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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 05.06.2008
Aktenzeichen: 3 Ws 220/08
Rechtsgebiete: StPO
Vorschriften:
StPO § 112 | |
StPO § 117 |
Tenor:
Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten als unbegründet verworfen.
Gründe:
I.
Der Angeklagte befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Landgerichts Bielefeld vom 15.05.2008 (Bl. 573 d.A.), verkündet am gleichen Tage (Bl. 577 b d.A.), seit dem selben Tage in Untersuchungshaft. Am gleichen Tage wurde er von der Strafkammer wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 12 Fällen, wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 2 Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs einer Jugendlichen in 11 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Jahren verurteilt (Bl. 573 d.A.). Gegen das Urteil hat der Angeklagte am 20. Mai 2008 Revision eingelegt. Wegen der Einzelheiten der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten wird auf den Haftbefehl verwiesen, in dem diese näher ausgeführt sind. Das Landgericht hat den Haftbefehl auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt.
Gegen den Haftbefehl hat der Angeklagte am 19. Mai 2008 Beschwerde eingelegt. In der Begründung wendet er sich gegen die Annahme des Haftgrundes der Fluchtgefahr. Mit Beschluss vom 21.05.2008 hat das Landgericht der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, in der Sache aber nicht begründet.
1.
Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht den dringenden Tatverdacht bezüglich der oben genannten Taten bejaht.
Die Beurteilung des dringenden Tatverdacht, die das erkennende Gericht nach Durchführung einer Hauptverhandlung und erstinstanzlichen Aburteilung der Sache vornimmt, kann im Haftbeschwerdeverfahren durch das Beschwerdegericht nur in eingeschränktem Umfang überprüft werden. Ist der Angeklagte in erster Instanz verurteilt worden, so belegt dies i.d.R. den dringenden Tatverdacht (BGH NStZ 2004, 276) oder ist zumindest ein starkes Indiz für sein Vorliegen (Hilger in KK-StPO, 26. Aufl. § 112 Rdn. 20). Wie auch bei der Überprüfung eines Haftbefehls während laufender Hauptverhandlung ist allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet, in der Lage, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand noch fortbesteht oder dies nicht der Fall ist. Das Beschwerdegericht hat dagegen keine eigenen unmittelbaren Erkenntnisse über den Verlauf der Beweisaufnahme, so dass der Prüfungsmaßstab deshalb erheblich eingeschränkt ist (vgl. Senat, Beschluss vom 04.12.2007 - 3 Ws 667/07 m.w.N.; Senat, Beschluss vom 15.09.2005, 3 Ws 403/05; BGH NStZ 2004, 276). Nach Urteilserlass kann indes - anders als in laufender Hauptverhandlung - eine zumindest grobe Beweiswürdigung im Haftbefehl verlangt werden, denn zu diesem Zeitpunkt besteht nicht mehr die Gefahr, dass durch eine verfrühte Würdigung erhobener Beweise vor vollständiger Beendigung der Hauptverhandlung Ablehnungsgesuche "provoziert" werden. Die Würdigung braucht allerdings noch nicht den Anforderungen an die Beweiswürdigung in einem tatrichterlichen Urteil zu genügen. Dies wird in bei schwierigeren Sachen i.d.R. kaum möglich sein. Das zeigt sich schon daran, dass das Gesetz selbst hierfür längere Urteilsabsetzungsfristen vorsieht (vgl. § 275 Abs. 1 StPO). Liegt das erstinstanzliche Urteil bereits (schriftlich) vor, so ist zu prüfen, ob es auf einer vertretbaren Wertung der zur Zeit für und gegen den dringenden Tatverdacht sprechenden Umstände beruht (OLG Brandenburg, Beschl. v. 31.05.2000 - 2 Ws 152/00 - juris).
