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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 15.01.2008
Aktenzeichen: 4 OBL 154/07
Rechtsgebiete: GVG, StPO, StGB


Vorschriften:

GVG § 29 Abs. 2
StPO § 112 Abs. 2 Nr. 2
StPO § 116
StPO § 121 Abs. 1
StPO § 122 Abs. 3 S. 3
StPO § 209 Abs. 2
StGB § 55
StGB § 21
StGB § 23
StGB § 23 Abs. 2
StGB § 49
StGB § 49 Abs. 1 Nr. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Fortdauer der Untersuchungshaft über 6 Monate hinaus wird angeordnet.

Die Haftprüfung für die nächsten 3 Monate wird dem nach den allgemeinen Vorschriften dafür zuständigen Gericht übertragen.

Gründe:

I.

Dem Angeklagten wird mit Haftbefehl des Amtsgerichts Neumünster vom 27. Juni 2007 (26 Gs 98/07) vorgeworfen, am 14. Dezember 2001 in F gemeinschaftlich handelnd tateinheitlich einen versuchten schweren Raub, eine gefährliche Körperverletzung sowie eine Freiheitsberaubung begangen zu haben.

Mit diesem Vorwurf im wesentlichen identisch ist die vor dem Schöffengericht des Amtsgerichts Warendorf erhobene Anklage der Staatsanwaltschaft Münster vom 15. August 2007, die das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen zutreffend zusammenfasst. Der im Haftbefehl aufgeführte Tatvorwurf der tateinheitlich begangenen Freiheitsberaubung ist wegen eingetretener Verfolgungsverjährung nicht zur Anklage gelangt; zudem hat die Staatsanwaltschaft Münster die Hinzuziehung eines zweiten Richters gem. § 29 Abs. 2 GVG sowie die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens beantragt. Mit der vorgenannten Anklageschrift wird dem Angeklagten zur Last gelegt, am 14. Dezember 2001 gemeinsam mit fünf bereits gesondert verurteilten Mittätern den als Wachmann bei der Firma T angestellten Geschädigten L überfallen zu haben. Er soll den Geschädigten mit einer Waffe zunächst bedroht und bei einem anschließenden Gerangel soll der gesondert verurteilte Sulaiman den Geschädigten mehrfach mit einer Waffe auf den Hinterkopf geschlagen und diesem dadurch zwei blutende Platzwunden zugefügt haben. Der Angeklagte und der Verurteilte T sollen zudem den Geschädigten gefesselt und in den Kofferraum seines Fahrzeugs gesperrt haben. Der Abtransport von inzwischen durch zwei weitere Mittäter auf einen Lkw verladenen achtzehn Paletten mit Handys im Wert von 3,6 Mill. DM wurde durch die Polizei verhindert. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird wegen der Tatvorwürfe im Einzelnen auf den Inhalt der Anklageschrift und des eingangs genannten Haftbefehls Bezug genommen.

Mit Beschluss vom 05. September 2007 hat der Vorsitzende des Schöffengerichts die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens angeordnet und das Verfahren nach Eingang dieses Gutachtens am 01. Oktober 2007 mit Beschluss vom 15. Oktober 2007 dem Landgericht Münster zur Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens gem. § 209 Abs. 2 StPO vorgelegt, da - nach Ansicht des Schöffengerichts - die zu erwartende Strafe im Falle einer Verurteilung mehr als vier Jahre betragen könne, zumal wegen einer Gesamtstrafenbildung die Einbeziehung weiterer Verurteilungen erfolgen müsse. Die 2. Strafkammer des Landgerichts Münster hat mit Beschluss vom 24. Oktober 2007 die Anklage der Staatsanwaltschaft Münster vom 15. August 2007 zur Hauptverhandlung zugelassen, das Hauptverfahren gegen den Angeklagten vor dem Amtsgericht Warendorf - Schöffengericht - eröffnet, die Hinzuziehung eines zweiten Richters beim Amtsgericht verfügt und die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Zur Begründung hat die Kammer u. a. ausgeführt, eine Freiheitsstrafe von mehr als vier Jahren sei nicht zu erwarten, weil im Gegensatz zu den bereits abgeurteilten Mittätern dem Angeklagten eine Freiheitsberaubung nicht mehr zur Last gelegt werden könne und hinsichtlich der bei einer Gesamtstrafenbildung gem. § 55 StGB einzubeziehenden Einzelstrafen von 6, 7 und weiteren 8 Monaten zu berücksichtigen sei, dass diese teilweise verbüßt und daher auch nur noch teilweise gesamtstrafenfähig seien. Das erweiterte Schöffengericht des Amtsgerichts Warendorf hat daraufhin am 11. Dezember 2007 mit der Hauptverhandlung begonnen und nach Durchführung der Beweisaufnahme mit Beschluss vom 17. Dezember 2007 die Sache wegen sachlicher Unzuständigkeit an das Landgericht Münster verwiesen und die Haftfortdauer sowie die Vorlage der Akten an das Oberlandesgericht zur Entscheidung über die Haftfortdauer angeordnet.

