fall am selben Tag erfolgen. Für den Fall, dass die T3-Klinik einen entsprechenden Untersuchungstermin erst für den nächsten Morgen angeboten hätte, wäre zwingend eine andere Spezial-Klinik zu kontaktieren gewesen. Auch nach Angaben des Beklagten zu 2) wird bei erkannter Erforderlichkeit einer Katheteruntersuchung sofort eine Terminabsprache vorgenommen.

4. Behandlung vom 04.08.2004

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht schließlich fest, dass die Versorgung des Patienten T2 am 04.08.2004 sowohl vor als auch nach dem Auftreten des Herz-Kreislauf-Stillstandes grob behandlungsfehlerhaft war.

So hat zunächst die an diesem Morgen diensthabende Ärztin Dr. C3 - eine ausgebildete Notärztin - das EKG von 5.32 Uhr eindeutig falsch beurteilt und die in den Ableitungen direkt über dem Infarkt (V2-V4) beginnenden ST-Hebungen und eine typische Überhöhung der T-Welle ("Erstickungs-T") nicht erkannt. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. S handelt es sich "eindeutig" um einen fundamentalen Diagnoseirrtum, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil Dr. C3 als ausgebildete Notärztin diesen beginnenden Myokardinfarkt trotz der zusätzlichen Hinweise sie der typischen vegetativen Begleitsymptomatik in Form von Übelkeit und der geringen Wirksamkeit des verabreichten Nitroglycerin-Sprays nicht erkannt hat. Auch der Senat hat keinen Zweifel, dass die Verkennung des EKG's als grober Diagnosefehler zu bewerten ist.

Bei richtiger Diagnose wäre am 04.08.2004 gegen 6.00 Uhr ein Notfallablauf ("Alarmreaktion") in Gang gesetzt worden, der die sofortige Kreislaufüberwachung, Stabilisierung und möglichst rasche Verlegung umfasst hätte. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wäre dann der nachfolgende Kreislaufzusammenbruch entweder verhindert oder zumindest rasch durch den Einsatz eines Defibrillators beseitigt worden. Bei richtigem Verhalten hätte eine gute und praktisch relevante Chance bestanden, die Folgen für den Patienten zumindest abzumildern.

Wie der tatsächliche Gang des Behandlungsgeschehens zeigt, war der Rettungswagen bereits 11 Minuten nach Alarmierung eingetroffen, so dass in jedem Fall wertvolle Zeit für eine eventuell erforderliche Reanimation in der T3-Klinik hätte gespart werden können. Dort hätten dann auch unmittelbar die zwingend erforderliche Koronarangiographie bzw. Herzkatheteruntersuchung ausgeführt werden können.

Darüber hinaus sieht es der Sachverständige aufgrund der schweren persistierenden neurologischen Ausfälle des Patienten T2 mit der für das praktische Leben ausreichenden Sicherheit als erwiesen an, dass die ab etwa 6.10 Uhr begonnene Reanimation nur unzulänglich und verzögert erfolgt ist. So haben die Ärzte in den ersten 15 Minuten nach dem fulminanten Myokardinfarkt sehr viel Zeit durch die - technisch nicht einfache - Intubation des Patienten T2 verloren. Zudem wurde nach Eintritt des Herzkreislaufstillstandes fehlerhaft versucht, den im Bett liegenden Herrn T2 durch eine Herzthoraxdruckmassage zu reanimieren. Dieses war aufgrund der hohen Nachgiebigkeit der Matratze in den ersten Minuten vollständig frustran. In der Folge kam es deshalb aufgrund fehlenden Ausgleichs des Säure-Basen-Haushalts zu einer raschen Übersäuerung des Blutes und zu einer länger dauernden Sauerstoffnot. Nach den Ausführungen des Sachverständigen sind die bei Herrn T2 eingetretenen neurologischen Defizite bei einem relativ jungen Patienten nur durch einen prolongierten Kreislaufstillstand und damit langen Sauerstoffmangel des Gehirns zu erklären. Dass die Behandlung gerade in der frühen, noch leicht reversiblen Phase des Herzstillstandes mangelhaft gewesen ist, wiegt umso schwerer, weil die Ausgangsbedingungen für eine erfolgreiche Reanimation ohne Folgeschäden kaum besser hätten sein können. Eine so ineffektive Reanimation im Beisein (mindestens) eines Arztes darf nach den Ausführungen des Sachverständigen einfach nicht passieren und ist aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich. Angesichts der klaren Äußerungen des Sachverständigen hat auch der Senat keinen Zweifel, dass das Vorgehen der Beklagten im Rahmen der Reanimationsmaßnahmen als grob behandlungsfehlerhaft zu bewerten ist.