Im vorliegenden Fall liegt das schriftliche Urteil noch nicht vor. Die Strafkammer hat im Haftbefehl allerdings eine Kurzwürdigung der erhobenen Beweise vorgenommen. Darin heißt es wörtlich: "Der Täterschaft des Angeklagten ergibt sich insbesondere angesichts der Bewertung der Kammer unter Berücksichtigung der Aussageentstehung sowie der Homogenität, Originalität und atmosphärischen Dichte der Darstellungen als glaubhaft einzuschätzenden Angaben der Zeugin Q. Dieser Überzeugung stehen die Bewertungen der aussagepsychologischen Sachverständigen Frau Dr. P nicht entgegen, da diese teilweise von unzutreffenden Anknüpfungstatsachen ausgegangen ist, im Hinblick auf das vorliegende Verfahren methodisch nicht durchgehend zutreffend vorgegangen ist, in ihrem Gutachten überspannte Anforderungen an den notwendigen Detaillierungsgrad und die erforderliche Konstanz bei Vorliegen einer besonders komplexen Aussage über einen mehrere Jahre umfassenden Tatzeitraum und eine kaum überschaubare Vielzahl sexueller Übergriffe gestellt hat und in ihrem Gutachten auch Widersprüchlichkeiten hat erkennen lassen."
Diesen -im Hinblick auf die Formulierung - schwer verständlichen Ausführungen der Strafkammer sowie dem Gesamtzusammenhang des Haftbefehls entnimmt der Senat noch mit hinreichender Sicherheit, dass die genannte Zeugin den Angeklagten wegen der im Haftbefehl genannten Taten beschuldigt hat, dass die Strafkammer ihr im Hinblick auf Aussageentstehung, Homogenität, Originalität und atmosphärische Dichte glaubt und die Glaubhaftigkeit auch nicht durch entgegenstehende Angaben der aussagepsychologischen Sachverständigen erschüttert sieht.
Die so verstandene, von der Strafkammer vorgenommene Wertung ist nicht unvertretbar und reicht noch gerade aus, um den Senat hinreichend in die Lage zu versetzen, den Haftbefehl zu überprüfen. Aus den beigefügten Ermittlungsakten ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Strafkammer wesentliche entlastende Umstände außer Acht gelassen hat. Die Geschädigte hatte bei ihrer ersten Vernehmung durch die Polizei im September 2003 Andeutungen über sexuell geprägte Vorfälle mit dem Angeklagten gemacht. Sie hat diese allerdings - offenbar aus Scham - nicht näher präzisiert, so dass das Verfahren zunächst eingestellt wurde. Bei einer späteren Vernehmung hat sie dann allerdings umfänglich über sexuelle Übergriffe des Angeklagten ausgesagt. In dem schriftlichen aussagepsychologischen Gutachten der Sachverständigen ist diese auch zunächst von der Erlebnisbezogenheit der Angaben der Geschädigten ausgegangen, in einem psychiatrischen Zusatzgutachten kam der Sachverständige Dr. T zur Bejahung der Zeugentüchtigkeit der Geschädigten trotz bei ihr vorliegender Symptome für eine posttraumatische Belastungsstörung und ein Borderline-Syndrom. Schließlich führt der Beschwerdeführer in der Beschwerdebegründung selbst aus, dass er in den ersten Hauptverhandlungstagen eine teilgeständige Einlassung abgegeben habe.
2.
Zu Recht bejaht die Strafkammer den Haftgrund der Fluchtgefahr. Diese liegt vor, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, der Täter werde sich - zumindest für eine gewisse Zeit - dem Verfahren entziehen (vgl. Hilger in KK-StPO 26. Aufl. § 112 Rdn. 32 m.w.N.). Bei einer besonders hohen Straferwartung - wie hier - wird eine Fluchtgefahr eher anzunehmen sein, als bei einer geringeren. Erforderlich ist aber auch hier die Abwägung aller Umstände (vgl. OLG Hamm Beschl. v. 30.04.2008 - 2 Ws 121/08 = BeckRS 2008,09239; Meyer-Goßner, StPO 50. Aufl. § 112 Rdn. 25 jew. m.w.N.). Die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren schafft bei dem Angeklagten einen sehr hohen Fluchtanreiz. Verfahrenshindernisse, die das Urteil im Revisionsverfahren gefährden könnten, sind nicht ersichtlich. Die im Haftbefehl enthaltenen Taten konnten den Anklagevorwürfen aus den Anklagen in 66 Js 112/04 StA Bielefeld und der hinzuverbundenen Sache 66 Js 184/08 zugeordnet werden. Beide Anklagen sind wirksam. Die Sache 66 Js 184/08 wurde von der Strafkammer mit Beschluss vom 09.04.2008 zur führenden Sache 66 Js 112/04 hinzuverbunden und eröffnet. Die Anklage im führenden Verfahren ist von der Strafkammer mit Beschluss vom 01.02.2008 zur Hauptverhandlung zugelassen und das Verfahren eröffnet worden.
