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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 06.12.1999
Aktenzeichen: 3 U 86/99
Rechtsgebiete: ZPO, BGB


Vorschriften:

ZPO § 709
ZPO § 711
ZPO § 720 a Abs. 3
ZPO § 538 Abs. 1 Ziff. 3
ZPO § 540
BGB § 847
BGB § 823
BGB § 831
BGB § 30
BGB § 31
Ursachenzusammenhang zwischen der Fehlposition eines Nabelvenenkatheters und einer Pfortaderthrombose

In dem Unterlassen der zwingend gebotenen Lagekontrolle einer Nabelvenenkatheterspitze liegt ein schweres ärztliches Versäumnis, das aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint.

Die Beweiserleichterung erstreckt sich bei solch einem groben Behandlungsfehler auch auf eine mehrere Jahre später auftretende Pfortaderthrombose.


OBERLANDESGERICHT HAMM IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

3 U 86/99 OLG Hamm 3 O 418/96 LG Paderborn

Verkündet am 06. Dezember 1999

Stalljohann, Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts

hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 06. Dezember 1999 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Pelz und die Richter am Oberlandesgericht Rüthers und Lüblinghoff

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 18. Februar 1999 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn abgeändert.

Der Schmerzensgeldzahlungsanspruch ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

Es wird festgestellt, daß die Beklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner der Klägerin sämtliche materiellen und weiteren immateriellen Schärfen zu ersetzen, die ihr durch die postnatale Fehlbehandlung am 15. und 16. August 1984 entstehen werden, die materiellen Schäden jedoch nur vorbehaltlich eines Anspruchübergangs auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte.

Zur Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldanspruchs und über die Kosten des Rechtsstreits einschließlich derjenigen des Berufungsverfahrens wird der Rechtsstreit an das Landgericht zurückverwiesen.

Tatbestand:

Die 15jährige Klägerin macht gegen die Beklagten Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche wegen ihrer postnatalen Behandlung geltend.

Die Klägerin wurde am 15.08.1984 in der 33. Schwangerschaftswoche durch Kaiserschnitt geboren. Sie wog bei ihrer Geburt 1.340 g, war 37 cm groß und die Apgarwerte betrugen 2-8-9. Sie wurde noch im OP beatmet und wegen ihres Zustandes in die pädiatrische Abteilung der Beklagten zu 1), deren Chefarzt der Beklagte zu 2) ist, verlegt. Dort wurde gegen 09.25 Uhr ein Nabelvenenkatheter gelegt, in welchem gegen 13.55 Uhr "Blut gestanden hat". Über den Nabelvenenkatheter wurden der Klägerin Flüssigkeit und Glukose zugeführt. Röntgen- oder Sonographieaufnahmen zur Kontrolle der Lage der Nabelvenenkatheterspitze sind nicht durchgeführt worden. In der Nacht vom 15. auf den 16. August 1984 wurde eine undichte Stelle am Katheter mit einem Pflaster zugeklebt. Am Morgen des 16.08.1984 wurde die undichte Stelle mit einem Butterfly-System "geflickt".

Am 17.03.1993 erbrach die Klägerin geronnenes Blut und wurde von einem Kinderkrankenhaus in in die Kinderklinik der Medizinischen Hochschule verlegt. Dort stellte Prof. Dr. der in diesem Rechtsstreit als Privatgutachter für die Klägerin tätig geworden ist, fest, daß die Klägerin an einer schweren portalen Hypertension mit Osophagusblutung (blutende Varizen in der Speiseröhre) leidet. Die blutenden Ösophagusvarizen wurden durch insgesamt drei Eingriffe sklerosiert (verödet), und zwar im März, Mai und Juli 1993. Bei einer Kontrollendoskopie am 01.02.1994 bestand keine Blutungsgefährdung mehr. Zu weiteren Blutungsereignissen ist es bisher nicht gekommen.

Die Klägerin hat die Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes - Vorstellung: 150.000,00 DM -, einer Schmerzensgeldrente - Vorstellung: 500,00 DM monatlich - und Feststellung der Verpflichtung zum Ersatz materieller und immaterieller Schäden in Anspruch genommen. Sie hat behauptet, die festgestellte - Pfortaderthrombose sei durch die fehlerhafte Anlage des Nabelvenenkatheters verursacht worden. Die Lage der Katheterspitze hätte röntgenologisch oder sonographisch abgeklärt werden müssen. Infolge ihrer Erkrankung müsse sie sich einmal jährlich in stationäre Behandlung begeben, um unter Vollnarkose eine Ösophaguskopie vornehmen zu lassen. Ihre körperliche Entwicklung sei retadiert und es bestehe eine allgemeine körperliche Schwäche mit geringer Belastbarkeit. Aufgrund der Pfortaderthrombose leide sie unter einer erheblich vergrößerten und gestauten Milz, was zu Hautblutungen bei großer Hitze führe und die erhöhte Gefahr eines Milzrisses zur Folge habe. Die Beklagten haben behauptet, den Nabelvenenkatheter regelrecht gelegt zu haben. Die durchgeführte klinische Kontrolle sei ausreichend gewesen, röntgenologisch oder sonographisch habe die Position der Katheterspitze nicht überprüft werden müssen. Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Parteivorbringens und der in erster Instanz gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen.