II.

Der Senat hält im Einklang mit dem Amtsgericht Warendorf, der Staatsanwaltschaft Münster und der Generalstaatsanwaltschaft Hamm die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich.

Auf Grundlage der in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Warendorf erhobenen Beweise ist der Angeklagte der ihm in der Anklageschrift zur Last gelegten Tat dringend verdächtig; hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Beschluss des Amtsgerichts Warendorf vom 17. Dezember 2007 (Bd. 4, Bl. 833 - 836 d. A.) verwiesen.

Es besteht bei dem Angeklagten der Haftgrund der Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Der Angeklagte ist bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die Schwere der ihm nunmehr zur Last gelegten Tat lässt die Verhängung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe erwarten, die durchaus die Zeitdauer von 4 Jahren übersteigen kann. Der daraus resultierende Fluchtanreiz und der unsichere Aufenthaltstatus des Angeklagten als Asylbewerber, der jederzeit nach Algerien zurückkehren und bei seinen dortigen Familienmitgliedern Aufnahme finden könnte, führen zu der berechtigten Annahme, dass sich der Angeklagte im Fall seiner Freilassung dem weiteren Verfahren und der ihm drohenden Vollstreckung einer empfindlichen Freiheitsstrafe durch Flucht oder Untertauchen entziehen würde.

Mildere Maßnahmen gem. § 116 StPO reichen unter diesen Umständen nicht aus, um der konkreten Fluchtgefahr wirksam begegnen zu können.

Die Fortdauer der Untersuchungshaft steht auch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung und Schwere des Tatvorwurfs und der im Verurteilungsfalle zu erwartenden Verhängung einer empfindlichen Freiheitsstrafe.

Wichtige Gründe im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO haben ein Urteil bislang nicht zugelassen; sie rechtfertigen es aber, die Untersuchungshaft über 6 Monate hinaus aufrechtzuerhalten.

Die Staatsanwaltschaft Münster hat bereits etwa 7 Wochen nach Ergreifung des Angeklagten Anklage erhoben. Nach Zustellung der Anklageschrift hat sodann das Amtsgericht mit Beschluss vom 05. September 2007 die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens angeordnet und die Akten mit Beschluss vom 15. Oktober 2007 - nach Eingang des Sachverständigengutachtens am 01. Oktober 2007 - dem Landgericht Münster gem. § 209 StPO vorgelegt. Durch die Vorlage der Akten gem. § 209 StPO und der Eröffnung des Hauptverfahrens durch das Landgericht Münster vom 24. Oktober 2007 vor dem Schöffengericht des Amtsgerichts Warendorf sowie durch die Verweisung des Verfahrens durch das Amtsgericht Warendorf an das Landgericht Münster am 17. Dezember 2007 ist das Verfahren zwar nicht so zügig geführt worden, als wenn sogleich die Anklage vor dem Landgericht Münster erfolgt worden wäre. Doch handelt es sich hierbei nicht um einen mit erheblichen Zeitverlust verbundenen groben Fehler der Strafverfolgungsorgane, welcher zur Aufhebung des Haftbefehls führen könnte (vgl. hierzu Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl., § 121 Rdnr. 22 - 25). Ein grober Fehler der Justizorgane liegt regelmäßig dann vor, wenn die Anklage aus nicht vertretbaren Erwägungen bei einem unzuständigen Gericht erhoben oder ein vermeidbarer Kompetenzkonflikt zwischen Gerichten zu Verfahrensverzögerungen führt (vgl. KK-Boujong, StPO, 5. Aufl., § 121 Rdnr. 21 m. w. N.). Derartige Unzulänglichkeiten in der Verfahrenführung sind hier indessen nicht ersichtlich. Die Erhebung der Anklage vor dem Schöffengericht beruhte auf vertretbaren Erwägungen der Staatsanwaltschaft Münster, die in der Anklageschrift dargelegt sind. Die Staatsanwaltschaft ist davon ausgegangen, dass wie bei den Mittätern §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 Nr. 3 StGB zur Anwendung kommen werde, was eine Herabsetzung der Mindeststrafe auf 2 Jahre zur Folge hat. Darüber hinaus ist berücksichtigt worden, dass die Tat bereits 6 Jahre zurückliegt, der Angeklagte möglicherweise eine untergeordnete Rolle innerhalb der Tätergruppe gespielt und er mit gravierenden ausländerrechtlichen Konsequenzen zu rechnen habe. Auch das mögliche Vorliegen der Voraussetzung des § 21 StGB ist berücksichtigt worden. Unter Berücksichtigung der gegen die Mittäter bereits verhängten Freiheitsstrafen von 2 Jahren (mit Aussetzung zur Bewährung) und 3 Jahren 6 Monaten erscheint die Prognose der Staatsanwaltschaft Münster, der Angeklagte habe eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als 4 Jahren zu erwarten, als durchaus vertretbar, auch wenn der anderweitig Verfolgte O, der zu den Vorwürfen geschwiegen hat, zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren 3 Monaten verurteilt worden ist. Ebenfalls auf rechtlich vertretbaren Erwägungen beruht die Entscheidung des Amtsgerichts Warendorf - die für sich genommen ohnehin zu keiner wesentlichen Verfahrensverzögerung geführt hat -, das Verfahren zur Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens dem Landgericht Münster gem. § 209 Abs. 2 StPO vorzulegen. Das Amtsgericht hat bei seiner Entscheidung berücksichtigt, dass im Falle der Verurteilung des Angeklagten eine Gesamtstrafenbildung unter Berücksichtigung dreier Einzelstrafen von 6, 7 und 8 Monaten vorzunehmen sein würde. Hinzu kommt, dass nach Eingang des vorläufigen schriftlichen psychiatrischen Gutachtens eine Strafmilderung nach §§ 21, 49 StGB nicht in Betracht kommen würde. Ausgehend von einer Mindeststrafe in Höhe von 2 Jahren Freiheitsstrafe ist die Prognoseentscheidung des Schöffengerichts, es reiche seine Strafgewalt von 4 Jahren Freiheitsstrafe nicht aus, naheliegend, zumal der Angeklagte bis zu diesem Zeitpunkt nicht geständig war.