Das Protokoll der Hauptverhandlung war zum Zeitpunkt der Senatsberatung und Entscheidung noch nicht fertiggestellt (§§ 274 Abs. 4, 271 StPO), so dass der Senat an einer Überprüfung des Vorliegens etwaiger das Urteil im Revisionsverfahren gefährdender Verfahrensfehler gehindert war. Dies ist jedoch unschädlich, da solche letztendlich nur dann zur Aufhebung des Urteils führen können, wenn sie erfolgreich mit einer entsprechenden Verfahrensrüge gerügt werden (vgl. § 344 Abs. 2 StPO). Dann kann der Senat im Haftbeschwerdeverfahren nicht gehalten sein, solche Fehler zu überprüfen, obwohl er nicht weiß, ob diese überhaupt und falls ja in der gebotenen Form zur Überprüfung des Revisionsgerichts gestellt werden.
Der Angeklagte ist darüber hinaus Berufskraftfahrer mit regelmäßigen Fahrten in das benachbarte Ausland. Es kommt nicht darauf an, ob der Angeklagte, wie die Strafkammer unterstellt, Kontakte ins Ausland hat oder nicht (das wird vom Beschwerdeführer bestritten). Es wird ihm jedenfalls leichter fallen als anderen, weniger auslandserfahrenen Personen, sich ins Ausland abzusetzen und dort zu Recht zu finden.
Die von dem Beschwerdeführer vorgetragenen Umstände, dass sich das Verfahren schon sehr lange hinzieht und sich auch im Verlaufe der Hauptverhandlung die Anzeichen für eine Verurteilung verdichtet haben, er aber dennoch keine Fluchtvorbereitungen getroffen oder gar die Flucht ergriffen hatte, vermögen die für die Fluchtgefahr sprechenden Umstände nicht hinreichend zu entkräften. Bis zum Urteilsspruch konnte der Angeklagte - trotz entgegenstehender Andeutungen der Strafkammer - immer noch hoffen, dass die Kammer aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen Dr. P der Geschädigten letztendlich keinen Glauben schenken werde. Diese Hoffnung hat sich mit dem Urteilsspruch erledigt. Eine Hoffnung auf den für den Angeklagten günstigen Ausgang eines Revisionsverfahrens ist - angesichts der bekanntermaßen geringen Erfolgsquote dieser Verfahren - gering. Auch steht der Angeklagte bei Rechtskraft der Entscheidung in der Gefahr, dass seine Familie - die bis dahin zu ihm gehalten hat - sich von ihm abwenden wird und er auch seines Arbeitsplatzes verlustig geht, so dass die Bindungen im bisherigen Umfeld entfallen.
3.
Der Vollzug der Untersuchungshaft ist auch nicht unverhältnismäßig (§ 112 Abs. 1 S. 1 StPO). Mildere, ebenso geeignete Mittel reichen nicht aus. Insbesondere scheidet angesichts der prekären finanziellen Verhältnisse des Angeklagten, die mit der Beschwerde vorgetragen werden, die Auferlegung einer Kaution aus. Eine bloße Meldeauflage oder Ablieferung von Ausweispapieren erscheint ebenfalls nicht gleich geeignet, die Fluchtgefahr wesentlich zu verringern. Der Vollzug der Untersuchungshaft steht auch nicht außer Verhältnis zu den Taten, derer der Angeklagte verdächtigt wird.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
Ende der Entscheidung
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