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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 21.06.2001
Aktenzeichen: 4 Ss OWi 322/01
Rechtsgebiete: StVO, StPO


Vorschriften:

StVO § 3
StPO § 267
Zu den erforderlichen Feststellungen bei einer Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren und zu den Anforderungen an die Beweiswürdigung
Beschluss Bußgeldsache gegen J.B.

wegen Zuwiderhandlung gegen § 3 Abs. 3 StVO.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Steinfurt vom 1. Dezember 2000 hat der 4. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 21.06.2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Steinfurt zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Steinfurt hat dem Betroffenen wegen "einer fahrlässigen Verkehrsordnungswidrigkeit nach §§ 3 III, 49 StVO in Verbindung mit § 24 StVG eine Geldbuße von 200,00 DM auferlegt" und ihm für die Dauer eines Monats untersagt, Kraftfahrzeuge aller Art im öffentlichen Straßenverkehr zu führen. Es hat angeordnet, dass das Fahrverbot erst wirksam wird, wenn der Führerschein nach Rechtskraft des Urteils in amtliche Verwahrung gelangt, spätestens jedoch mit Ablauf von vier Monaten seit Eintritt der Rechtskraft.

In den Feststellungen des Urteils heißt es:

"Am 07.05.2000 um 8.45 Uhr befuhr der Betroffene mit seinem PKW Saab - amtliches Kennzeichen ST-RA 370 in Ochtrup die B 54 a in Fahrtrichtung Steinfurt. Durch Nachfahren wurde eine Geschwindigkeit des Fahrzeugs des Betroffenen nach Abzug der Toleranz von 144 km/h gemessen. Es ergibt sich mithin eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 44 km/h."

Zur Beweiswürdigung hat das Amtsgericht ausgeführt:

"Dies steht fest aufgrund der Einlassung des Betroffenen sowie der Bekundungen des Zeugen F.. Der Betroffene hat sich dahin eingelassen, er habe sich am Tattag auf dem Heimweg befunden. Er habe es nicht eilig gehabt. Er habe etwa 1,6 km vor dem angegebenen Meßbeginn eine Kolonne von drei Fahrzeugen überholt. Das letzte Fahrzeug dieser Kolonne sei das Polizeifahrzeug gewesen, das ihm später gefolgt sei. Der Zeuge F. bekundete hierzu, er sei am Tattag vom Fahrzeug des Betroffenen überholt worden. Er führe sehr oft Geschwindigkeitsmessungen durch Nachfahren durch. Das Fahrzeug des Betroffenen habe er bereits im Rückspiegel herannahen sehen. Nachdem er vom Betroffenen überholt worden sei, habe er zum Fahrzeug des Betroffenen aufgeschlossen. Danach sei er bei einem Abstand von ca. 75 m dem Fahrzeug des Betroffenen über eine Strecke von ca. 1000 m gefolgt. Die Meßstrecke habe er anhand der Kilometrierung bemessen. Er habe sich allein im Kraftfahrzeug befunden. Es sei hell gewesen. Der Tachometerendwert seines Fahrzeugs, eines Pkw Opel, 2,4 l Omega, 6 Zylinder, liege bei 240 km/h. Das Fahrzeug erreiche eine Endgeschwindigkeit von ca. 230 km/h. Die Geschwindigkeit habe er im Verlauf der Meßstrecke durchgehend mit 170 km/h gemessen. Unter Berücksichtigung der hier erfolgten Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren waren Toleranzabzüge vorzunehmen und zwar ein Abzug von 10 % von dem gemessenen Wert sowie zuzüglich 7 % des Tachoendwertes von 240 km/h. Es ergibt sich danach bei der abgelesenen Geschwindigkeit von 170 km/h eine vorwerfbare Geschwindigkeitsüberschreitung von abgerundet 46 km/h. Die Tatsache, dass grundsätzlich das Polizeifahrzeug auf einer Fahrtstrecke von 1,6 km das Fahrzeug des Betroffenen nicht einzuholen vermochte, ändert daran nichts. Es kommt vorliegend entscheidend auf die Länge der Meßstrecke und die dabei abgelesene Geschwindigkeit an. Dies führt zu der hier festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung."

Gegen das Urteil richtet sich die form- und fristgemäß angebrachte Rechtsbeschwerde des Betroffenen. Er rügt mit näheren Ausführungen die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat (zumindest vorläufigen) Erfolg. Das Urteil lässt hinreichende Feststellungen zu den Umständen der von dem Zeugen F. durchgeführten Geschwindigkeitsmessung vermissen, so dass für den Senat nicht überprüfbar ist, ob das Amtsgericht den Beweiswert des Geschwindigkeitsvergleichs durch Nachfahren hier rechtsfehlerfrei bejaht und möglichen Fehlerquellen durch einen entsprechenden Abzug eines Toleranzwertes genügend Rechnung getragen hat.

Dabei kann in formeller Hinsicht dahinstehen, ob der Beweisantrag des Betroffenen auf "Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis dafür, dass der Zeuge F. als Fahrer des PKW Opel Omega unmöglich auf einer Strecke von 1,5 km das vorausfahrende Fahrzeug, das zuvor den PKW Opel Omega überholt hatte, aus einer gefahrenen Geschwindigkeit von 80 oder 100 km/h mit bis zu einem Abstand von 75 Metern einzuholen vermochte und zwar unterstellt die Tatsache, dass das Polizeifahrzeug 1,6 km vor der Beginn der Messung bei 7,6 km überholt wurde" mit der Wahrunterstellung "dass ein Einholen des Fahrzeugs des Betroffenen auf einer Fahrstrecke von 1,6 km nicht möglich war" rechtsfehlerfrei beschieden werden durfte, weil nach § 244 Abs. 3 S. 2 StPO nur eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.