Das Landgericht hat nach Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens die Klage abgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt; es sei davon auszugehen, daß der Nabelvenenkatheter nicht falsch angelegt worden sei, weil keine der mechanisch bedingten Komplikationen hätte festgestellt werden können.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit der Berufung und beantragt,

1.

die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an sie zu Händen ihrer gesetzlichen Vertreter ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe sie in das Ermessen des Senats stellt, nebst 4 % Zinsen seit dem 14.11.1996 zu zahlen;

2.

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie, bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres zu Händen ihrer gesetzlichen Vertreter, eine monatliche Schmerzensgeldrente, deren Höhe ebenfalls in das Ermessen des Senats gestellt wird, beginnend ab Rechtshängigkeit jeweils zum Monatsersten zu zahlen;

3.

festzustellen, daß die Beklagten verpflichtet sind, ihr als Gesamtschuldner sämtliche materiellen und weiteren immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr aufgrund der postnatalen Fehlbehandlung am 15. und 16.08.1984 entstehen werden, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen sind.

Die Beklagten beantragen,

1.

die gegnerische Berufung zurückzuweisen;

2.

in den der Revision unterliegenden Sachen ihnen nachzulassen, Sicherheit gem. §§ 709, 711, 720 a Abs. 3 ZPO durch selbstschuldnerische Bankbürgschaft einer in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Großbank oder eines öffentlich-rechtlichen Kreditinstituts zu erbringen.

Die Parteien wiederholen, vertiefen und ergänzen ihren erstinstanzlichen Vortrag. Wegen der Einzelheiten ihres Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die in dieser Instanz gewechselten Schriftsätze mit ihren Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat die Mutter der Klägerin, den Privatsachverständigen Prof. Dr. am und den Beklagten zu 2) angehört sowie den Sachverständigen Prof. Dr. sein schriftliches Gutachten erläutern lassen. Insoweit wird auf den Vermerk des Berichterstatters zum Senatstermin vom 06. Dezember 1999 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat in dem zuerkannten Umfang Erfolg.

I.

Die Klägerin hat gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche aus den §§ 847, 823, 831, 30, 31 BGB und zusätzlich gegenüber der Beklagten zu 1) - soweit die Feststellung materieller Schäden geltend gemacht wird - aus einer schuldhaften Verletzung von Sorgfaltspflichten des Behandlungsvertrages.

Es war behandlungsfehlerhaft, daß weder der Beklagte zu 2), der persönlich die postnatale Betreuung der Klägerin übernommen hatte, noch andere behandelnde Ärzte der Beklagten zu 1) die Lage des Nabelvenenkatheters am 15./16.08.1984 überprüft haben.

Eine röntgenologische oder sonographische Überprüfung des am 15.08.1984 um 09.25 Uhr gelegten Nabelvenenkatheter war zwingend geboten. In der Beurteilung des Behandlungsgeschehens macht sich der Senat die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr., der sein Gutachten überzeugend erläutert hat, zu eigen. Danach hätte die bildgebende Lageüberprüfung zwingend erfolgen müssen, um mechanisch bedingte (monokausale) Komplikationen wie Gefäßperforation, Fehlposition im linken Herzvorhof, Herzrhythmusstörungen, Herzstillstand, Luftembolie, Hydrothorax, Lebernekrosen und Leberblutungen zu vermeiden. Ferner sollen, wie der Sachverständige im Senatstermin dargelegt hat, durch die Lagekontrolle auch komplexe und spezifische Folgen einer Falschposition, wie das Entstehen einer Pfortaderthrombose, vermieden werden. Diese Lagekontrolle hätte im Jahr 1984 entweder durch Röntgen oder Sonographie erfolgen müssen. Allein die klinischen Kontrollen hätten nicht ausgereicht. Auch dem erfahrenen Kliniker könnte die Fehlposition sonst verborgen bleiben. Das komplikationslose Legen des Katheters lasse keinen sicheren Rückschluß auf die richtige Lage zu. Auch der Umstand, daß über den Nabelvenenkatheter Blut entnommen werden konnte, beweise nicht die richtige Lage, weil auch bei einem fehlplatzierten Nabelvenenkatheter Blut gewonnen werden könne.

Es war auch zwingend geboten, die Lage des Nabelvenenkatheters am 15.08.1984 gegen 13.55 Uhr entweder röntgenologisch/sonographisch zu überprüfen oder den Nabelvenenkatheter zu entfernen. Allein diese Alternativen stünden, so der Sachverständige, zur Verfügung, um den Umstand "im Nabelvenenkatheter steht Blut" abzuklären. Unstreitig hat diese Abklärung nicht stattgefunden.

II.

