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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 20.06.2006
Aktenzeichen: 4 Ws 144/06
Rechtsgebiete: VV RVG


Vorschriften:

VV RVG Nr. 4141
Die Gebühr nach Nr. 4141 Ziff. 3 VV RVG kann im Fall der Rücknahme der Revision nur dann entstehen, wenn nach Begründung der Revision konkrete Anhaltspunkte für die Anberaumung einer Revisionshauptverhandlung bestehen.
Beschluss

Strafsache

gegen S.N.

wegen schweren Raubes,

hier: Festsetzung der Pflichtverteidigervergütung.

Auf die sofortige Beschwerde des Bezirksrevisors bei dem Landgericht Münster gegen den Beschluß des Einzelrichters der 3. Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Münster vom 10. März 2006 hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 20. 06. 2006 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Amtsgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

1. Die Rechtssache wird wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen (§§ 56, 33 Abs. 8 S. 2 RVG). Insoweit handelt es sich um eine Entscheidung des mitunterzeichnenden Einzelrichters.

2. Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben, soweit die dem Pflichtverteidiger X.X. für seine Tätigkeit als Pflichtverteidiger aus der Staatskasse zu zahlende Vergütung auf mehr als 2.613,60 Euro festgesetzt worden ist.

3. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe:

I.

Dem Angeklagten B. ist am 9. Dezember 2004 zunächst Rechtsanwältin A. als Pflichtverteidigerin beigeordnet worden. Mit Schriftsatz vom 4. Februar 2005 hat sich Rechtsanwalt X. zunächst als Wahlverteidiger für den Angeklagten gemeldet. Auf Nachfrage des Vorsitzenden der 3. Strafkammer des Landgerichts Münster vom 10. Februar 2005 hat er erklärt, er werde voraussichtlich Wahlverteidiger bleiben, für den Fall einer auswechselnden Beiordnung versichere er, dass dadurch keine Mehrkosten entstünden (Bl. 286 d.A.). Diese Zusage hat er durch Schriftsatz vom 17. März 2005 (Bl. 341 d.A. i.V.m. 275 d.A.) und 7. September 2005 (Bl. 646 d.A.) erneut bestätigt.

Nach Entpflichtung von Rechtsanwältin A. hat diese die Festsetzung der Gebühren und Auslagen für die Pflichtverteidigung in Höhe von 699,65 Euro beantragt, u.a. die Grundgebühr gemäß Nr. 4101, 4100 VV RVG in Höhe von 162,00 Euro netto für das Verfahren 63 Js 2590/04 StA Münster (vgl. Bl. 567 f. d.A.), die antragsgemäß festgesetzt worden sind (Bl. 569 d.A.).

In der Hauptverhandlung vom 11. Mai 2005 hat Rechtsanwalt X. für den Angeklagten B. die Verhängung einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren vier Monaten beantragt, der im wesentlichen geständige Angeklagte hat im letzten Wort erklärt, ihm tue die Sache leid.

Der Angeklagte B. ist am 23. Mai 2005 unter Einbeziehung einer Vorverurteilung wegen räuberischen Diebstahls und versuchten Diebstahls (Einheitsjugendstrafe von einem Jahr zehn Monaten) wegen schweren Raubes zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren verurteilt worden.

Gegen dieses Urteil hat Rechtsanwalt X. "zunächst fristwahrend" Revision eingelegt, die er zugleich mit der allgemeinen Sachrüge begründet hat. Nachdem ihm am 4. Juli 2005 das vollständig abgefaßte Urteil zugestellt worden ist, hat er mit Schriftsatz vom 5. Juli 2005 die Revision "nach Studium der vertretbaren Urteilserwägungen" wirksam zurückgenommen.

Mit Schriftsatz vom 6. September 2005 hat Rechtsanwalt X. die Festsetzung seiner Gebühren und Auslagen in Höhe von insgesamt 3.429,66 Euro beantragt.

Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hat durch Beschluß vom 3. November 2005 die zu erstattenden Gebühren und Auslagen zunächst auf insgesamt 2.345,64 Euro festgesetzt. Auf die als Erinnerung auszulegende Beschwerde des Pflichtverteidigers, mit der er sich ausschließlich gegen die Absetzung der Gebühren Nr. 4131/4130 und Nr. 4141 VV RVG wendet , und die Erinnerung des Bezirksrevisors bei dem Landgericht Münster gegen den Ansatz der beiden geltend gemachten Gebühren Nr. 4105 VV RVG sind - unter Nichtabhilfe der Erinnerung des Pflichtverteidigers - die zu erstattenden Gebühren und Auslagen anderweitig - wie folgt - auf 2.027,80 Euro festgesetzt worden:

 Grundgebühr Nr. 4101/4100 VV RVG für das Verfahren 3 KLs 2/05162,00 Euro
Grundgebühr Nr. 4101/4100 VV RVG für das verbundene Verfahren 3 KLs 7/05162,00 Euro
Verfahrensgebühr erster Rechtszug Strafkammer/Jugendkammer Nr. 4113/4112 VV RVG Verfahren 3 KLs 2/05151,00 Euro
Verfahrensgebühr erster Rechtszug Strafkammer/Jugendkammer Nr. 4113/4112 VV RVG Verfahren 3 KLs 7/05151,00 Euro
Terminsgebühr Hauptverhandlung am 27.04.2005 Nr. 4115/4114 VV RVG263,00 Euro
Zusatzgebühr nach Nr. 4116 VV RVG, Terminsdauer 9.00 - 14.15 Uhr108,00 Euro
Terminsgebühr Hauptverhandlung am 11.05.2005 Nr. 4115/4114 VV RVG263,00 Euro
Terminsgebühr Hauptverhandlung am 23.05.2005 Nr. 4115/4114 VV RVG263,00 Euro
Geschäftsreise (2 x 88 km x 0,30 Euro) - eigener Pkw52,80 Euro
Tage- und Abwesenheitsgeld von nicht mehr als 4 Stunden Nr. 7005 VV RVG20,00 Euro
Tage- und Abwesenheitsgeld von nicht mehr als 4 Stunden Nr. 7005 VV RVG am 22.03.200520,00 Euro
Übertrag1.615,80 Euro
Übertrag1.615,80 Euro
Post- und Telekommunikationspauschale, Nr. 7002 VV RVG20,00 Euro
Fotokopierkosten Nr. 7000112,30 Euro
gesamt1.748,10 Euro
16% MWSt.279,70 Euro
Vergütung2.027,80 Euro

Die 3. Strafkammer des Landgerichts Münster hat am 10. März 2005 durch ihren Einzelrichter die aus der Staatskasse zu ersetzende Vergütung des Rechtsanwalts X. für seine Tätigkeit als Pflichtverteidiger auf insgesamt 3.091,52 Euro festgesetzt. Sie hat dabei dem Pflichtverteidiger sowohl die Gebühr nach Nr. 4131 VV RVG mit Zuschlag (505,00 Euro netto) als auch Nr. 4141 VV RVG (412,00 Euro netto), somit brutto weitere 1.063,72 Euro zuerkannt.

Dieser Beschluß ist dem Bezirksrevisor bei dem Landgericht Münster am 16. März 2006 zugestellt worden. Dieser hat gegen den Beschluß mit Schriftsatz vom 16. März 2006, der spätestens am 17. März 2006 bei dem Landgericht eingegangen ist (Tag der Weiterleitung an den Senat) sofortige Beschwerde eingelegt. Das Rechtsmittel hat sich zunächst gegen den Ansatz beider nachträglich bewilligter Gebühren gerichtet. Durch Schriftsatz des Leiters des Dezernats 10 der hiesigen Verwaltungsabteilung ist die Beschwerde in Absprache mit dem Bezirksrevisor bei dem Landgericht Münster zurückgenommen worden, soweit sie sich ursprünglich auch gegen den Ansatz der Gebühr Nr. 4131/4130 gerichtet hat. Damit steht nur noch der Ansatz der Gebühr Nr. 4141 VV RVG für die Rücknahme der Revision im Streit.

