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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 09.05.2001
Aktenzeichen: 3 U 250/99
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 30
BGB § 31
BGB § 1922
BGB § 847
BGB § 823
BGB § 831
ZPO § 108
ZPO § 711
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 543 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
1. Der gebotene medizinische Standard wird nicht allein durch Empfehlungen oder Richtlinien der zuständigen medizinischen Gesellschaft geprägt. Die - bei regelrechter Behandlung - zu beachtende Sorgfalt beurteilt sich nach dem Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft zur Zeit der Behandlung. Auch Richtlinien können diesen Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft grundsätzlich nur deklaratorisch wiedergeben, nicht aber konstitutiv begründen.

2. Dem Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft entspricht es, daß bei einer Rechtsherzkatheteruntersuchung - bis auf eine Spüllösung - keine Heparinisierung durchgeführt wird.


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

3 U 250/99 OLG Hamm

Verkündet am 09. Mai 2001

In dem Rechtsstreit

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 09. Mai 2001 durch die Richter am Oberlandesgericht Kamps, Rüthers und Lüblinghoff

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das am 04. Oktober 1999 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Bochum wird zurückgewiesen.

Der Kläger tragt die Kosten des Berufungsverfahrens. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung aus dem Urteil durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung von 15.000,00 DM abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung in gleicher Hohe Sicherheit leisten.

Beide Parteien können die Sicherheitsleistung auch durch eine unbedingte, unbefristete und selbstschuldnerische Bürgschaft einer deutschen Großbank oder öffentlichen Sparkasse erbringen.

Tatbestand:

Der Kläger macht mit der Klage Schadensersatzansprüche gegen die Beklagten wegen ärztlicher Fehlbehandlung seiner am 08.10.1996 im Marienhospital Herne im Alter von 48 Jahren verstorbenen Ehefrau L G geltend. Seit Juli 1995 klagte Frau G über Luftnot, bei Belastung, Abgeschlagenheit und unter gelegentlichen Schmerzen im Brustkorb. Sie begab sich in die Behandlung verschiedener Ärzte. Unter der Verdachtsdiagnose einer instabilen Angina pectoris, differentialdiagnostisch einer Karditis, wurde sie in der medizinischen Klinik des St. Johannes-Hospitals in Dortmund in der Zeit vom 18.07. bis zum 10.08.1995 stationär behandelt. Die im Entlassungsbrief aufgeführte Diagnose lautet u. a. Myokarditis mit unbekanntem Erreger. Ferner wurde ein echokardiographisch nachgewiesener schmaler Perikardsaum an der Herzhinterwand beschrieben. Unter der Gabe eines entzündungshemmenden Medikaments kam es zu einer Besserung der Beschwerden. Die Anschlußheilbehandlung erfolgte in der Klinik am Kurpark in Bad Salzuflen in der Zeit vom 12.09. bis zum 10.10.1995. In der Folgezeit fanden regelmäßige Kontrolluntersuchungen in einer kardiologischen Praxis statt. Angesichts des persistierenden echokardiographischen Perikardsaums entschloss sich der behandelnde Kardiologe Dr. W im Januar 1996 zu einem Therapieversuch mit Cortison. Am 22.01.1996 wurde Frau G durch den Notarzt in die Städtischen Kliniken Dortmund eingewiesen, nachdem es zu Schwindel-, Schwäche- und Kollapsneigung gekommen war. Die stationäre Behandlung dauerte bis zum 30.01.1996 an. Wegen Hustens und deutlicher Luftnot stellte sich Frau G Ende 1996 erneut in der kardiologischen Praxis C /R /W vor. Es wurde eine akute links-basale Bronchopneumonie diagnostiziert und aus diesem Grunde die stationäre Einweisung in die medizinische Klinik des St. Johannes-Hospitals in Dortmund veranlaßt, wo Frau G in der Zeit vom 25.02. bis zum 06.03.1996 behandelt wurde. Zum Ausschluß einer Systemerkrankung als Ursache des Perikardsaums wurde eine große Anzahl diagnostischer Tests von verschiedenen Ärzten veranlaßt. Ein Anhalt für eine Systemerkrankung fand sich nicht. Daraufhin regte der behandelnde Kardiologe Dr. W die stationäre Abklärung des Krankheitsbildes in der kardiologisch orientierten medizinischen Klinik II. des Marienhospitals Herne an. Er empfahl ausdrücklich eine Rechts- sowie Linksherzkatheteruntersuchung.