Beide Behandlungsfehler wertet der Senat als grob. Die Annahme eines groben Behandlungsfehlers setzt die Feststellung voraus, daß der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und eben Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (BGHZ 138, 1 = NJW 1998, 1780 = VersR 1998, 457, 458 m.w.N.; Senaturteil vom 24.03.1999 - 3 U 44/98 -). Bei der Beurteilung, ob ein Behandlungsfehler als grob einzuordnen ist, handelt es sich um eine durch den Senat vorzunehmende juristische Wertung. Diese wertende Entscheidung hat auf tatsächlichen Anhaltspunkten zu beruhen, die sich in der Regel aus der medizinischen Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen ergeben (BGH a.a.O.).

Nach diesen Maßstäben liegt in dem Unterlassen der zwingend gebotenen Lagekontrolle der Nabelvenenkatheterspitze ein schweres Versäumnis, das aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich ist. Der Sachverständige hat das Unterlassen der Befunderhebung als einen Grundfehler bezeichnet, mit dem gegen ärztliche Grundlagen verstoßen worden sei. Ein solcher Verstoß würde bei ihm ein Kopfschütteln hervorrufen und zu einem deutlichen Hinweis für den Fall führen, daß ihm dieser Arzt, der so gehandelt hätte, unterstellt sein würde.

Die Beweiserleichterung erstreckt sich hier auch darauf, daß die später aufgetretene Pfortaderthrombose auf einer Fehlpositionierung des Nabelvenenkatheters zurückzuführen ist. Denn mit dem Auftreten der Pfortaderthrombose hat sich gerade ein spezifisches Risiko des falsch positionierten Nabelvenenkatheters verwirklicht, so der Sachverständige im Senatstermin, dessen Nichtbeachtung den Fehler auch als grob erscheinen läßt.

Wenn der Nabelvenenkatheter regelrecht überprüft worden wäre, dann hätte die mögliche Fehlposition bemerkt und die Pfortaderthrombose vermieden werden können. Gegenteiliges haben die Beklagten nicht bewiesen. Die Beweislast tragen sie.

Das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers führt grundsätzlich zur Umkehr der Beweislast. Nur ausnahmsweise kann auch bei Annahme eines groben Behandlungsfehlers eine Beweislastumkehr ausgeschlossen sein, wenn es gänzlich unwahrscheinlich ist, daß der Fehler zum Schadenseintritt beigetragen hat (BGH NJW 1995, 1612). Beweiserleichterungen bis zur Umkehr der Beweislast sind erst dann ausgeschlossen, wenn ein jeglicher Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (BGH NJW 1997, 796 = VersR 1997, 362).

Nach den Ausführungen des Sachverständigen ist es jedenfalls nicht äußerst unwahrscheinlich, daß eine Fehlposition des Nabelvenenkatheters die Pfortaderthrombose herbeigeführt hat. Vielmehr sei der Zeitraum zwischen dem Anlegen des Nabelvenenkatheters und dem Auftreten der Pfortaderthrombose für den Ursachenzusammenhang geradezu charakteristisch. Eine Abgrenzung dahin, inwieweit eine fehlerhafte Position des Nabelvenenkatheters den Umfang der Pfortaderthrombose beeinflußt hat, ist, so der Sachverständige, nicht möglich.

Daran, daß sich tatsächlich eine Pfortaderthrombose entwickelt und verwirklicht hat, hat der Senat keine Zweifel. Der Sachverständige hat die von dem Beklagten zu 2) für möglich gehaltene Alternative einer Milzadervenenthrombose überzeugend mit der Begründung ausgeschlossen, daß es dann zu einer Verkleinerung der Milz hätte kommen müssen. Das Gegenteil aber sei hier der Fall.

III.

Das Feststellungsbegehren der Klägerin ist aufgrund der umfassenden Haftung der Beklagten sowohl wegen der materiellen als auch wegen der immateriellen Schäden begründet, die nicht von dem Schmerzensgeldzahlungsanspruch erfaßt werden.

IV.

Bezüglich der Höhe des geltend gemachten Schmerzensgeldzahlungsanspruchs war die nicht entscheidungsreife Sache gem. § 538 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO an das Landgericht zurückzuverweisen, das die nach Grund und Höhe streitigen Ansprüche der Klägerin als unbegründet abgewiesen hat. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß der Parteivertreter der Klägerin im Senatstermin sein Einverständnis zur Kapitalisierung der Schmerzensgeldrente erklärt hat. Es könnte deshalb bei dem Grundsatz verbleiben, daß gem. § 847 BGB allein ein Kapitalbetrag als Schmerzensgeld zuzusprechen ist (vgl. Urteil des Senats vom 27.01.1999 - 3 U 26/98 = NJW 2000, 1801,1802 m.w.N.).

Eine eigene Sachentscheidung i.S.v. § 540 ZPO hielt der Senat nicht für sachdienlich, um die Wahrnehmung der Sachaufklärungsmöglichkeiten in zwei Instanzen nicht zu umgehen.

V.

Das Urteil beschwert die Beklagten mit mehr als 60.000,00 DM.

Ende der Entscheidung

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