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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 15.12.2005
Aktenzeichen: 4 OBL 74/05
Rechtsgebiete: StPO
Vorschriften:
StPO § 121 |
Entscheidung wurde am 06.03.2006 korrigiert: die Vorschriften wurden geändert, Stichworte und ein amtlicher Leitsatz wurden hinzugefügt
Tenor:
Die gegen den Angeklagten in dieser Sache ergangenen Haftbefehle des Amtsgerichts Münster vom 14. Juni 2005 und vom 24. Mai 2005 werden aufgehoben.
Gründe:
I.
Der Angeklagte wurde am 23. Mai 2005 vorläufig festgenommen und befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Münster - 23 Gs 1991/05 - vom 24. Mai 2005 seit diesem Tage ununterbrochen in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl ist mit Beschluss des Amtsgerichts Münster vom 14. Juni 2005 geändert und dem Angeklagten am 15. Juni 2005 verkündet worden. In dem neu gefassten Haftbefehl wird dem Angeklagten zur Last gelegt, in N in der Zeit von Februar 2001 bis Mai 2005 durch 48 selbstständige Handlungen in mindestens 41 Fällen unerlaubt mit Betäubungsmitteln gehandelt zu haben sowie in mindestens fünf Fällen unerlaubt mit Betäubungsmitteln gehandelt zu haben, wobei er gewerbsmäßig handelte, und einen anderen Menschen rechtswidrig durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung genötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten einen Nachteil zugefügt zu haben, um sich zu Unrecht zu bereichern sowie unerlaubt Betäubungsmittel besessen zu haben. Der Angeklagte soll in der Zeit von Februar 2001 bis zum 29. Oktober 2001 an den gesondert Verfolgten X mindestens 40 Mal je 500 g Haschisch und 100 g Amphetamin verkauft haben. Zudem soll er in der Zeit von Juli 2002 bis Oktober 2003 in zwei Fällen jeweils 500 g Amphetamin an die gesondert Verfolgte U veräußert haben sowie im Zeitraum von Mitte August bis Mitte September 2004 weitere 1.000 g Amphetamin. Darüber hinaus soll er in drei weiteren Fällen Amphetamin an die gesondert Verfolgte U verkauft haben, wobei es sich zwei Mal um 200 g und einmal um 100 g gehandelt haben soll. Ferner soll der Angeklagte im Oktober 2003 dem gesondert Verfolgten X angedroht haben, dessen Freundin während der Inhaftierung etwas anzutun, woraufhin dieser auf Verlangen des Angeklagten einen Schuldschein über 8.000,- € unterschrieben haben soll, mit dem der Angeklagte später einen Vollstreckungstitel gegen X erwirkt haben soll. Eine Haftbeschwerde des Angeklagten gegen diesen Haftbefehl hatte keinen Erfolg, die weitere Beschwerde ist vom Senat mit Beschluss vom 4. August 2005 als unbegründet verworfen worden.
Nach Abschluss der Ermittlungen - die letzte Zeugenvernehmung fand am 27. Juni 2005 statt - und Durchführung des Beschwerdeverfahrens erhob die Staatsanwaltschaft Münster unter dem 10. August 2005 Anklage. Diese Anklage, die das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen zutreffend zusammenfasst, ist identisch mit dem Vorwurf aus dem Haftbefehl vom 14. Juni 2005. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird wegen des Tatvorwurfs im Einzelnen und des dringenden Tatverdachts auf den Inhalt der Anklage und des Haftbefehls Bezug genommen.
Nach Eingang der Akten beim Amtsgericht wurde die Zustellung der Anklage am 12. August 2005 verfügt. Am 22. August 2005 erklärte sich der zuständige Vorsitzende des Jugendschöffengerichts, Richter am Amtsgericht ..., für befangen, woraufhin er durch Beschluss vom selben Tage von der Ausübung des Richteramtes in dieser Sache ausgeschlossen wurde.
