Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 19.02.2002
Aktenzeichen: 4 BL 8/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 121
Größeren Bearbeitungsengpässen muss die Staatsanwaltschaft zum Zwecke der notwendigen Verfahrensbeschleunigung mit entsprechenden organisatorischen Maßnahmen zur Entlastung des Dezernenten begegnen. Die Schwere des Tatvorwurfs ist bei der Beantwortung der Frage, ob ein "wichtiger Grund" im Sinn des § 121 StPO vorliegt, ohne Belang.
Beschluss Strafsache gegen 1. F.R. und 2. M.K. und 3. D.B. wegen Mordes u.a., hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht.

Auf die Vorlage der Akten (Doppelakten 1) zur Entscheidung nach §§ 121,122 StPO

hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 19. Februar 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, der Verteidiger und der Angeklagten beschlossen:

Tenor:

Die gegen die drei Angeklagten ergangenen Haftbefehle des Amtsgerichts Ahlen vom 26. Juli 2001 in der Fassung des Beschlusses der 2. Strafkammer -Schwurgericht - des Landgerichts Münster vom 4. Januar 2002 werden aufgehoben.

Gründe:

Den Angeklagten R. und K., die sich seit dem 26. Juli 2001 in Untersuchungshaft befinden, wird mit Haftbefehlen des Amtsgerichts Ahlen (6 Gs 280 u. 281101) von demselben Tage in der Fassung des Beschlusses der 2. Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Münster vom 4. Januar 2002 (2 ks 30 Js 230101 - 13101) zur Last gelegt, am 20. Juli 2001 den am 6. November 1965 geborenen M.S. gemeinschaftlich und mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt und ihn zur Verdeckung einer Straftat getötet zu haben. Dem Angeklagten D.B., der sich ebenfalls seit dem 26. Juli 2001 in Untersuchungshaft befindet, wird mit Haftbefehl des Amtsgerichts Ahlen (6 Qs 282101) von demselben Tage in der Fassung des vorgenannten Beschlusses der 2. Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Münster zur Last gelegt, zu den den Angeklagten R. und K. angelasteten Straftaten Beihilfe geleistet zu haben.

Im Zuge der nunmehr erforderlich gewordenen oberlandesgerichtlichen Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 StPO waren die Haftanordnungen aufzuheben.

Zwar besteht im Hinblick auf die Anklage der Staatsanwaltschaft Münster, die das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen zutreffend zusammenfasst und die durch Beschluss der 2. Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Münster vom 4. Januar 2002 zur Hauptverhandlung zugelassen worden ist, nach wie vor der dringende Tatverdacht der den Angeklagten zur Last gelegten Straftaten. Ob möglicherweise auch eine andere rechtliche Bewertung des Tatgeschehens in Betracht kommt, bleibt dem Ergebnis der Hauptverhandlung vorbehalten.

Bei allen drei Angeklagten besteht auch jedenfalls der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO. Dieser Haftgrund gilt auch für den Fall der Teilnahme des Angeklagten B. an dem den Angeklagten R. und K. zur Last gelegten Tötungsdelikt. Bei allen Angeklagten ist nicht auszuschließen, dass sie sich ohne Vollzug der Untersuchungshaft dem Verfahren durch Flucht entziehen. Das genügt für eine verfassungskonforme Anwendung des § 112 Abs. 3 StPO (vergl. BVerfGE 19, 342, 350). Die zu erwartenden hohen Freiheitsstrafen begründen für die Angeklagten einen beträchtlichen Fluchtanreiz, dem keine tragfähigen Bindungen gegenüberstehen.

Nach § 121 Abs. 1 StPO darf jedoch, solange kein auf eine Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel erkennendes Urteil ergangen ist, der Vollzug der Untersuchungshaft wegen der dem Haftbefehl zugrundeliegenden Tat(en) über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zugelassen haben und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Es ist die dem Oberlandesgericht von Gesetzes wegen (§ 121 Abs. 2 StPO) übertragene Aufgabe, die vorzulegenden Verfahren an diesen Vorgaben zu messen. Der Senat hat bereits in mehreren früheren Entscheidungen (vgl. z.B. Beschlüsse vom 30.10.1997 in 4 BL 386/97 = 30 Js 1197 StA Münster; vom 30.10.1997 in 4 BL 382/97 30 Js 19197 StA Münster; vom 21.09.2000 in 4 BL 139/00 42 Js 395/99 StA Münster) auf die Auswirkungen dieser gesetzlichen Vorschrift auf das Ermittlungs- und Erkenntnisverfahren in Haftsachen und die insoweit ergangenen auch verfassungsrechtlichen Entscheidungen hingewiesen. Zu dem Sinngehalt und der Bedeutung1 die dieser Vorschrift von Verfassungs wegen zukommen, hat das Bundesverfassungsgericht in einer inzwischen bereits großen Zahl von Entscheidungen eine gefestigte Rechtsprechung entwickelt. Nur beispielhaft sei hierzu aus dem Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Juli 1993 (NJW 1994,2081) zitiert. Dort heißt es unter anderem:

"die in Art. 2112 GG garantierte Freiheit der Person ist Basis der allgemeinen Rechtsstellung und Entfaltungsmöglichkeit des Bürgers; ihr kommt ein hoher Rang unter den Grundrechten zu. Daher darf die Einschließung eines Beschuldigten in eine Haftanstalt nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn überwiegende Belange, zu denen die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung gehören, dies zwingend gebieten. Ein vertretbarer Ausgleich des Widerstreits dieser für den Rechtsstaat wichtigen Grundsätze lässt sich im Bereich des Rechts der Untersuchungshaft nur erreichen, wenn den Freiheitsbeschränkungen, wie sie vom Standpunkt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege erforderlich sind, ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten als Korrektiv entgegen gehalten wird. Dies bedeutet, dass zwischen beiden Belangen abzuwägen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe Grenzen setzt, und zu bedenken, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößern wird (vgl. BVerfGE 53, 152, 158 f = NJW 1980,1448 m.w.N.).

Dieser verfassungsrechtlichen Lage trägt schon der Gesetzgeber in einer Reihe von Vorschriften der StPO, u.a. in § 121 I StPO, ausdrücklich Rechnung. In dieser Vorschrift begrenzt er den Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat grundsätzlich auf sechs Monate und gestattet Ausnahmen hier- von nur in beschränktem Umfang (vgl. BVerfGE 53,152,159 = NJW 1980,1448). Voraussetzung für den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft ist zunächst, dass die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Diese Ausnahmetatbestände sind, wie aus dem Wortlaut ersichtlich und durch die Entstehungsgeschichte bestätigt wird, eng auszulegen (vgl. BVerfGE 36, 264, 271 = NJVY 1974, 307 m.w.N.).

Im Freiheitsgrundrecht (Art. 2 II 2 GG) ist das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot angesiedelt (vgl. BVerfGE 46,194,195 m.w.N.). Es verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine Entscheidung über den Anklagevorwurf mit der gebotenen Schnelligkeit herbeizuführen (vgl. BVerfGE 20, 45, 50 = NJW 1966,1259)."

Diese Grundsätze werden in der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht in Frage gestellt (vgl. z.B. OLG Brandenburg, StV 2000, 37; OLG Frankfurt, StV 95, 423; OLG Düsseldorf, StV 1990, 503; OLG Hamm, StV 2000, 90, 91).

Diesen Erfordernissen wird die Behandlung der vorliegenden Sache im Ermittlungsverfahren nicht gerecht.

Der Senat sieht in Anbetracht des schon am 21. August 2001 vorliegenden Ergebnisses der kriminalpolizeilichen Ermittlungen, insbesondere auch nach dem Inhalt der weitgehend geständigen Einlassungen der Angeklagten, keine besonderen 3chwierigkeiten oder einen besonderen Umfang der Ermittlungen1 wie es sich auch aus dem Inhalt der daraufhin verfassten Anklageschrift ergibt.

Auch ein anderer wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO liegt nicht vor.