II.

Die gemäß §§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 3 bis 8 RVG zulässige Beschwerde des Bezirksrevisors bei dem Landgericht Münster hat - wie von dem Leiter des Dezernats 10 der hiesigen Verwaltungsabteilung beantragt - Erfolg.

1. Der Senat hatte nicht darüber zu entscheiden, ob dem Verteidiger nach seinem ausdrücklich erklärten Verzicht auf durch den Pflichtverteidigerwechsel verursachte Mehrkosten die Grundgebühr gemäß Nr. 4100, 4101 VV RVG im Verfahren 63 Js 2590/04 in Höhe von 162,00 Euro netto zustand oder nicht, obwohl diese Gebühr zugunsten der Pflichtverteidigerin A. festgesetzt worden ist.

2. Die Gebühr Nr. 4141 VV RVG für die Rücknahme der Revision steht dem Pflichtverteidiger vorliegend nicht zu.

Ob und unter welchen Voraussetzungen diese Gebühr entsteht, ist in Rechtsprechung und Kommentarliteratur, soweit diese überhaupt explizit dazu Stellung bezieht, umstritten.

Zum Teil wird vertreten, die Gebühr entstehe unabhängig davon, ob die Revision vor der Rücknahme begründet worden sei, und auch unabhängig davon, ob eine (Revisions-)Hauptverhandlung durch die Rücknahme vermieden werde (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluß vom 12. September 2005 - III - 1 Ws 288/05 -, zitiert nach www.burhoff.de; OLG Hamm, Einzelrichterentscheidung des 4. Strafsenats vom 24. Januar 2006 - 4 Ws 554/05 -; LG Hagen, Beschluß vom 23. Februar 2006 - 51 KLs 400 Js 815/04 (21/05) -, zitiert nach www.burhoff.de -; Burhoff (Hrg.), RVG - Straf- und Bußgeldsachen, Nr. 4141 VV Rdnr. 37).

Nach anderer Ansicht ist jedenfalls dann, wenn die Revision im Zeitpunkt der Revisionsrücknahme noch nicht begründet worden ist, für die Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG kein Raum, weil in einem solchen Fall selbst die theoretische Möglichkeit einer Revisionshauptverhandlung nicht bestehe (vgl. KG, Beschluß vom 4. April 2006 - 4 Ws 28/06 -, zitiert nach www.burhoff.de; KG, Beschluß vom 28. Juni 2005 - 5 Ws 311/05 -, NStZ 2006, 239 f. = RV-Report 2005, 352; ; OLG Braunschweig, Beschluß vom 16. März 2006 - Ws 25/06 -, zitiert nach www.burhoff.de; OLG Bamberg, Beschluß vom 22. März 2006 - 1 Ws 142/06 -, zitiert nach www.burhoff.de - die beiden letzten Entscheidungen die Frage der Vermeidung einer Revisionshauptverhandlung offen lassend -).

Schließlich wird vertreten, dass die Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG nur dann entstehe, wenn nach Begründung der Revision konkrete Anhaltspunkte für die Anberaumung einer Revisionshauptverhandlung bestünden (vgl. KG, Beschluß vom 4. Mai 2006 - 4 Ws 57/06 -, zitiert nach www.burhoff.de; OLG Zweibrücken, Beschluß vom 17. Mai 2005 - 1 Ws 164/05 - zitiert nach www.burhoff.de; OLG Hamm, Beschluß vom 28. März 2006 - 1 Ws 203/06 -).

Im Ergebnis folgt der Senat der letztgenannten Auffassung.

Nach Nr. 4141 VV RVG ist der Gebührentatbestand wie folgt beschrieben:

"Durch die anwaltliche Mitwirkung wird eine Hauptverhandlung entbehrlich:

Zusätzliche Gebühr in Höhe der jeweiligen Verfahrensgebühr"

In der amtlichen Anmerkung ist dazu weiter ausgeführt:

"I. Die Gebühr entsteht, wenn

1. ...