Der nunmehr zuständige Vorsitzende des Jugendschöffengerichts des Amtsgerichts Münster eröffnete am 1. September 2005 das Hauptverfahren und ordnete zugleich die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Der Beginn der Hauptverhandlung wurde auf den 30. Januar 2006 anberaumt. In einem Vermerk vom selben Tage legte der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts Folgendes nieder:
Er habe mit dem Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt Q, am 23. und 31.08.2005 telefonisch Rücksprache gehalten und diesem verschiedene Terminstage angeboten. Der Beginn der Hauptverhandlung am 17. Oktober mit Fortsetzung am 21. und 24. Oktober 2005 sei nicht möglich, weil der Verteidiger am 17.10.2005 wegen der Teilnahme an einer Tagung verhindert sei, zudem müsse sonst ein bereits seit längerem terminiertes Verfahren mit fünf Angeklagten verlegt werden. Auch der Beginn am 21. Oktober 2005 sei nicht sinnvoll, da das Verfahren sich länger hinziehen könne und Rechtsanwalt Q vom 28. Oktober bis zum 9. November 2005 in Urlaub sei. Ein Beginn der Hauptverhandlung am 11. November 2005 sei nicht möglich, da Rechtsanwalt Q an diesem Tage einen seit langem bestehenden Termin vor dem Landgericht wahrnehme. Den Beginn des Verfahrens am 14. November 2005 halte er für ziemlich sinnlos, da auf diesem und einem nachfolgenden Tag ein nicht mehr verantwortbar zu verlegendes Verfahren (B-Verfahren) aus 2003 mit sechs Angeklagten und acht Zeugen seit längerem anberaumt sei. Auf den 21. November 2005 sei eine anderweitige Haftsache anberaumt, so dass auch dieser Terminsbeginn unmöglich sei. Der Beginn des Verfahrens am 28. November 2005 sei nicht möglich, da der Verteidiger an diesem Tage erneut durch einen Termin vor dem Landgericht verhindert sei. Ab dem 5. Dezember 2005 könnte theoretisch mit der Hauptverhandlung begonnen werden, es müssten jedoch im Hinblick auf die Fortsetzungstage fünf bereits länger terminierte Verfahren verlegt werden. Das halte er, der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts, für unzumutbar, auch deshalb, weil die tatsächliche Verhandlungsdauer der vorliegenden Sache (voraussichtlich fünf Hauptverhandlungstage) sich nach Beweisankündigung des Verteidigers auch über weitere Tage erstrecken könne. Da aber Weihnachten anstehe und der Unterzeichner zwei Wochen Urlaub benötige, ergäben sich Terminsschwierigkeiten ohne Ende. Da derzeit bis zum 23. Januar 2006 austerminiert sei und von da an "stressfrei" jede Menge Verhandlungstage zur Verfügung stünden, habe er mit dem Verteidiger den Beginn der Hauptverhandlung auf den 30. Januar 2006 mit Fortsetzung am 3., 6., 10. und 13. Februar 2006 vereinbart. Weiter hat der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts ausgeführt, dass diese aufgezeigten Terminsschwierigkeiten deshalb auftreten, weil es sich nicht um ein dem Dezernat ... zugehöriges Verfahren handele, das von dem Dezernenten als Haftsache bereits im Gs-Register als solches erkannt und - da absehbar Anklageerhebung zu erwarten sei - bei der Terminierung der Jugendschöffen-Verfahren auch tatsächlich habe berücksichtigt werden können, sondern um ein Verfahren aus einem anderen Dezernat, das überraschend und unvorbereitet auf ihn zugefallen sei. Mit dem plötzlichen Eingang einer "fremden" Haftsache könne nicht gerechnet werden.
Unter dem 14. November 2005 hat der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts des Amtsgerichts Münster eine Überlastungsanzeige dem Präsidium des Amtsgerichts Münster zugeleitet. Der Direktor des AG Münster hat auf eine Anfrage der Jugendkammer des LG Münster erwidert, dass alle vier Jugendrichter des Amtsgerichts Münster überlastet seien und keine Abhilfe geschaffen werden könne (4 OBL 81/05 OLG Hamm).
Der Angeklagte beantragt die Aufhebung des Haftbefehls, da weder ein dringender Tatverdacht gegeben sei noch ein Haftgrund vorliege. Zudem sei das Verfahren nicht im erforderlichen Maße gefördert worden. Der Verteidiger des Angeklagten weist u.a. zudem darauf hin, dass nach seinem Terminkalender im September 2005 noch 8, im Oktober 15, im November 13 und im Dezember 21 Tage frei waren. Auch der Januar 2006 sei bei ihm bis auf den 10. Januar 2006 noch völlig unbelegt gewesen. Zudem seien am 11. November und am 28. November 2005 jeweils nur die Nachmittage bei ihm bereits mit anderweitigen Terminen belegt gewesen.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus anzuordnen.
II.