Insbesondere ist das Verfahren nicht durch verfahrensfremde Umstände verzögert worden, denen die Strafverfolgungsbehörde nicht hätte entgegen wirken können (vgl. hierzu auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Auflage § 121 Rdnr. 21 m.w.N.). Vielmehr ist das Verfahren im Bereich der staatsanwaltschaftlichen Bearbeitung nicht in einer dem oben umschriebenen besonderen Beschleunigungsgebot noch entsprechenden Weise gefördert worden. Das ergibt sich daraus, dass die Akten erst etwa zehn Wochen nach Eingang bei der Staatsanwaltschaft mit der Anklageschrift der Schwurgerichtskammer des Landgerichts zugeleitet worden sind. Wie aus den dem Senat vorliegenden Doppelakten ersichtlich ist, sind die im kriminalpolizeilichen Ermittlungsverfahren entstandenen Vorgänge dem Staatsanwalt am 21. August 2001 durch Kurier übergeben worden. Die hiernach erfolgten Verfügungen vom 21., 22., 29., 30. August 2001 und 4. September 2001 erforderten keinen besonderen zeitlichen Aufwand. Die Erarbeitung der Anklageschrift bot gleichfalls für den Kapitalsachbearbeiter keine besonderen Schwierigkeiten. Die ebenso wie die Begleitverfügung zur Anklage mit dem Datum des 5. Oktober 2001 versehene Anklageschrift ist ausweislich des Kanzleivermerks (BI. 869 DA I, Bd. V) am 30. Oktober 2001 gefertigt und anschließend dem Landgericht zugeleitet worden. Nach Eingang der Anklageschrift verfügte der Vorsitzende des Schwurgerichts unter dem 2. November 2001 die Zustellung der Anklageschrift an die Angeklagten und deren Verteidiger (vergl. BI. 869 DA l Bd. V).

Eine Bearbeitungszeit mit einem Zeitaufwand von insgesamt gut zwei Monaten in der Sphäre der Strafverfolgungsbehörde ist für die vorliegende Sache mit dem durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgestalteten und auch von dem beschließenden Senat in ständiger Rechtsprechung angewendeten besonderen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht mehr zu vereinbaren. Das gilt umso mehr, als abzusehen war, dass im gerichtlichen Verfahren noch die mit Zeitaufwand verbundene Einholung von psychiatrischen Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit der drei Angeklagten erforderlich sein würde. Der Senat übersieht nicht die in den Vermerken der Staatsanwaltschaft vom 5. Oktober 2001 und vom 5. Dezember 2001 (BI.866 und 963 DA 1 Bd. V) niedergelegten Hinweise über die anderweitige Belastung des sachbearbeitenden Kapitaldezernenten. Sie rechtfertigen aber - worauf auch die Verteidigung des Angeklagten R. zutreffend hingewiesen hat - keine abweichende rechtliche Beurteilung, denn Bearbeitungsengpässen in einem solchen Ausmaß - abgesehen von ihrer Vorhersehbarkeit - hätte die Staatsanwaltschaft zum Zwecke der hier notwendigen Verfahrensbeschleunigung mit entsprechenden organisatorischen Maßnahmen zur Entlastung des Dezernenten begegnen müssen, um eine den gesetzlichen Vorgaben entsprechende zügige Anklageerhebung sicherzustellen (vgl. z.B. BVerfG, NStZ 1994, 93,93 f; auch u.a. Senatsbeschluss vom 17. Juni 1999 in 4 BL 81/99 = 64 Js 1013198 StA Münster).

Auch wenn den Angeklagten gravierende Taten (gemeinschaftlicher Mord bzw. Beihilfe hierzu) vorgeworfen werden, sie im Falle ihrer Verurteilung mit hohen Freiheitsstrafen zu rechnen haben und somit ein legitimer Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf eine wirksame Strafverfolgung besteht, muss gleichwohl bei einer so erheblichen Verfahrensverzögerung wie vorliegend der Freiheitsanspruch der noch nicht verurteilten Angeklagten im Hinblick auf die Bedeutung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG Vorrang haben. Die Schwere des Tatvorwurfs kann nach dem Willen des Gesetzgebers, wie er im Text der Vorschrift Ausdruck gefunden hat, zu keiner anderen Beurteilung führen. Auch für Kapitaldelikte gelten keine Ausnahmen (vgl. hierzu OLG Koblenz, NStE Nr.19 zu § 121 StPO; OLG Düsseldorf, MDR 1992, 796; OLG Stuttgart, Justiz 1969, 46; OLG Köln, NJW 1973,1009; Löwe-Rosenberg-Hilger, StPO, 25. Auflage, § 121 Rdnr. 6; ständige Senatsrechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom 30. Oktober 1997 in 4 BL 382/97).

Demgemäss waren die Haftanordnungen wegen Fehlens eines wichtigen Grundes im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO ungeachtet der Schwere der Tatvorwürfe von Gesetzes wegen aufzuheben.

Ende der Entscheidung

Zurück