2. ...

3. sich das gerichtliche Verfahren durch Rücknahme ... der Revision des Angeklagten ... erledigt; ist bereits ein Termin zur Hauptverhandlung bestimmt, entsteht die Gebühr nur, wenn ... die Revision früher als zwei Wochen vor Beginn des Tages, der für die Hauptverhandlung vorgesehen war, zurückgenommen wird."

Sowohl der Wortlaut des Tatbestandes der Gebührenbeschreibung als auch der amtlichen Anmerkung in Abs. 1 Nr. 3 dazu sprechen dafür, dass durch die Rücknahme der Revision eine sonst jedenfalls nahe liegende Revisionshauptverhandlung vermieden werden muss, was in der Praxis allerdings eher einen Ausnahmefall darstellen dürfte. Durch die Neuregelung ist der Grundgedanke zu § 84 Abs. 2 BRAGO übernommen worden, intensive und zeitaufwändige Tätigkeiten des Verteidigers außerhalb der Hauptverhandlung gebührenrechtlich zu honorieren, wenn sie zu einer Vermeidung der Hauptverhandlung und damit zum Verlust der Hauptverhandlungsgebühr führen (vgl. BT-Ds. 15/1971 S. 219 - 230 - zu Nummer 4141 -; OLG Zweibrücken, a.a.O.). Demgemäß ist aber die vom Gesetzgeber gewollte Honorierung dort nicht angezeigt, wo der Anfall der Hauptverhandlungsgebühr (Nr. 4132 VV RVG) nicht zu erwarten steht. Würde man mit dem OLG Düsseldorf gleichwohl die Gebühr zuerkennen, stünde sich der Pflichtverteidiger, der die eingelegte (und ggfls. begründete) Revision zurücknimmt, gebührenrechtlich besser, als der, der sie durchführt. Während im letzten Fall regelmäßig für das Revisionsverfahren (ohne Hauptverhandlung) nur die Gebühr nach Nr. 4130/4131 VV RVG in Höhe von 412,00 Euro bzw. 505,00 Euro anfällt, erhielte der Pflichtverteidiger im ersten Fall daneben zusätzlich die Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG. Das ist nicht nur unbillig, sondern auch mit dem Anliegen des Gesetzgebers nicht zu vereinbaren. Abgesehen davon bürge eine solche Handhabung die große Gefahr der Einlegung mit anschließender Rücknahme von Revisionen allein aus gebührenrechtlichen Gründen, was im Ergebnis zu einer kaum noch zu bewältigenden Mehrbelastung der Landgerichte durch die Notwendigkeit vollständig abgefasster Urteile führen kann.

Die vom Senat vertretene Ansicht erscheint auch nicht unbillig. Die im Anschluss an die (gebührenrechtlich neutrale) Einlegung der Revision vorzunehmende prüfende und beratende Tätigkeit des Rechtsanwalts wird durch die Gebühr Nr. 4130/4131 VV RVG abgedeckt. Diese umfasst die Prüfung und Beratung, ob und mit welchem Inhalt die Revision durchgeführt werden soll. Ergebnis dieser Beratung kann sein, die Revision weitergehend zu begründen oder aber auch sie mangels Erfolgsaussicht zurückzunehmen.

Speziell im vorliegenden Fall wird deutlich, dass diese prüfende und beratende Tätigkeit erst nach Zustellung des Urteils und durch Empfehlung der Revisionsrücknahme durchgeführt worden sein kann, da die nur vorsorglich eingelegte Revision ersichtlich auch nur vorsorglich mit der nicht näher ausgeführten Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet worden ist. Die Frage der Durchführung der Revision sollte ersichtlich erst noch geprüft werden.

Der 3. Senat des OLG Hamm neigt dazu, sich dieser Rechtsauffassung anzuschließen. Der hiesige 2. Senat hat die vorliegende Rechtsfrage noch nicht entschieden.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 56 Abs. 2 S. 2 und 3 RVG.

Ende der Entscheidung

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