Demgegenüber erscheint die Entscheidung der 2. Strafkammer des Landgerichts Münster, das Hauptverfahren vor dem Schöffengericht des Amtsgerichts Warendorf zu eröffnen, zwar nicht unbedenklich, aber andererseits auch nicht unvertretbar. Die Kammer hat bei ihrer Entscheidung weder bedacht, dass der Wegfall des Vorwurfs der Freiheitsberaubung keine all zu große Bedeutung im Rahmen der Strafzumessung zukommen dürfte, noch dass eine Strafmilderung nach §§ 21, 49 StGB voraussichtlich nicht in Betracht kommen würde. Zudem ist es für die Festsetzung der Gesamtstrafe nicht von Bedeutung, dass die Einzelstrafen teilweise verbüßt "und daher auch nur noch teilweise gesamtstrafenfähig sind". Die Anrechnung einer teilverbüßten Freiheitsstrafe ist in diesem Falle nicht Aufgabe des erkennenden Gerichts sondern der Strafvollstreckungsbehörde (Fischer, StGB, 55. Aufl., § 55 Rdnr. 39). Darüber hinaus war zweifelhaft, ob die Strafmilderung der §§ 23, 49 StGB dem Angeklagten zugute kommen würde, da es hinsichtlich des schweren Raubes durchaus nahelag eine Vollendung der Tat anzunehmen, da die Täter die Beute bereits verladen und mit dem Lkw das Firmengelände und damit die Gewahrsamssphäre des Firmeninhabers verlassen hatten (vgl. hierzu Fischer, a.a.O., § 242, Rdnr. 19). Gleichwohl erscheint die Prognoseentscheidung der Kammer nicht unvertretbar oder gar willkürlich, da erst die Durchführung der Hauptverhandlung erweisen konnte, ob Strafmilderungen nach §§ 21, 49 StGB und §§ 23, 49 StGB vorzunehmen sein würden. Zudem bestand die Möglichkeit, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung ein Geständnis mit strafmildernder Wirkung ablegen würde. Mithin lag kein vermeidbarer Kompetenzkonflikt vor, da eine Freiheitsstrafe von etwa 4 Jahren in Betracht kam, die nicht genau zu prognostizieren war. Das Schöffengericht ist nach durchgeführter Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gelangt, dass der Angeklagte schuldig im Sinne der Anklage ist. Der Angeklagte war nicht geständig und ist Bewährungsversager. Eine eingeschränkte Schuldfähigkeit mit strafmildernder Wirkung konnte ausgeschlossen werden. Diese Gesichtspunkte führten gemeinsam mit den bereits im Beschluss vom 15. Oktober 2007 aufgeführten Gründen zu der nicht zu beanstandenden Entscheidung des Amtsgerichts Warendorf, dass eine Freiheitsstrafe von mehr als 4 Jahren zu erwarten und damit eine Zuständigkeit des Landgerichts Münster gegeben ist.

Insgesamt belegt der Verfahrensgang, dass gegen die in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgrundsatz beachtet und nicht durch grobe Fehler und Versäumnisse der Strafverfolgungsorgane verletzt worden ist.

Die Fortdauer der Untersuchungshaft war nach alledem anzuordnen.

Die Nebenentscheidung beruht auf § 122 Abs. 3 S. 3 StPO.

Ende der Entscheidung

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