Nach Prof. Dr. S bestehen keine Zweifel, dass ausschließlich die behandlungsfehlerhafte Reanimation des Patienten T2 zu dem langen Sauerstoffmangel und in der Folge zu den persistierenden neurologischen Ausfällen geführt hat.

Schließlich hat der Sachverständige das Behandlungsgeschehen in der Gesamtschau als grob behandlungsfehlerhaft bezeichnet, da eine Kette von Behandlungsfehlern gegeben und der Patient lediglich anfänglich am 02.08.2004 richtig versorgt worden sei.

5.

Entgegen der Ansicht der Berufung ist auch der Beklagte zu 2) passivlegitimiert. Er haftet deliktisch sowohl als an der Behandlung des Patienten T2 beteiligter Arzt für eigene Fehler als auch für ein Organisationsverschulden als Chefarzt der Inneren Abteilung im Krankenhaus der Beklagten zu 1).

Nach der Anhörung durch den Senat steht fest, dass der Beklagte zu 2) selbst an der Behandlung maßgeblich beteiligt war und sowohl das Aufnahme-EKG als auch das Kontroll-EKG vom 02.08.2004 jeweils selbst befundet und die Aufzeichnungen miteinander verglichen hat. Nach deren Auswertung hat der Beklagte zu 2) gemeinsam mit dem Oberarzt die Weichen für die weitere Behandlung gestellt und entschieden, den Patienten T2 lediglich zum Monitoring auf die Intensivstation zu verlegen, weil die Veränderungen in den EKG's nach seiner Bewertung nur diskret waren, und der Patient zudem ohne Beschwerden und die Herz-Enzym-Muster ohne Befund waren. Eine umgehende Koronarangiographie bzw. eine Herzkatheteruntersuchung hielt er ebenso wenig für erforderlich wie eine Kontrolle des Troponin-Wertes.

Nach den Ausführungen des Sachverständigen ist die vom Facharztstandard abweichende Bewertung der EKG's durch den Beklagten zu 2) kaum nachzuvollziehen und fehlerhaft. Die darin erkennbaren Veränderungen treten ausschließlich bei Koronarpatienten auf; das hätte dem Beklagten zu 2) unbedingt auffallen müssen, insbesondere weil schon zuvor bei der Aufnahme des Patienten T2 eine Angina Pectoris dokumentiert wurde. Folglich ist mit der Entscheidung des Beklagten zu 2), den Patienten T2 nicht umgehend zur Herzkatheteruntersuchung in eine Spezialklinik zu überweisen, eine fehlerhafte "Weichenstellung" erfolgt. Bei einem Vorgehen entsprechend dem Facharztstandard wäre bei Herrn T2 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit spätestens am Folgetag eine Herzkatheteruntersuchung durchgeführt worden, so dass sämtliche weiteren Folgen vermieten worden wären. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen zu Ziffer 2) Bezug genommen.