Es kann auch dahinstehen, ob der Beweisantrag mit anderer Begründung (etwa gemäß § 244 Abs. 3 S. 2 StPO) hätte abgelehnt werden können, weil die Einholung eines Sachverständigengutachtens mangels festzustellender Anknüpfungstatsachen für die Entscheidung völlig ungeeignet gewesen sein könnte. Angesichts des Umstandes, dass es das Amtsgericht tatsächlich als wahr unterstellt hat, dass "ein Einholen des Fahrzeugs des Betroffenen auf einer Fahrstrecke von 1,6 km nicht möglich war" nach dem Beweisantrag gemeint war mit dem Begriff "Einholen" die Herstellung eines Abstandes von 75 Metern und dass damit die Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen F. und die Zuverlässigkeit der Geschwindigkeitsmessung in Frage gestellt war, hätte sich das Amtsgericht jedenfalls näher mit den Umständen der durchgeführten Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren auseinandersetzen müssen. Insbesondere musste sich das Amtsgericht mit der Frage befassen, aus welchen Gründen der Zeuge F. gleichwohl noch zu einer beweiskräftigen Geschwindigkeitsmessung gelangen konnte. Insoweit sind in der Beweiswürdigung des Urteils Lücken zu erkennen, die aufgrund der in zulässiger Weise erhobenen Sachrüge bereits zur Aufhebung des Urteils führen müssen.

Bei der Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren handelt es sich nicht um ein standardisiertes Messverfahren mit in gleicher Weise herabgesetzten Anforderungen an das Erfordernis der Darlegung in den Feststellungen zur Frage der ordnungsgemäßen Messung wie im Falle einer automatisierten Messung etwa durch eine Radaranlage. Der Tatrichter muss daher mit seinen Feststellungen erkennen lassen, dass er sich der Gefahr der Ungenauigkeit der Messung durch Nachfahren ohne Verwendung weiterer Aufzeichnungsgeräte, die die Geschwindigkeitsermittlung erleichtern und rekonstruierbar machen, bewusst war und sich im konkreten Einzelfall von der Zuverlässigkeit der Messung überzeugt hat. Dazu ist es erforderlich, dass die wesentlichen Umstände der Geschwindigkeitsermittlung wie die Länge der Messstrecke, die Abstandsverhältnisse auf dieser (Größe des Abstands, gleichbleibend, vergrößernd oder verringernd), die im nachfahrenden Kraftfahrzeug abgelesenen Geschwindigkeit und die Frage der Justierung des betreffenden Tachometers im Urteil festgestellt und ggf. erörtert werden. Insoweit fehlen hier auch Feststellungen zur Frage, ob der Tachometer des Fahrzeugs, in dem sich der Zeuge F. befand, zum Zeitpunkt der Messung (noch) justiert war. Zweifel ergeben sich insoweit aus den im Urteil mitgeteilten Toleranzabzügen von "10 % von dem gemessenen Wert sowie zuzüglich 7 % des Tachoendwertes von 240 km/h" (vgl. Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl., § 3 Rdnr. 62 m.w.N.). Nach den im Urteil mitgeteilten Toleranzwerten ergäbe sich ein Abzug von 33,8 km/h, so dass von einer vorwerfbaren Geschwindigkeitsüberschreitung von "nur" 36,2 km/h auszugehen wäre. Im Falle einer gültigen Justierung des Tachometers und hinreichenden Nachfahrbedingungen würde allerdings ein Abzug von 15 % von der gemessenen Geschwindigkeit ausreichend sein, so dass insoweit im Ergebnis eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 44 km/h vorliegen könnte.

Angesichts der Unterstellung, dass ein "Einholen" des Fahrzeugs des Betroffenen auf einer Fahrstrecke von 1,6 km/h nicht möglich war, hätte das Amtsgericht näher darlegen müssen, aufgrund welcher Umstände es gleichwohl davon ausgegangen ist, dass der Zeuge F. die Messung beweiskräftig durchgeführt hat. Es ist weder die Ausgangsgeschwindigkeit des Polizeifahrzeugs während des Überholvorgangs durch den Betroffenen - die von dem Betroffenen unterstellte Geschwindigkeit von "80 bis 100 km/h" entbehrt insoweit jeder Grundlage - noch die Überholgeschwindigkeit des Fahrzeugs des Betroffenen (der Betroffene will möglicherweise nicht behaupten, er habe das Polizeifahrzeug schon mit einer Geschwindigkeit von 170 km/h überholt) mitgeteilt. Auch ist nicht nachvollziehbar, aufgrund welcher Umstände das Amtsgericht auf dem Boden seiner Wahrunterstellung zu der Feststellung gekommen ist, der Zeuge F. habe gleichwohl einen Abstand von ca. 75 Metern zu dem Fahrzeug des Betroffenen herstellen können und einen gleichbleibenden Abstand von ca. 75 Meter auf einer Messstrecke von ca. 1.000 Meter eingehalten.

Für die neue Verhandlung wird darauf hingewiesen, dass die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze für das Einhalten der Abstände und die durchfahrenen Messstrecken nur Richtwerte darstellen, die bei besonderer Lage des Einzelfalles Abweichungen gestatten. Der Zweck solcher Richtwerte besteht allein darin, sicherzustellen, dass sich Schätzungsfehler nicht zu Lasten des Betroffenen auswirken. Das kann jeweils durch größere oder geringere Sicherheitsabzüge erreicht werden (vgl. im Einzelnen hierzu Jagusch, a.a.O., § 3 StVO Rdnr. 62 m.w.N.).

Ende der Entscheidung

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