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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 08.12.2006
Aktenzeichen: 3 Ws 638/06
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112
Zur Fluchtgefahr, wenn der Angeklagte während der gesamten Dauer des Verfahrens von nahezu zweieinhalb Jahren keinen Versuch unternommen hat, sich dem Verfahren zu entziehen.
Beschluss

Strafsache

gegen N.S.

wegen Vergewaltigung

Auf die Beschwerde des Angeklagten vom 24.11.2006 gegen den Haftbefehl der XIII. kleinen Strafkammer des Landgerichts Essen vom 12.10.2006 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 08. 12. 2006 durch den Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung und auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Die Haftbefehle des Landgerichts Essen vom 12.10.2006 und vom 13.10.2006 ( 33 Ns 23/06 LG Essen) werden aufgehoben.

Die Kosten der Beschwerde einschließlich der notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.

Gründe:

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Antragsschrift vom 08.12.2006 zu der Haftbeschwerde wie folgt Stellung genommen:

"Das Amtsgericht Essen hat den Angeklagten am 21.10.2005 wegen einer am 19.05.2004 begangenen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt (Bl. 205 f. Bd. I d. A.). Mit am 25.10.2005 bei dem Amtsgericht Essen eingegangenen Schriftsatz vom 21.10.2005 hat die Staatsanwaltschaft Essen gegen das Urteil Berufung zu Ungunsten des Angeklagten eingelegt (Bl. 202 Bd. I d. A.) und diese in der Berufungsbegründung vom 29.12.2005 auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt (Bl. 228 Bd. I d. A.). Der Angeklagte hat mit am 26.10.2005 bei dem Amtsgericht Essen eingegangenen Schriftsatz seines Verteidigers vom 24.10.2005 gegen das Urteil des Amtsgerichts Essen "Rechtsmittel" eingelegt (Bl. 203 Bd. I d. A.). Am 12.10.2006 hat das Landgericht Essen den Angeklagten wegen Vergewaltigung unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Essen vom 08.06.2005 - 38 Ds 80 Js 1827/04 - 655/04 - und unter Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt (Bl. 314 Bd I d. A., 326 f. Bd. II d. A.) und Haftbefehl gegen ihn erlassen (Bl. 318 Bd. I d. A.). Den Haftbefehl hat das Landgericht Essen auf den nicht näher begründeten Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt. Mit am 17.10.2006 bei dem Landgericht Essen eingegangenen Schriftsatz seines Verteidigers vom 16.10.2006 hat der Angeklagte gegen das Urteil Revision eingelegt (Bl. 325 Bd. I d. A.). Mit am 27.11.2006 (Bl. 422 Bd. II d. A.) bei dem Landgericht Essen eingegangenen Schriftsatz seines Verteidigers vom 24.11.2006 hat der Angeklagte gegen den Haftbefehl des Landgerichts Essen vom 12.10.2006 Beschwerde eingelegt (Bl. 422 d. A.). Das Landgericht Essen hat der Beschwerde des Angeklagten mit Beschluss vom 05.12.2006 nicht abgeholfen (Bl. 428 Bd. II d. A.).

II.

Die (Haft-) Beschwerde ist gem. § 304 StPO zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Ein Haftgrund nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht nicht. Zwar geht von einer verhängten Freiheitsstrafe grundsätzlich Fluchtgefahr aus. Allerdings vermag eine hohe Straferweiterung allein die Fluchtgefahr nicht zu begründen. Vielmehr ist die verhängte Freiheitsstrafe in der Regel nur Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Angeklagte werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten. Dabei ist die Höhe der Straferwartung insofern noch zusätzlich von Bedeutung, als die zu berücksichtigenden Gesamtumstände umso mehr an Gewicht verlieren, je höher die verhängte Strafe ist. Entscheidend ist jedoch, ob, wie sich aus dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ergibt, "bestimmte Tatsachen" vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, der Angeklagte werde dem in der - hohen - Straferwartung liegenden Fluchtreiz nachgeben und fliehen (OLG Hamm, Senatsbeschluss vom 27.11.1998 - 2 Ws 545/98 OLG Hamm - m. w. N.).

Danach kann vorliegend eine "Fluchtgefahr" im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht angenommen werden. Zwar stellt die von der Strafkammer verhängte Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten bereits eine "hohe" Strafe dar. Allerdings überwiegen vorliegend die sonstigen den Fluchtanreiz mildernden Umstände derart, dass der aus der Straferwartung folgende Fluchtanreiz kaum noch ins Gewicht fällt.

Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass der Angeklagte während der gesamten Dauer des Verfahrens von nunmehr nahezu zweieinhalb Jahren keinen Versuch unternommen hat, sich dem Verfahren zu entziehen. Da ihm die belastenden Zeugenaussagen der Geschädigten bekannt waren, mußte er mit einer Bestrafung rechnen. Dennoch hat er zunächst der Ladung zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Essen im September und Oktober 2005 Folge geleistet. Spätestens seitdem die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft Essen dort am 21.10.2005 eine Freiheitsstrafe von vier Jahren beantragt hat, war dem Angeklagten bewusst, welche Strafe tatsächlich für ihn im Raume steht. Dennoch hat er sich auch der Berufungshauptverhandlung vor dem Landgericht Essen im September und Oktober 2006 gestellt in Kenntnis der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft Essen mit der von ihr eingelegten Berufung seine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe in der beantragten Höhe erstrebt. Bereits dieses Verhalten des Angeklagten legt nahe, dass er dem in dem konkreten Strafmaß liegenden Fluchtanreiz nicht nachgeben und fliehen wird.

Weiterhin sprechen auch die persönlichen Lebensumstände des Angeklagten gegen Spätaussiedler aus Kasachstan nach Deutschland und besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Seine Eltern sind noch immer in Deutschland wohnhaft. Fortbestehende Kontakte des Angeklagten nach Kasachstan sind nicht ersichtlich. Der Angeklagte lebt seit mehreren Jahren mit seiner Verlobten, einem gemeinsamen Kind sowie einem weiteren Kind seiner Verlobten aus einer früheren Beziehung zusammen. Ihre Beziehung hat dem Bekanntwerden der Tat und der erstinstanzlichen Verurteilung des Angeklagten Stand gehalten. Ausweislich der bei der Akte befindlichen Briefe mit denen er Sonderbesuchserlaubnisse für seine Verlobte und die Kinder beantragt hat, besteht auch derzeit noch regelmäßiger Kontakt zu seiner Familie. Damit ist insgesamt von fluchthindernden familiären Bindungen auszugehen. Letztlich ist auch zu berücksichtigen, dass dem seit langem arbeitslosen Angeklagten kaum die finanziellen Mittel zur Verfügung stehen dürften, um dauerhaft unterzutauchen oder sich ins Ausland abzusetzen.

Nach allem ist der Haftbefehl des Landgerichts Essen vom 12.10.2006 aufzuheben."

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Sachprüfung an und macht sie zur Grundlage seiner Entscheidung. Da sich in der Akte auch ein von der Vorsitzenden der Strafkammer unterzeichneter und auf den 13.10.2006 datierter weiterer Haftbefehl teilweise anderslautenden Inhalts gegen den Angeklagten befindet, hat der Senat die Aufhebung zur Klarstellung auch auf diesen Haftbefehl erstreckt.

Die Kostenentscheidung fogt aus § 473 Abs. 3 StPO analog.

Ende der Entscheidung

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