Sämtliche im vorliegenden Verfahren ergangenen Untersuchungshaftanordnungen waren aufzuheben, weil die Voraussetzungen, unter denen die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus gemäß § 121 Abs. 1 StPO angeordnet werden kann, nicht vorliegen. Weder die besondere Schwierigkeit noch der besondere Umfang der Ermittlungen noch ein anderer Grund i.S.d. § 121 Abs. 1 StPO rechtfertigen die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft. Zwar ist der Angeklagte der ihm mit den Haftbefehlen zur Last gelegten Taten dringend verdächtig, und es liegt auch zumindest der Haftgrund der Fluchtgefahr vor - insoweit verweist der Senat auf seinen Beschluss über die weitere Haftbeschwerde des Angeklagten -, doch können die an sich gerechtfertigten Haftbefehle keinen Bestand haben, da das Verfahren von dem Jugendschöffengericht nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung gefördert worden ist.
Das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung, dass der verfassungsrechtliche Freiheitsanspruch (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) des noch nicht verurteilten Beschuldigten den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist und sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert (vgl. BVerfGE 20, 45, 49 f; 36, 264, 260; 53, 152, 158 f). Dem trägt die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO lässt also nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu und ist dementsprechend eng auszulegen. Den verfassungsrechtlichen Ansprüchen an die Zügigkeit der Bearbeitung in Haftsachen wird nur dann genügt, wenn die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen (vgl. OLG Hamm, StV 2000, 90, 91; Senatsbeschluss vom 19. Februar 2002 - 4 BL 8/02 -; Beschluss des 5. Strafsenats des OLG Hamm vom 19.12.2002 - 5 BL 126/02 -).
Diesen Erfordernissen wird die Sachbehandlung durch das Amtsgericht Münster im vorliegenden Verfahren in keiner Weise gerecht. Bedenklich ist bereits, dass die Staatsanwaltschaft Münster erst am 10. August 2005 Anklage erhoben hat, nachdem die Ermittlungen der Polizei Ende Juni 2005 abgeschlossen waren und die Akten der Staatsanwaltschaft Münster seit Anfang Juli 2005 vorlagen. Entscheidende Verzögerungen im Verfahrensablauf treten jedoch durch die Sachbehandlung durch das Amtsgericht Münster ein. Denn die Anberaumung der Hauptverhandlung auf den 30. Januar 2006 verstößt gegen das Beschleunigungsgebot. Es kann in diesem Zusammenhang dahinstehen, ob der Verteidiger dem Vorsitzenden des Jugendschöffengerichts in den Telefongesprächen am 23. und 31. August 2005 mitgeteilt hat, dass er an zwei möglichen Verhandlungstagen nur nachmittags verhindert ist. Denn der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts hat nicht beachtet, dass der Beschleunigungsgrundsatz gebietet, dass Strafverfahren, in denen der oder die Beschuldigten sich in Untersuchungshaft befinden, vor den übrigen Strafsachen zu verhandeln sind. Unter Anwendung dieses Grundsatzes wäre der Beginn des Verfahrens am 14. November 2005 oder am 5. Dezember 2005 möglich gewesen, da die an diesen Tagen anstehenden Nicht-Haftsachen hätten umterminiert werden müssen. Die für Anfang bis Mitte Januar 2006 terminierten anderen Nicht-Haftsachen hätten ebenfalls verlegt werden können. Hinzu kommt, dass der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts im April und November 2005 Überlastungsanzeigen an den Direktor des Amtsgerichts Münster übermittelt hat, die zu keiner Abhilfe geführt haben. Es ist seit langem anerkannt, dass die Überlastung der Gerichte infolge Häufung anhängiger Sachen oder unzulänglicher Besetzung des Spruchkörpers, die schon länger andauern und durch Besetzung freier Richterstellen oder durch Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten, insbesondere durch Geschäftsverteilungsmaßnahmen des Präsidiums des Gerichts, notfalls unter Heranziehung von Zivilrichtern, beseitigt werden können (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., § 121 Rdnr. 22 mit zahlreichen Nachweisen) keinen wichtigen Grund i.S.v. § 121 Abs. 1 StPO darstellt.
Da die sich insgesamt ergebende nicht unerhebliche Verzögerung des Verfahrensabschlusses die Folge von Umständen ist, die der Justiz und nicht dem Angeklagten zuzurechnen sind, ist eine Haftverlängerung über sechs Monate hinaus nicht gerechtfertigt. Der Senat ist daher von Gesetzes wegen gehalten, die im vorliegenden Verfahren ergangenen Untersuchungshaftanordnungen aufzuheben.
Ende der Entscheidung
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