Zudem ist nach den Ausführungen des Sachverständigen eine fehlerhafte Ausübung der eigenen Leitungsfunktionen des Beklagten zu 2) festzustellen. Insoweit obliegt ihm als Chefarzt auch die Fachaufsicht (Auswahl, Anleitung, Überwachung) über den nachgeordneten ärztlichen Dienst. In dieser Funktion hat der Beklagte zu 2) dafür Sorge zu tragen, dass ein von ihm eingesetzter Arzt für die Behandlungsmaßnahmen ausreichend qualifiziert ist und die für ein selbständiges Arbeiten allgemein zu fordernde fachliche Qualifikation besitzt. Diese Sorgfaltspflichten hat der Beklagte zu 2) verletzt. Aufgrund der vom Sachverständigen festgestellten Kette von schweren Behandlungsfehlern - an drei Behandlungstagen sind drei unterschiedlichen, in der Abteilung des Beklagten zu 2) tätigen Ärzten fundamentale Diagnosefehler bei der Auswertung von EKG's unterlaufen - und der gleichzeitigen Forderung des Sachverständigen, dass jeder am Bereitschaftsdienst teilnehmende Arzt sichere Kenntnisse in der Beurteilung eines EKG's haben muss, steht indiziell fest, dass die hier im Rahmen der Behandlung des Patienten T2 tätigen Ärzte (Dr. L, Dr. W, Dr. C3 seitens des Beklagten zu 2) nicht ordnungsgemäß ausgewählt und überwacht wurden.

6.

Der Senat erachtet für die Folgen der groben Behandlungsfehler ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000,00 Euro für angemessen und ausreichend.

Insofern war zu berücksichtigen, dass es nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. S bei dem Patienten T2 nach dem fulminanten Vorderwandinfarkt aufgrund frustraner Reanimationsmaßnahmen zu einem längeren Herz-Kreislauf-Stillstand und in der Folge zu einem schweren hypoxischen Hirnschaden mit schwerem hirnorganischen Psychosyndrom und vollständiger Pflegebedürftigkeit gekommen ist. Die Beklagten haben weder Art noch Ausmaß der neurologischen Schäden des Patienten T2 substantiiert bestritten noch sind sie den im Gutachten Dr. H (... Gutachten) aufgezeigten Einschränkungen in der Lebensführung des Herrn T2 qualifiziert entgegen getreten. Die Einholung eines neurologischen Zusatzgutachtens war deshalb nicht angezeigt.

Hinsichtlich der konkreten Bemessung des Schmerzensgeldbetrages wird zunächst auf die zutreffenden Ausführungen in dem angefochtenen Urteil Bezug genommen. Für das Landgericht war jedoch noch nicht der tragische Umstand vorhersehbar, dass Herr T2 bereits nach relativ kurzer Zeit - am 08.03.2008 - an den Folgen der Behandlungsfehler versterben würde.

Deshalb erforderte die Schmerzensgeldbemessung eine neue Gesamtbetrachtung aller gesundheitlichen Beeinträchtigungen unter besonderer Berücksichtigung von Art und Schwere der erlittenen Beeinträchtigungen und des Zeitraums zwischen Verletzung und Tod (vgl. hierzu BGH NJW 1998, 2741; Palandt-Heinrichs, BGB, § 253 Rdnr. 16; Jaeger/Luckey, Schmerzensgeld, Rdnr. 478 ff).

Unter Abwägung aller zumessungsrelevanter Faktoren und unter Berücksichtigung der in den letzten Jahren in ähnlich gelagerten Fällen in der Rechtsprechung zuerkannten Schmerzensgeldbeträge hält der Senat in der Gesamtbetrachtung einen Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 100.000,00 Euro für geboten und angemessen.

7.

Daneben war die Ersatzverpflichtung hinsichtlich der materiellen Schäden, die Herr T2 aus der fehlerhaften Behandlung vom 02. - 04.08.2004 in der Zeit bis zum 08.03.2008 erlitten hat, im Rahmen des Feststellungsantrags auszusprechen.

8.

Der Zinsanspruch folgt aus dem Gesichtspunkt des Verzuges gemäß den §§ 286 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1, 288 Abs. 1 BGB.

9.

Die prozessualen Nebenentscheidungen resultieren aus den §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 100 Abs. 4, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Bei der Kostenentscheidung war hinsichtlich der ersten Instanz zu berücksichtigen, dass das Begehren ohne den Todeseintritt in höherem Maße begründet gewesen ist.

Die Revision war nicht zuzulassen, denn die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

Das Urteil beschwert die Beklagten mit mehr als 20.000,00 Euro.

Ende der Entscheidung

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