Die Aufnahme von Frau G in der Klinik der Beklagten zu 1) erfolgte am 10.09.1996. Noch am selben Tag unterzeichnete die Ehefrau des Klägers, die nur gebrochen deutsch sprach, einen in türkischer Sprache abgefaßten Aufklärungsbogen über die Risiken einer Herzkatheruntersuchung. Im Anschluß an die Aufnahme fanden verschiedene Untersuchungen statt, bevor am 24.09.1996 durch den Beklagten zu 3) in Anwesenheit der Beklagten zu 2) eine Rechts- und Linksherzkatheruntersuchung durchgeführt wurde. Am Morgen des 25.09.1996 meldete sich Frau G mit Luftnot und thorakalen Schmerzen. Sie wurde kreislaufinsuffizient und reanimationspflichtig. Am 27.09.1996 wurde eine links-basale Pneumonie diagnostiziert. Es konnten zweierlei Keime festgestellt werden. Trotz eingeleiteter antibiotischer Therapie gelang es nicht, das septische Krankheitsbild zu beherrschen. Frau G verstarb am 08.10.1996 an Multiorganversagen.

Der Kläger hat die Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von 15.000,00 DM, Ersatz materieller Schäden und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz weiterer materieller Schäden in Anspruch genommen. Er hat behauptet, die Herzkatheteruntersuchung vom 24.09.1996 sei nicht indiziert gewesen und nicht regelrecht durchgeführt worden. Die Beklagten behaupten, daß die verstorbene Frau G über die Notwendigkeit und Risiken der Herzkatheteruntersuchung ausführlich aufgeklärt worden sei. Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Parteivorbringens und der in erster Instanz gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines kardiologischen Gutachtens und uneidlicher Vernehmung des aufklärenden Arztes mit der Begründung abgewiesen, daß der Tod von Frau G nicht durch eine fehlerhafte Behandlung im Krankenhaus der Beklagten zu 1) verursacht worden sei. Die Aufklärung über die Risiken der Herzkatheteruntersuchung sei ausreichend gewesen.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der Berufung und beantragt,

das am 04.10.1999 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Bochum (6 O 556/97) abzuändern und

1.

die Beklagten zu 1) bis 3) als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn zu zahlen

a)

ein der Höhe nach in das Ermessen des Senats gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 15.000,00 DM, nebst 4 % Zinsen seit dem 28.01.1998;

b)

eine monatliche Geldrente in Höhe von 1.969,08 DM nebst 4 % Zinsen aus dem jeweils fälligen Betrag, beginnend ab 01.11.1996;

c)

einen Betreuungsunterhalt von monatlich 200,00 DM nebst 4 % Zinsen aus dem jeweils fälligen Nettobetrag, fällig jeweils bis zum 03. eines jeden Monats, beginnend ab 01.11.1996 bis 31.10.1998;

d)

eine monatliche Betreuungsrente in Höhe von 251,00 DM nebst 4 % Zinsen aus dem jeweils fälligen Betrag, spätestens fällig bis zum 03. eines Monats, beginnend ab 01.11.1996 bis 31.10.2001, sowie

2.

festzustellen, daß die Beklagten zu 1) bis 3) als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm allen materiellen Zukunftsschaden aus Anlaß des Todes seiner Ehefrau L G , am 08.10.1996, zu ersetzen, soweit ein öffentlich-rechtlicher Forderungsübergang nicht stattfindet.

Die Beklagten beantragen,

1. die gegnerische Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen;

2. Vollstreckungsnachlaß.

Die Parteien wiederholen, vertiefen und ergänzen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Wegen der Einzelheiten ihres Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze mit ihren Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat ein weiteres Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. H gemäß Beschluß vom 13. Dezember 2000 (Bl. 317 f. d.A.) eingeholt (schriftliches Gutachten vom 08.01.2001, Bl. 326 bis 330 d.A.). Im Senatstermin vom 11. September 2000 sind fünf Kinder des Klägers und seiner verstorbenen Ehefrau, P , M , I , K und A G sowie der den Aufklärungsbogen unterzeichnende Arzt Dr. V R uneidlich als Zeugen vernommen worden. Die Sachverständigen Profes. Dres. E und H haben ihre Gutachten in den Senatsterminen vom 11. September 2000 und vom 09. Mai 2001 erläutert. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Vermerke des Berichterstatters zu den Senatsterminen vom 11. September 2000 (Bl. 285 bis 293 d.A.) und vom 09. Mai 2001 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung bleibt ohne Erfolg.

Der Kläger hat gegen die Beklagten keine Schadensersatzansprüche aus den §§ 1922, 847, 823, 831, 30, 31 BGB oder - soweit materieller Schadensersatz begehrt wird - aus einer schuldhaften Verletzung von Sorgfaltspflichten des Behandlungsvertrages. Fehler der Beklagten zu 2) und 3) oder anderer für die Beklagte zu 1) tätigen Ärzte bei der Behandlung der verstorbenen Ehefrau des Klägers lassen sich nicht feststellen. Die Beklagten haften dem Kläger auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines Aufklärungsverschuldens.

Zunächst wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Grunde der angefochtenen Entscheidung gemäß § 543 Abs. 1 ZPO verwiesen.

Auch die erneute Beweisaufnahme durch den Senat hat nicht ergeben, daß Frau L G durch die Ärzte der Beklagten zu 1) fehlerhaft behandelt worden ist. In der Beurteilung des Behandlungsgeschehens macht sich der Senat die Feststellungen der Sachverständigen Profes. Dres. E und H , die ihre Gutachten überzeugend erläutert haben, zu eigen. Danach lassen sich keine Versäumnisse der behandelnden Ärzte feststellen.

Es widersprach nicht dem kardiologischen Standard, insbesondere vor der Rechtsherzkatheteruntersuchung am 24.09.1996 keine Thromboseprophylaxe mittels Heparin durchzuführen. So hat bereits der Sachverständige Prof. Dr. E auf S. 34 seines schriftlichen Gutachtens vom 20.01.1999 ausgeführt, daß es für eine solche Thromboseprophylaxe keine Empfehlungen der entsprechenden Gesellschaften, der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie oder der American Heart Association gebe. In den Senatsterminen vom 11. September 2000 und vom 09. Mai 2001 hat Prof. Dr. E bestätigt, daß es solche Empfehlungen oder Richtlinien bis heute nicht gebe. Seine Auffassung zur Thromboseprophylaxe in solchen Fällen habe sich bisher nicht durchsetzen können. Bei der Beurteilung dieser Frage hat sich der Senat vergegenwärtigt, daß der gebotene medizinische Standard nicht allein durch Empfehlungen oder Richtlinien der zuständigen medizinischen Gesellschaft geprägt wird. Vielmehr beurteilt sich die - bei der regelrechten Behandlung - zu beachtende Sorgfalt nach dem Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft zur Zeit der Behandlung (BGH, NJW 1983, 2080; NJW 1988, 763; NJW 1989, 2321; NJW 1994, 3008; Senat, VersR 1994, 1476; NJW 2000, 1801). Die Richtlinien können diesen Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft grundsätzlich nur deklaratorisch wiedergeben, nicht aber konstitutiv begründen.

Dem Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft entspricht es, daß weder 1996 noch heute eine - über die Spüllösung hinausgehende - Heparinisierung bei einer Rechtsherzkatheteruntersuchung durchgeführt wird. Beide Sachverständige haben im Senatstermin bestätigt, daß die Mehrzahl der kardiologischen Kliniken in Deutschland, u. a. die kardiologische Klinik am Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen in Bad Oeynhausen, auf eine solche Thromboseprophylaxe verzichten. Auch eine mutmaßliche pulmonale Druckerhöhung und der bestehende Diabetes mellitus hätten, so Prof. Dr. H , ihn nicht dazu veranlaßt, eine über die übliche Spüllösung hinausgehende Heparinisierung vorzunehmen.

Die Herzkatheteruntersuchung war indiziert, Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Durchführung bestehen nicht. Die Infektionsbekämpfung und die intensivmedizinischen Maßnahmen sind nicht zu beanstanden.

Der Senat hält den Eingriff vom 24.09.1996 durch eine wirksame Einwilligung der verstorbenen Frau L G für gerechtfertigt. Daß Frau G über die Art und die Risiken, insbesondere über das Risiko der Lungenembolie infolge einer Herzkatheteruntersuchung aufgeklärt worden ist, ist durch die erneute Beweisaufnahme bestätigt worden. Zum einen ergibt sich aus dem in türkischer Sprache verfaßten und auch von dem Kläger unterzeichneten Aufklärungsbogen vom 10.09.1996, daß auch auf das Risiko der Blutgerinnung hingewiesen weorden ist. Zum anderen hat der Zeuge Dr. R auch vor dem Senat glaubhaft bekundet, daß mit Frau G eine Verständigung über Art und Risiken des Eingriffs möglich gewesen sei. Dahinstehen kann deshalb, ob auch der Ehemann oder ein Kind der Frau G an dem Gespräch teilgenommen haben. Schließlich hat der Zeuge Dr. R am Ende der Vernehmung auch glaubhaft bekundet, daß er auf das erhöhte Thrombose- und Embolierisiko hingewiesen habe.

Selbst wenn die Aufklärung defizitär sein sollte und selbst wenn eine Heparinisierung hier zur standardgemäßen kardiologischen Behandlung gehört hätte, würde dies der Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Es steht nämlich sowohl nach Auffassung von Prof. Dr. E als auch nach Auffassung von Prof. Dr. H nicht sicher fest, daß die Lungenembolie durch die Herzkatheteruntersuchung verursacht worden ist.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97 Abs. 1, 108, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Das Urteil beschwert den Kläger mit mehr als 60.000,00 DM.



Ende der Entscheidung

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